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Sansara

Lange Zeit hatte Siddhartha das Leben der Welt und der Lüste gelebt, ohne ihm doch anzugehören. Seine Sinne, die er in heißen Samana-Jahren ertötet hatte, waren wieder erwacht, er hatte Reichtum gekostet, hatte Wollust gekostet, hatte Macht gekostet; dennoch war er lange Zeit im Herzen noch ein Samana geblieben, dies hatte Kamala, die Kluge, richtig erkannt. Immer noch war es die Kunst des Denkens, des Wartens, des Fastens, von welcher sein Leben gelenkt wurde, immer noch waren die Menschen der Welt, die Kindermenschen, ihm fremd geblieben, wie er ihnen fremd war.

Die Jahre liefen dahin, in Wohlergehen eingehüllt fühlte Siddhartha ihr Schwinden kaum. Er war reich geworden, er besaß längst ein eigenes Haus und eigene Dienerschaft, und einen Garten vor der Stadt am Flusse. Die Menschen hatten ihn gerne, sie kamen zu ihm, wenn sie Geld oder Rat brauchten, niemand aber stand ihm nahe, außer Kamala.

Jenes hohe, helle Wachsein, welches er einst, auf der Höhe seiner Jugend, erlebt hatte, in den Tagen nach Gotamas Predigt, nach der Trennung von Govinda, jene gespannte Erwartung, jenes stolze Alleinstehen ohne Lehren und ohne Lehrer, jene geschmeidige Bereitschaft, die göttliche Stimme im eigenen Herzen zu hören, war allmählich Erinnerung geworden, war vergänglich gewesen; fern und leise rauschte die heilige Quelle, die einst nahe gewesen war, die einst in ihm selber gerauscht hatte. Vieles zwar, das er von den Samanas gelernt, das er von Gotama gelernt, das er von seinem Vater, dem Brahmanen, gelernt hatte, war noch lange Zeit in ihm geblieben: mäßiges Leben, Freude am Denken, Stunden der Versenkung, heimliches Wissen vom Selbst, vom ewigen Ich, das nicht Körper noch Bewusstsein ist. Manches davon war in ihm geblieben, eines ums andre aber war untergesunken und hatte sich mit Staub bedeckt. Wie die Scheibe des Töpfers, einmal angetrieben, sich noch lange dreht und nur langsam ermüdet und ausschwingt, so hatte in Siddharthas Seele das Rad der Askese, das Rad des Denkens, das Rad der Unterscheidung lange weiter geschwungen, schwang immer noch, aber es schwang langsam und zögernd und war dem Stillstand nahe. Langsam, wie Feuchtigkeit in den absterbenden Baumstrunk dringt, ihn langsam füllt und faulen macht, war Welt und Trägheit in Siddharthas Seele gedrungen, langsam füllte sie seine Seele, machte sie schwer, machte sie müde, schläferte sie ein. Dafür waren seine Sinne lebendig geworden, viel hatten sie gelernt, viel erfahren.

Siddhartha hatte gelernt, Handel zu treiben, Macht über Menschen auszuüben, sich mit dem Weibe zu vergnügen, er hatte gelernt, schöne Kleider zu tragen, Dienern zu befehlen, sich in wohlriechenden Wassern zu baden. Er hatte gelernt, zart und sorgfältig bereitete Speisen zu essen, auch den Fisch, auch Fleisch und Vogel, Gewürze und Süßigkeiten, und den Wein zu trinken, der träge und vergessen macht. Er hatte gelernt, mit Würfeln und auf dem Schachbrette zu spielen, Tänzerinnen zuzusehen, sich in der Sänfte tragen zu lassen, auf einem weichen Bett zu schlafen. Aber immer noch hatte er sich von den andern verschieden und ihnen überlegen gefühlt, immer hatte er ihnen mit ein wenig Spott zugesehen, mit ein wenig spöttischer Verachtung, mit eben jener Verachtung, wie sie ein Samana stets für Weltleute fühlt. Wenn Kamaswami kränklich war, wenn er ärgerlich war, wenn er sich beleidigt fühlte, wenn er von seinen Kaufmannssorgen geplagt wurde, immer hatte Siddhartha es mit Spott angesehen. Langsam und unmerklich nur, mit den dahingehenden Erntezeiten und Regenzeiten, war sein Spott müder geworden, war seine Überlegenheit stiller geworden. Langsam nur, zwischen seinen wachsenden Reichtümern, hatte Siddhartha selbst etwas von der Art der Kindermenschen angenommen, etwas von ihrer Kindlichkeit und von ihrer Ängstlichkeit. Und doch beneidete er sie, beneidete sie desto mehr, je ähnlicher er ihnen wurde. Er beneidete sie um das Eine, was ihm fehlte und was sie hatten, um die Wichtigkeit, welche sie ihrem Leben beizulegen vermochten, um die Leidenschaftlichkeit ihrer Freuden und Ängste, um das bange, aber süße Glück ihrer ewigen Verliebtheit. In sich selbst, in Frauen, in ihre Kinder, in Ehre oder Geld, in Pläne oder Hoffnungen verliebt waren diese Menschen immerzu. Er aber lernte dies nicht von ihnen, gerade dies nicht, diese Kinderfreude und Kindertorheit; er lernte von ihnen gerade das Unangenehme, was er selbst verachtete. Es geschah immer öfter, dass er am Morgen nach einem geselligen Abend lange liegen blieb und sich dumpf und müde fühlte. Es geschah, dass er ärgerlich und ungeduldig wurde, wenn Kamaswami ihn mit seinen Sorgen lang weilte. Es geschah, dass er allzu laut lachte, wenn er im Würfelspiel verlor. Sein Gesicht war noch immer klüger und geistiger als andre, aber es lachte selten, und nahm einen um den andern jene Züge an, die man im Gesicht reicher Leute so häufig findet, jene Züge der Unzufriedenheit, der Kränklichkeit, des Missmutes, der Trägheit, der Lieblosigkeit. Langsam ergriff ihn die Seelenkrankheit der Reichen.

Wie ein Schleier, wie ein dünner Nebel senkte sich Müdigkeit über Siddhartha, langsam, jeden Tag ein wenig dichter, jeden Monat ein wenig trüber, jedes Jahr ein wenig schwerer. Wie ein neues Kleid mit der Zeit alt wird, mit der Zeit seine schöne Farbe verliert, Flecken bekommt, Falten bekommt, an den Säumen abgestoßen wird und hier und dort blöde, fädige Stellen zu zeigen beginnt, so war Siddharthas neues Leben, das er nach seiner Trennung von Govinda begonnen hatte, alt geworden, so verlor es mit den hinrinnenden Jahren Farbe und Glanz, so sammelten sich Falten und Flecken auf ihm, und im Grunde verborgen, hier und dort schon häßlich hervorblickend, wartete Enttäuschung und Ekel. Siddhartha merkte es nicht. Er merkte nur, das jene helle und sichere Stimme seines Innern, die einst in ihm erwacht war und ihn in seinen glänzenden Zeiten je und je geleitet hatte, schweigsam geworden war.

Die Welt hatte ihn eingefangen, die Lust, die Begehrlichkeit, die Trägheit, und zuletzt auch noch jenes Laster, das er als das törichteste stets am meisten verachtet und gehöhnt hatte: die Habgier. Auch das Eigentum, der Besitz und Reichtum hatte ihn schließlich eingefangen, war ihm kein Spiel und Tand mehr, war Kette und Last geworden. Auf einem seltsamen und listigen Wege war Siddhartha in diese letzte und schnödeste Abhängigkeit geraten, durch das Würfelspiel. Seit der Zeit nämlich, da er im Herzen aufgehört hatte, ein Samana zu sein, begann Siddhartha das Spiel um Geld und Kostbarkeiten, das er sonst lächelnd und lässig als eine Sitte der Kindermenschen mitgemacht hatte, mit einer zunehmenden Wut und Leidenschaft zu treiben. Er war ein gefürchteter Spieler, wenige wagten es mit ihm, so hoch und frech waren seine Einsätze. Er trieb das Spiel aus der Not seines Herzens, das Verspielen und Verschleudern des elenden Geldes schuf ihm eine zornige Freude, auf keine andre Weise konnte er seine Verachtung des Reichtums, des Götzen der Kaufleute, deutlicher und höhnischer zeigen. So spielte er hoch und schonungslos, sich selbst hassend, sich selbst verhöhnend, strich Tausende ein, warf Tausende weg, verspielte Geld, verspielte Schmuck, verspielte ein Landhaus, gewann wieder, verspielte wieder. Jene Angst, jene furchtbare und beklemmende Angst, welche er während des Würfelns, während des Bangens um hohe Einsätze empfand, jene Angst liebte er und suchte sie immer zu erneuern, immer zu steigern, immer höher zu kitzeln, denn in diesem Gefühl allein noch fühlte er etwas wie Glück, etwas wie Rausch, etwas wie erhöhtes Leben inmitten seines gesättigten, lauen, faden Lebens. Und nach jedem großen Verluste sann er auf neuen Reichtum, ging eifriger dem Handel nach, zwang strenger seine Schuldner zum Zahlen, denn er wollte weiter spielen, er wollte weiter vergeuden, weiter dem Reichtum seine Verachtung zeigen. Siddhartha verlor die Gelassenheit bei Verlusten, er verlor die Geduld gegen säumige Zahler, verlor die Gutmütigkeit gegen Bettler, verlor die Lust am Verschenken und Wegleihen des Geldes an Bittende. Er, der zehntausend auf einen Wurf verspielte und dazu lachte, wurde im Handel strenger und kleinlicher, träumte nachts zuweilen von Geld! Und so oft er aus dieser häßlichen Bezauberung erwachte, so oft er sein Gesicht im Spiegel an der Schlafzimmerwand gealtert und häßlicher geworden sah, so oft Scham und Ekel ihn überfiel, floh er weiter, floh in neues Glücksspiel, floh in Betäubungen der Wollust, des Weines, und von da zurück in den Trieb des Häufens und Erwerbens. In diesem sinnlosen Kreislauf lief er sich müde, lief er sich alt, lief sich krank.

Da mahnte ihn einst ein Traum. Er war die Abendstunden bei Kamala gewesen, in ihrem schönen Lustgarten. Sie waren unter den Bäumen gesessen, im Gespräch, und Kamala hatte nachdenkliche Worte gesagt, Worte, hinter welchen sich eine Trauer und Müdigkeit verbarg. Von Gotama hatte sie ihn gebeten zu erzählen, und konnte nicht genug von ihm hören, wie rein sein Auge, wie still und schön sein Mund, wie gütig sein Lächeln, wie friedevoll sein Gang gewesen. Lange hatte er ihr vom erhabenen Buddha erzählen müssen, und Kamala hatte geseufzt, und hatte gesagt: Einst, vielleicht bald, werde auch ich diesem Buddha folgen. Ich werde ihm meinen Lustgarten schenken, und werde meine Zuflucht zu seiner Lehre nehmen.« Darauf aber hatte sie ihn gereizt, und ihn im Liebesspiel mit schmerzlicher Inbrunst an sich gefesselt, unter Bissen und unter Tränen, als wolle sie noch einmal aus dieser eiteln, vergänglichen Lust den letzten süßen Tropfen pressen. Nie war es Siddhartha so seltsam klar geworden, wie nahe die Wollust dem Tode verwandt ist. Dann war er an ihrer Seite gelegen, und Kamalas Antlitz war ihm nahe gewesen, und unter ihren Augen und neben ihren Mundwinkeln hatte er, deutlich wie noch niemals, eine bange Schrift gelesen, eine Schrift von feinen Linien, von leisen Furchen, eine Schrift, die an den Herbst und an das Alter erinnerte, wie denn auch Siddhartha selbst, der erst in den Vierzigern stand, schon hier und dort ergraute Haare zwischen seinen schwarzen bemerkt hatte. Müdigkeit stand auf Kamalas schönem Gesicht geschrieben, Müdigkeit vom Gehen eines langen Weges, der kein frohes Ziel hat, Müdigkeit und beginnende Welke, und verheimlichte, noch nicht gesagte, vielleicht noch nicht einmal gewusste Bangigkeit: Furcht vor dem Alter, Furcht vor dem Herbste, Furcht vor dem Sterbenmüssen. Seufzend hatte er von ihr Abschied genommen, die Seele voll Unlust, und voll verheimlichter Bangigkeit.

Dann hatte Siddhartha die Nacht in seinem Hause mit Tänzerinnen beim Weine zugebracht, hatte gegen seine Standesgenossen den überlegenen gespielt, welcher er nicht mehr war, hatte viel Wein getrunken und spät nach Mitternacht sein Lager aufgesucht, müde und dennoch erregt, dem Weinen und der Verzweiflung nahe, und hatte lang vergeblich den Schlaf gesucht, das Herz voll eines Elendes, das er nicht mehr ertragen zu können meinte, voll eines Ekels, von dem er sich durchdrungen fühlte wie vom lauen, widerlichen Geschmack des Weines, der allzu süßen, öden Musik, dem allzu weichen Lächeln der Tänzerinnen, dem allzu süßen Duft ihrer Haare und Brüste. Mehr aber als vor allem anderen ekelte ihm vor sich selbst, vor seinen duftenden Haaren, vor dem Weingeruch seines Mundes, vor der schlaffen Müdigkeit und Unlust seiner Haut. Wie wenn einer, der allzuviel gegessen oder getrunken hat, es unter Qualen wieder erbricht und doch der Erleichterung froh ist, so wünschte sich der Schlaflose, in einem ungeheuren Schwall von Ekel sich dieser Genüsse, dieser Gewohnheiten, dieses ganzen sinnlosen Lebens und seiner selbst zu entledigen. Erst beim Schein des Morgens und dem Erwachen der ersten Geschäftigkeit auf der Straße vor seinem Stadthause war er eingeschlummert, hatte für wenige Augenblicke eine halbe Betäubung, eine Ahnung von Schlaf gefunden. In diesen Augenblicken hatte er einen Traum:

Kamala besaß in einem goldenen Käfig einen kleinen seltenen Singvogel. Von diesem Vogel träumte er. Er träumte: dieser Vogel war stumm geworden, der sonst stets in der Morgenstunde sang, und da dies ihm auffiel, trat er vor den Käfig und blickte hinein, da war der kleine Vogel tot und lag steif am Boden. Er nahm ihn heraus, wog ihn einen Augenblick in der Hand und warf ihn dann weg, auf die Gasse hinaus, und im gleichen Augenblick erschrak er furchtbar, und das Herz tat ihm weh, so, als habe er mit diesem toten Vogel allen Wert und alles Gute von sich geworfen.

Aus diesem Traum auffahrend, fühlte er sich von tiefer Traurigkeit umfangen. Wertlos, so schien ihm, wertlos und sinnlos hatte er sein Leben dahingeführt; nichts Lebendiges, nichts irgendwie Köstliches oder Behaltenswertes war ihm in Händen geblieben. Allein stand er und leer, wie ein Schiffbrüchiger am Ufer.

Finster begab sich Siddhartha in einen Lustgarten, der ihm gehörte, verschloss die Pforte, setzte sich unter einem Mangobaum nieder, fühlte den Tod im Herzen und das Grauen in der Brust, saß und spürte, wie es in ihm starb, in ihm welkte, in ihm zu Ende ging. Allmählich sammelte er seine Gedanken, und ging im Geiste nochmals den ganzen Weg seines Lebens, von den ersten Tagen an, auf welche er sich besinnen konnte. Wann denn hatte er ein Glück erlebt, eine wahre Wonne gefühlt? O ja, mehrere Male hatte er solches erlebt. In den Knabenjahren hatte er es gekostet, wenn er von den Brahmanen Lob errungen hatte er es in seinem Herzen gefühlt: »Ein Weg liegt vor dem Hersagen der heiligen Verse, im Disput mit den Gelehrten, als Gehilfe beim Opfer ausgezeichnet hatte. Da hatte er es in seinem Herzen gefühlt: »Ein Weg liegt vor dir, zu dem du berufen bist, auf dich warten die Götter.« Und wieder als Jüngling, da ihn das immer höher emporfliehende Ziel alles Nachdenkens aus der Schar Gleichstrebender heraus- und hinangerissen hatte, da er in Schmerzen um den Sinn des Brahman rang, da jedes erreichte Wissen nur neuen Durst in ihm entfachte, da wieder hatte er, mitten im Durst, mitten im Schmerze dieses selbe gefühlt: »Weiter! Weiter! Du bist berufen!« Diese Stimme hatte er vernommen, als er seine Heimat verlassen und das Leben des Samana gewählt hatte, und wieder, als er von den Samanas hinweg zu jenem Vollendeten, und auch von ihm hinweg ins Ungewisse gegangen war. Wie lange hatte er diese Stimme nicht mehr gehört, wie lange keine Höhe mehr erreicht, wie eben und öde war sein Weg dahingegangen, viele lange Jahre, ohne hohes Ziel, ohne Durst, ohne Erhebung, mit kleinen Lüsten zufrieden und dennoch nie begnügt! Alle diese Jahre hatte er, ohne es selbst zu wissen, sich bemüht und danach gesehnt, ein Mensch wie diese vielen zu werden, wie diese Kinder, und dabei war sein Leben viel elender und ärmer gewesen als das ihre, denn ihre Ziele waren nicht die seinen, noch ihre Sorgen, diese ganze Welt der Kamaswami-Menschen war ihm ja nur ein Spiel gewesen, ein Tanz, dem man zusieht, eine Komödie. Einzig Kamala war ihm lieb, war ihm wertvoll gewesen – aber war sie es noch? Brauchte er sie noch, oder sie ihn? Spielten sie nicht ein Spiel ohne Ende? War es notwendig, dafür zu leben? Nein, es war nicht notwendig! Dieses Spiel hieß Sansara, ein Spiel für Kinder, ein Spiel, vielleicht hold zu spielen, einmal, zweimal, zehnmal – aber immer und immer wieder?

Da wusste Siddhartha, dass das Spiel zu Ende war, dass er es nicht mehr spielen könne. Ein Schauder lief ihm über den Leib, in seinem Innern, so fühlte er, war etwas gestorben.

Jenen ganzen Tag saß er unter dem Mangobaume, seines Vaters gedenkend, Govindas gedenkend, Gotamas gedenkend. Hatte er diese verlassen müssen, um ein Kamaswami zu werden? Er saß noch, als die Nacht angebrochen war. Als er aufschauend die Sterne erblickte, dachte er: »Hier sitze ich unter meinem Mangobaume, in meinem Lustgarten.« Er lächelte ein wenig – war es denn notwendig, war es richtig, war es nicht ein törichtes Spiel, dass er einen Mangobaum, dass er einen Garten besaß?

Auch damit schloss er ab, auch das starb in ihm. Er erhob sich, nahm Abschied vom Mangobaum, Abschied vom Lustgarten. Da er den Tag ohne Speise geblieben war, fühlte er heftigen Hunger, und gedachte an sein Haus in der Stadt, an sein Gemach und Bett, an den Tisch mit den Speisen. Er lächelte müde, schüttelte sich und nahm Abschied von diesen Dingen.

In derselben Nachtstunde verließ Siddhartha seinen Garten, verließ die Stadt und kam niemals wieder. Lange ließ Kamaswami nach ihm suchen, der ihn in Räuberhand gefallen glaubte. Kamala ließ nicht nach ihm suchen. Als sie erfuhr, dass Siddhartha verschwunden sei, wunderte sie sich nicht. Hatte sie es nicht immer erwartet? War er nicht ein Samana, ein Heimloser, ein Pilger? Und am meisten hatte sie dies beim letzten Zusammensein gefühlt, und sie freute sich mitten im Schmerz des Verlustes, dass sie ihn dieses letzte Mal noch so innig an ihr Herz gezogen, sich noch einmal so ganz von ihm, besessen und durchdrungen gefühlt hatte.

Als sie die erste Nachricht von Siddharthas Verschwinden bekam, trat sie ans Fenster, wo sie in einem goldenen Käfig einen seltenen Singvogel gefangen hielt. Sie öffnete die Tür des Käfigs, nahm den Vogel heraus und ließ ihn fliegen. Lange sah sie ihm nach, dem fliegenden Vogel. Sie empfing von diesem Tage an keine Besucher mehr, und hielt ihr Haus verschlossen. Nach einiger Zeit aber ward sie inne, dass sie von dem letzten Zusammensein mit Siddhartha schwanger sei.

Am Flusse

Siddhartha wanderte im Walde, schon fern von der Stadt, und wusste nichts als das eine, dass er nicht mehr zurück konnte, dass dies Leben, wie er es nun viele Jahre lang geführt, vorüber und dahin und bis zum Ekel ausgekostet und ausgesogen war. Tot war der Singvogel, von dem er geträumt. Tot war der Vogel in seinem Herzen. Tief war er in Sansara verstrickt, Ekel und Tod hatte er von allen Seiten in sich eingesogen, wie ein Schwamm Wasser einsaugt, bis er voll ist. Voll war er von Überdruss, voll von Elend, voll von Tod, nichts mehr gab es in der Welt, das ihn locken, das ihn freuen, das ihn trösten konnte.

Sehnlich wünschte er, nichts mehr von sich zu wissen, Ruhe zu haben, tot zu sein. Käme doch ein Blitz und erschlüge ihn! Käme doch ein Tiger und fräße ihn! Gäbe es doch einen Wein, ein Gift, das ihm Betäubung brächte, Vergessen und Schlaf, und kein Erwachen mehr! Gab es denn noch irgendeinen Schmutz, mit dem er sich nicht beschmutzt hatte, eine Sünde und Torheit, die er nicht begangen, eine Seelenöde, die er nicht auf sich geladen hatte? War es denn noch möglich, zu leben? War es möglich, nochmals und nochmals wieder Atem zu ziehen, Atem auszustoßen, Hunger zu fühlen, wieder zu essen, wieder zu schlafen, wieder beim Weibe zu liegen? War dieser Kreislauf nicht für ihn erschöpft und abgeschlossen?

Siddhartha gelangte an den großen Fluss im Walde, an denselben Fluss, über welchen ihn einst, als er noch ein junger Mann war und von der Stadt des Gotama kam, ein Fährmann geführt hatte. An diesem Flusse machte er Halt, blieb zögernd beim Ufer stehen. Müdigkeit und Hunger hatten ihn geschwächt, und wozu auch sollte er weitergehen, wohin denn, zu welchem Ziel? Nein, es gab keine Ziele mehr, es gab nichts mehr als die tiefe, leidvolle Sehnsucht, diesen ganzen wüsten Traum von sich zu schütteln, diesen schalen Wein von sich zu speien, diesem jämmerlichen und schmachvollen Leben ein Ende zu machen.

Über das Flussufer hing ein Baum gebeugt, ein Kokosbaum, an dessen Stamm lehnte sich Siddhartha mit der Schulter, legte den Arm um den Stamm und blickte in das grüne Wasser hinab, das unter ihm zog und zog, blickte hinab und fand sich ganz und gar von dem Wunsche erfüllt, sich loszulassen und in diesem Wasser unterzugehen. Eine schauerliche Leere spiegelte ihm aus dem Wasser entgegen, welcher die furchtbare Leere in seiner Seele Antwort gab. Ja, er war am Ende. Nichts mehr gab es für ihn, als sich auszulöschen, als das misslungene Gebilde seines Lebens zu zerschlagen, es wegzuwerfen, hohnlachenden Göttern vor die Füße. Dies war das große Erbrechen, nach dem er sich gesehnt hatte: der Tod, das Zerschlagen der Form, die er hasste! Mochten ihn die Fische fressen, diesen Hund von Siddhartha, diesen Irrsinnigen, diesen verdorbenen und verfaulten Leib, diese erschlaffte und missbrauchte Seele! Mochten die Fische und Krokodile ihn fressen, mochten die Dämonen ihn zerstücken!

Mit verzerrtem Gesichte starrte er ins Wasser, sah sein Gesicht gespiegelt und spie danach. In tiefer Müdigkeit löste er den Arm vom Baumstamme und drehte sich ein wenig, um sich senkrecht hinabfallen zu lassen, um endlich unterzugehen. Er sank, mit geschlossenen Augen, dem Tod entgegen.

Da zuckte aus entlegenen Bezirken seiner Seele, aus Vergangenheiten seines ermüdeten Lebens her ein Klang. Es war ein Wort, eine Silbe, die er ohne Gedanken mit lallender Stimme vor sich hinsprach, das alte Anfangswort und Schlusswort aller brahmanischen Gebete, das heilige »Om«, das so viel bedeutet wie »das Vollkommene« oder »die Vollendung«. Und im Augenblick, da der Klang »Om« Siddharthas Ohr berührte, erwachte sein entschlummerter Geist plötzlich, und erkannte die Torheit seines Tuns.

Siddhartha erschrak tief. So also stand es um ihn, so verloren war er, so verirrt und von allem Wissen verlassen, dass er den Tod hatte suchen können, dass dieser Wunsch, dieser Kinderwunsch in ihm hatte groß werden können: Ruhe zu finden, indem er seinen Leib auslöschte! Was alle Qual dieser letzten Zeiten, alle Ernüchterung, alle Verzweiflung nicht bewirkt hatte, das bewirkte dieser Augenblick, da das Om in sein Bewusstsein drang: dass er sich in seinem Elend und in seiner Irrsal erkannte.

Om! sprach er vor sich hin: Om! Und wusste um Brahman, wusste um die Unzerstörbarkeit des Lebens, wusste um alles Göttliche wieder, das er vergessen hatte.

Doch war dies nur ein Augenblick, ein Blitz. Am Fuß des Kokosbaumes sank Siddhartha nieder, von der Ermüdung hingestreckt, Om murmelnd, legte sein Haupt auf die Wurzel des Baumes und sank in tiefen Schlaf.

Tief war sein Schlaf und frei von Träumen, seit langer Zeit hatte er einen solchen Schlaf nicht mehr gekannt. Als er nach manchen Stunden erwachte, war ihm, als seien zehn Jahre vergangen, er hörte das leise Strömen des Wassers, wusste nicht, wo er sei und wer ihn hierher gebracht habe, schlug die Augen auf, sah mit Verwunderung Bäume und Himmel über sich, und erinnerte sich, wo er wäre und wie er hierher gekommen sei. Doch bedurfte er hierzu einer langen Weile, und das Vergangene erschien ihm wie von einem Schleier überzogen, unendlich fern, unendlich weit weg gelegen, unendlich gleichgültig. Er wusste nur, dass er sein früheres Leben (im ersten Augenblick der Besinnung erschien ihm dies frühere Leben wie eine weit zurückliegende, einstige Verkörperung, wie eine frühe Vorgeburt seines jetzigen Ich) – dass er sein früheres Leben verlassen habe, dass er voll Ekel und Elend sogar sein Leben habe wegwerfen wollen, dass er aber an einem Flusse, unter einem Kokosbaume, zu sich gekommen sei, das heilige Wort Om auf den Lippen, dann entschlummert sei, und nun erwacht als ein neuer Mensch in die Welt blicke. Leise sprach er das Wort Om vor sich hin, über welchem er eingeschlafen war, und ihm schien sein ganzer langer Schlaf sei nichts als ein langes, versunkenes Om-Sprechen gewesen, ein Om-Denken, ein Untertauchen und völliges Eingehen in Om, in das Namenlose, Vollendete.

Was für ein wunderbarer Schlaf war dies doch gewesen! Niemals hatte ein Schlaf ihn so erfrischt, so erneut, so verjüngt! Vielleicht war er wirklich gestorben, war untergegangen und in einer neuen Gestalt wiedergeboren? Aber nein, er kannte sich, er kannte seine Hand und seine Füße, kannte den Ort, an dem er lag, kannte dies Ich in seiner Brust, diesen Siddhartha, den Eigenwilligen, den Seltsamen, aber dieser Siddhartha war dennoch verwandelt, war erneut, war merkwürdig ausgeschlafen, merkwürdig wach, freudig und neugierig.

Siddhartha richtete sich empor, da sah er sich gegenüber einen Menschen sitzen, einen fremden Mann, einen Mönch in gelbem Gewande mit rasiertem Kopfe, in der Stellung des Nachdenkens. Er betrachtete den Mann, der weder Haupthaar noch Bart an sich hatte, und nicht lange hatte er ihn betrachtet, da erkannte er in diesem Mönche Govinda, den Freund seiner Jugend, Govinda, der seine Zuflucht zum erhabenen Buddha genommen hatte. Govinda war gealtert, auch er, aber noch immer trug sein Gesicht die alten Züge, sprach von Eifer, von Treue, von Suchen, von Ängstlichkeit. Als nun aber Govinda, seinen Blick fühlend, das Auge aufschlug und ihn anschaute, sah Siddhartha, dass Govinda ihn nicht erkenne. Govinda freute sich, ihn wach zu finden, offenbar hatte er lange hier gesessen und auf sein Erwachen gewartet, obwohl er ihn nicht kannte.

»Ich habe geschlafen,« sagte Siddhartha. »Wie bist denn du hierher gekommen?«

»Du hast geschlafen,« antwortete Govinda. »Es ist nicht gut, an solchen Orten zu schlafen, wo häufig Schlangen sind und die Tiere des Waldes ihre Wege haben. Ich, o Herr, bin ein Jünger des erhabenen Gotama, des Buddha, des Sakyamuni, und bin mit einer Zahl der Unsrigen diesen Weg gepilgert, da sah ich dich liegen und schlafen an einem Orte, wo es gefährlich ist zu schlafen. Darum suchte ich dich zu wecken, o Herr, und da ich sah, dass dein Schlaf sehr tief war, blieb ich hinter den Meinigen zurück und saß bei dir. Und dann, so scheint es, bin ich selbst eingeschlafen, der ich deinen Schlaf bewachen wollte. Schlecht habe ich meinen Dienst versehen, Müdigkeit hat mich übermannt. Aber nun, da du ja wach bist, lass mich gehen, damit ich meine Brüder einhole.«

»Ich danke dir, Samana, dass du meinen Schlaf behütet hast,« sprach Siddhartha. »Freundlich seid Ihr Jünger des Erhabenen. Nun magst du denn gehen.«

»Ich gehe, Herr. Möge der Herr sich immer wohl befinden.«

»Ich danke dir, Samana.«

Govinda machte das Zeichen des Grußes und sagte: »Lebe wohl.«

»Lebe wohl, Govinda,« sagte Siddhartha.

Der Mönch blieb stehen.

»Erlaube, Herr, woher kennst du meinen Namen?«

Da lächelte Siddhartha.

»Ich kenne dich, o Govinda, aus der Hütte deines Vaters, und aus der Brahmanenschule, und von den Opfern, und von unsrem Gang zu den Samanas, und von jener Stunde, da du im Hain Jetavana deine Zuflucht zum Erhabenen nahmest.«

»Du bist Siddharthal« rief Govinda laut. Jetzt erkenne ich dich, und begreife nicht mehr, wie ich dich nicht sogleich erkennen konnte. Sei willkommen, Siddhartha, groß ist meine Freude, dich wiederzusehen«

»Auch mich erfreut es, dich wiederzusehen. Du bist der Wächter meines Schlafes gewesen, nochmals danke ich dir dafür, obwohl ich keines Wächters bedurft hätte. Wohin gehst du, o Freund?«

»Nirgendshin gehe ich. Immer sind wir Mönche unterwegs, solange nicht Regenzeit ist, immer ziehen wir von Ort zu Ort, leben nach der Regel, verkündigen die Lehre, nehmen Almosen, ziehen weiter. Immer ist es so. Du aber, Siddhartha, wo gehst du hin?«

Sprach Siddhartha: »Auch mit mir steht es so, Freund, wie mit dir. Ich gehe nirgendhin. Ich bin nur unterwegs. Ich pilgere.«

Govinda sprach: »Du sagst, du pilgerst, und ich glaube dir. Doch verzeih, o Siddhartha, nicht wie ein Pilger siehst du aus. Du trägst das Kleid eines Reichen, du trägst die Schuhe eines Vornehmen, und dein Haar, das nach wohlriechendem Wasser duftet, ist nicht das Haar eines Pilgers, nicht das Haar eines Samanas.«

»Wohl, Lieber, gut hast du beobachtet, alles sieht dein scharfes Auge. Doch habe ich nicht zu dir gesagt, dass ich ein Samana sei. Ich sagte: ich pilgere. Und so ist es: ich pilgere.«

»Du pilgerst,« sagte Govinda. »Aber wenige pilgern in solchem Kleide, wenige in solchen Schuhen, wenige mit solchen Haaren. Nie habe ich, der ich schon viele Jahre pilgere, solch einen Pilger angetroffen.«

»Ich glaube es dir, mein Govinda. Aber nun, heute, hast du eben einen solchen Pilger angetroffen, in solchen Schuhen, mit solchem Gewande. Erinnere dich, Lieber: Vergänglich ist die Welt der Gestaltungen, vergänglich, höchst vergänglich sind unsere Gewänder, und die Tracht unserer Haare, und unsere Haare und Körper selbst. Ich trage die Kleider eines Reichen, da hast du recht gesehen. Ich trage sie, denn ich bin ein Reicher gewesen, und trage das Haar wie die Weltleute und Lüstlinge, denn einer von ihnen bin ich gewesen. «

»Und jetzt, Siddhartha, was bist du jetzt?«

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