«Hallo», rief sie freudig, «jetzt hab ich's!»
«Was denn?»
«Das mit dem Foxtrott, ich mußte die ganze Zeit daran denken. Also sag: hast du ein Zimmer, in dem wir zwei hie und da eine Stunde tanzen könnten? Es kann klein sein, das macht nichts, bloß darf nicht gerade irgendeiner unter dir wohnen, der dann heraufkommt und Skandal macht, wenn es über ihm ein wenig wackelt.
Also gut, sehr gut! Dann kannst du zu Hause tanzen lernen.»
«Ja», sagte ich schüchtern, «desto besser. Aber ich dachte, man brauche auch Musik dazu.»
«Natürlich braucht man. Also paß auf, die Musik wirst du dir kaufen, das kostet höchstens soviel wie ein Tanzkurs bei einer Lehrerin. Die Lehrerin sparst du, die mache ich selber. Dann haben wir Musik, sooft wir wollen, und das Grammophon bleibt uns obendrein.»
«Das Grammophon?»
«Selbstverständlich. Du kaufst so einen kleinen Apparat und ein paar Tanzplatten dazu ...»
«Herrlich», rief ich, «und wenn es dir wirklich gelingt, mir das Tanzen beizubringen, dann bekommst du das Grammophon als Honorar.
Einverstanden?»
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Ich sagte das sehr forsch, aber es kam nicht von Herzen. In meinem Studierstübchen mit den Büchern konnte ich mir einen solchen, mir keineswegs sympathischen Apparat nicht vorstellen, und auch gegen das Tanzen hatte ich vieles einzuwenden. So gelegentlich, hatte ich gedacht, konnte man es ja einmal probieren, obwohl ich überzeugt war, ich sei viel zu alt und steif und würde es nicht mehr lernen. Aber nun so Schlag auf Schlag, das war mir zu rasch und heftig, und ich spürte alles in mir Widerstand leisten, was ich als alter verwöhnter Musikkenner gegen Grammophone, Jazz und moderne Tanzmusiken einzuwenden hatte. Daß jetzt in meiner Stube, neben Novalis und Jean Paul, in meiner Gedankenklause und Zuflucht amerikanische Tanzschlager erklingen und ich dazu tanzen sollte, das war eigentlich mehr, als ein Mensch von mir verlangen konnte. Aber es war ja nicht «ein Mensch», der es verlangte; es war Hermine, und sie hatte zu befehlen. Ich gehorchte. Natürlich gehorchte ich.
Wir trafen uns am nächsten Nachmittag in einem Cafe. Hermine saß schon dort, als ich kam, trank Tee und zeigte mir lächelnd eine Zeitung, in der sie meinen Namen entdeckt hatte. Es war eines der reaktionären Hetzblätter meiner Heimat, in welchen immer von Zeit zu Zeit heftige Schmähartikel gegen mich die Runde machten. Ich war während des Krieges Kriegsgegner gewesen, ich hatte nach dem Kriege gelegentlich zu Ruhe, Geduld, Menschlichkeit und Selbstkritik gemahnt und mich gegen die täglich schärfer, törichter und wilder werdende nationalistische Hetzerei gewehrt. Da stand nun wieder solch ein Angriff, schlecht geschrieben, halb vom Redakteur selbst verfaßt, halb aus den vielen ähnlichen Aufsätzen der ihm nahestehenden Presse zusammengestohlen.
Nie mand schreibt bekanntlich so schlecht wie die Verteidiger alternder Ideologien, niemand treibt sein Handwerk mit weniger Sauberkeit und Mühewaltung. Den Aufsatz hatte Hermine gelesen und hatte daraus erfahren, daß Harry Haller ein Schädling und vaterlandsloser Geselle sei und daß es natürlich mit dem Vaterland nicht anders als übel stehen könne, solange solche Menschen und solche Gedanken geduldet würden und die Jugend zu sentimentalen Menschheitsgedanken statt zur kriegerischen Rache am Erbfeind erzogen werde.
«Bist du das?» fragte Hermine und zeigte auf meinen Namen. «Nun, da hast 101
du dir ordentlich Feinde gemacht, Harry. Ärgert es dich?»
Ich las einige Zeilen, es war das Gewohnte, jedes einzelne dieser klischierten Schmähworte war mir seit Jahren bis zum Überdruß bekannt.
«Nein», sagte ich, «es ärgert mich nicht, ich bin längst daran gewöhnt. Ich habe ein paarmal die Meinung geäußert, jedes Volk und sogar jeder einzelne Mensch müsse, statt sich mit verlogenen politischen «Schuldfragen» in Schlummer zu wiegen, bei sich selber nachforschen, wie weit es selbst durch Fehler, Versäumnisse und üble Gewohnheiten mit am Kriege und an allem ändern Weltelend schuldig sei, das sei der einzige Weg, um den nächsten Krieg vielleicht zu vermeiden. Das verzeihen sie mir nicht, denn natürlich sind sie selber vollkommen unschuldig: der Kaiser, die Generäle, die Großindustriellen, die Politiker, die Zeitungen — niemand hat sich das geringste vorzuwerfen, niemand hat irgendeine Schuld! Man könnte meinen, es stehe alles herrlich in der Welt, nur liegen ein Dutzend Millionen totgeschlagener Menschen in der Erde.
Und sieh. Hermine, wenn solche Schmähartikel mich auch nicht mehr ärgern können, manchmal machen sie mich doch traurig. Zwei Drittel von meinen Landsleuten lesen diese Art von Zeitungen, lesen jeden Morgen und Abend diese Töne, werden jeden Tag bearbeitet, ermahnt, verhetzt, unzufrieden und böse gemacht, und das Ziel und Ende von dem allem ist wieder der Krieg, ist der nächste, kommende Krieg, der wohl noch scheußlicher sein wird, als dieser es war. Alles das ist klar und einfach, jeder Mensch könnte es begreifen, könnte in einer einzigen Stunde Nachdenkens dasselbe Ergebnis finden. Aber keiner will das, keiner will den nächsten Krieg vermeiden, keiner will sich und seinen Kindern die nächste Millionenschlächterei ersparen, wenn er es nicht billiger haben kann. Eine Stunde nachdenken, eine Weile in sich gehen und sich fragen, wie weit man selber an der Unordnung und Bosheit in der Welt teil hat und mitschuldig ist — sieh, das will niemand! Und so wird es also weitergehen, und der nächste Krieg wird von vielen tausend Menschen Tag für Tag mit Eifer vorbereitet. Es hat mich, seit ich es weiß, gelähmt und zur Verzweiflung gebracht, es gibt für mich kein «Vaterland» und keine Ideale mehr, das ist alles ja bloß Dekoration für die Herren, die das nächste Schlachten vorbereiten. Es hat keinen Sinn, irgend etwas Menschliches zu denken, zu sagen, zu schreiben, es 102
hat keinen Sinn, gute Gedanken in seinem Kopf zu bewegen — auf zwei, drei Menschen, welche das tun, kommen Tag für Tag tausend Zeitungen, Zeitschriften, Reden, öffentliche und geheime Sitzungen, die alle das Gegenteil anstreben und auch erreichen.»
Hermine hatte mit Teilnahme zugehört.
«Ja», sagte sie nun, «da hast du schon recht. Natürlich wird es wieder Krieg geben, man braucht keine Zeitungen zu lesen, um das zu wissen. Darüber kann man natürlich traurig sein, einen Wert hat das aber nicht. Es ist gerade so, wie wenn einer darüber traurig ist, daß er trotz allem und allem, was er dagegen tun mag, unweigerlich einmal wird sterben müssen. Der Kampf gegen den Tod, lieber Harry, ist immer eine schöne, edle, wunderbare und ehrwürdige Sache, also auch der Kampf gegen den Krieg. Aber er ist auch immer eine hoffnungslose Donquichotterie.»
»Das ist vielleicht wahr», rief ich heftig, «aber mit solchen Wahrheiten wie der, daß wir doch alle bald sterben müssen und also alles wurst und egal ist, macht man das ganze Leben flach und dumm. Ja sollen wir denn also alles wegwerfen, auf allen Geist, auf alles Streben, auf alle Menschlichkeit verzichten, den Ehrgeiz und das Geld weiter regieren lassen und bei einem Glas Bier die nächste Mobilmachung abwarten?»
Merkwürdig war der Blick, mit dem Hermine mich nun ansah, ein Blick voll Belustigung, voll Spott und Schelmerei und verständnisvoller Kameradschaft und zugleich so voll Schwere, Wissen und abgründigem Ernst!
«Das sollst du nicht», sagte sie ganz mütterlich. «Dein Leben wird auch dadurch nicht flach und dumm, wenn du weißt, daß dein Kampf erfolglos sein wird. Es ist viel flacher, Harry, wenn du für etwas Gutes und Ideales kämpfst und nun meinst, du müssest es auch erreichen. Sind denn Ideale zum Erreichen da?
Leben wir denn, wir Menschen, um den Tod abzuschaffen? Nein, wir leben, um ihn zu fürchten und dann wieder zu lieben, und gerade seinetwegen glüht das bißchen Leben manchmal eine Stunde lang so schön. Du bist ein Kind, Harry.
Sei jetzt folgsam und komm mit mir, wir haben heut viel zu tun. Ich werde mich heut nicht mehr um den Krieg und die Zeitungen kümmern. Und du?»
0 nein, auch ich war bereit.
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Wir gingen zusammen — es war unser erster gemeinsamer Gang in der Stadt
— in ein Musikaliengeschäft und sahen Grammophone an, klappten sie auf und zu, ließen sie uns vorspielen, und als wir eines davon sehr passend und nett und wohlfeil gefunden hatten, wollte ich es kaufen, aber so schnell war Hermine nicht fertig. Sie hielt mich zurück, und ich mußte erst noch einen zweiten Laden mit ihr aufsuchen und auch dort alle Systeme und Größen vom teuersten bis zum billigsten ansehen und anhören, und erst jetzt war sie damit einverstanden, in den ersten Laden zurückzugehen und den dort gefundenen Apparat zu kaufen.
«Siehst du», sagte ich, «das hätten wir einfacher haben können.»
«Meinst du? Und dann hätten wir vielleicht morgen den gleichen Apparat in einem andern Schaufenster um zwanzig Franken billiger ausgestellt gesehen.
Und außerdem macht Einkaufen Spaß, und was Spaß macht, muß man auskosten. Du mußt noch viel lernen.»
Mit einem Dienstmann brachten wir unsern Einkauf in meine Wohnung.
Hermine betrachtete mein Wohnzimmer genau, lobte den Ofen und den Diwan, probierte die Stühle, nahm Bücher in die Hand, blieb lang vor der Photographie meiner Geliebten stehen. Das Grammophon hatten wir zwischen Bücherhaufen auf eine Kommode gestellt. Und nun begann mein Unterricht. Sie ließ einen Foxtrott spielen, machte mir die ersten Schritte vor, nahm meine Hand und begann, mich zu führen. Ich trabte gehorsam mit, stieß an Stühle, hörte auf ihre Befehle, verstand sie nicht, trat sie auf die Füße und war ebenso ungeschickt •wie pflichteifrig. Nach dem zweiten Tanz warf sie sich in den Diwan und lachte wie ein Kind.
«Mein Gott, wie steif du bist! Geh doch einfach vor dich hin, wie wenn du spazierengehst! Anstrengungen sind gar nicht nötig. Ich glaube, dir ist sogar schon heiß geworden? Na, ruhen wir fünf Minuten aus! Schau, das Tanzen ist, wenn man es kann, gerade so einfach wie das Denken, und zu lernen ist es viel leichter. Du wirst jetzt weniger ungeduldig darüber werden, daß die Menschen sich das Denken nicht angewöhnen wollen, sondern lieber den Herrn Haller einen Landesverräter heißen und ruhig den nächsten Krieg kommen lassen.»
Nach einer Stunde ging sie fort, mit der Versicherung, das nächste Mal werde es schon besser gehen. Ich dachte darüber anders und war sehr enttäuscht über 104
meine Dummheit und Schwerfälligkeit, ich hatte, wie mir schien, in dieser Stunde überhaupt nichts gelernt und glaubte nicht daran, daß es ein andermal besser gehen werde. Nein, zum Tanzen mußte man Fähigkeiten mitbringen, die mir vollkommen fehlten: Fröhlichkeit, Unschuld, Leichtsinn, Schwung. Nun, ich hatte es mir ja längst gedacht.
Aber siehe, beim nächsten Mal ging es in der Tat besser und begann mir sogar Spaß zu machen, und am Schluß der Stunde behauptete Hermine, den Foxtrott könne ich jetzt. Aber als sie daraus folgerte, nun müsse ich morgen mit ihr in einem Restaurant tanzen gehen, erschrak ich heftig und wehrte mich mit Leidenschaft. Kühl erinnerte sie mich an mein Gelübde des Gehorsams und bestellte mich für morgen zum Tee ins Hotel Balances.