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meines sinnlichen Verlangens nach ihr. Verzaubert blickten wir einander an, blickte meine arme kleine Seele mich an.

«Du bist bereit?» fragte Hermine, und ihr Lächeln verflog, wie der Schatten über ihrer Brust verflogen war. Fern und hoch verklang jenes fremde Lachen in unbekannten Räumen.

Ich nickte. 0 ja, ich war bereit.

Jetzt erschien in der Tür Pablo, der Musikant, und leuchtete uns aus den frohen Augen an, welche eigentlich Tieraugen waren, aber Tieraugen sind immer ernst, und seine lachten immer, und ihr Lachen machte sie zu Menschenaugen. Mit all seiner herzlichen Freundlichkeit winkte er uns zu. Er hatte eine buntseidene Hausjacke angetan, über deren roten Aufschlägen sein durchweichter Hemdkragen und sein übermüdetes bleiches Gesicht merkwürdig welk und fahl erschien, aber die strahlenden schwarzen Augen löschten das aus. Auch sie löschten die 'Wirklichkeit aus, auch sie zauberten.

Wir folgten seinem Wink, und unter der Tür sagte er leise zu mir: «Bruder Harry, ich lade Sie zu einer kleinen Unterhaltung ein. Eintritt nur für Verrückte, kostet den Verstand. Sind Sie bereit?» Wieder nickte ich.

Lieber Kerl! Zart und sorglich nahm er uns am Arm, Hermine rechts, mich links, und führte uns über eine Treppe hinan in ein kleines rundes Zimmer, das war von oben bläulich erleuchtet und beinahe ganz leer, es war nichts darin als ein kleiner runder Tisch und drei Sessel, in die wir uns setzten.

Wo waren wir? Schlief ich? War ich zu Hause? Saß ich in einem Auto und fuhr? Nein, ich saß im blau erleuchteten runden Raum, in einer verdünnten Luft, in einer Schicht von sehr undicht gewordener Wirklichkeit. Warum war denn Hermine so bleich? Warum sprach Pablo so viel? War nicht vielleicht ich es, der ihn sprechen machte, der aus ihm sprach? Blickte nicht auch aus seinen schwarzen Augen nur meine eigene Seele mich an, der verlerne bange Vogel, ebenso wie aus den grauen Augen Herminens?

Mit all seiner guten und etwas zeremoniösen Freundlichkeit blickte Freund Pablo uns an und sprach, sprach viel und lang. Er, den ich nie zusammenhängend hatte reden hören, den kein Disput, keine Formulierung interessierte, dem ich kaum ein Denken zugetraut hatte, er sprach nun, er redete mit seiner guten, 151

warmen Stimme fließend und fehlerlos.

«Freunde, ich habe euch zu einer Unterhaltung eingeladen, die Harry sich schon lange wünscht, von der er schon lang geträumt hat. Es ist ein wenig spät, und wahrscheinlich sind wir alle ein bißchen müde. Wir wollen darum hier erst ein wenig ausruhen und uns stärken.»

Aus einer Wandnische nahm er drei Gläschen und eine kleine drollige Flasche, nahm eine kleine exotische Schachtel aus farbigen Hölzern, schenkte aus der Flasche die drei Gläschen voll, nahm aus der Schachtel drei dünne, lange, gelbe Zigaretten, zog aus der seidenen Jacke ein Feuerzeug und bot uns Feuer an. Jeder von uns rauchte nun, in seinem Sessel zurückgelehnt, langsam seine Zigarette, deren Rauch dick wie Weihrauch war, und trank in kleinen langsamen Schlucken die herbsüße, wunderlich unbekannt und fremd schmeckende Flüssigkeit, die in der Tat unendlich belebend und beglückend wirkte, als werde man mit Gas gefüllt und verliere seine Schwere. So saßen wir, rauchten in kleinen Zügen, ruhten, nippten an den Gläsern, fühlten uns leicht und froh werden. Dazu sprach Pablo gedämpft mit seiner warmen Stimme:

«Es ist mir eine Freude, lieber Harry, Sie heut ein wenig bewirten zu dürfen.

Sie sind oft Ihres Lebens sehr überdrüssig gewesen, Sie strebten fort von hier, nicht wahr? Sie sehnen sich danach, diese Zeit, diese Welt, diese Wirklichkeit zu verlassen und in eine andre, Ihnen gemäßere Wirklichkeit einzugehen, in eine Welt ohne Zeit. Tun Sie das, lieber Freund, ich lade Sie dazu ein. Sie wissen ja, wo diese andre Welt verborgen liegt, daß es die Welt Ihrer eigenen Seele ist, die Sie suchen. Nur in Ihrem eigenen Innern lebt jene andre Wirklichkeit, nach der Sie sich sehnen. Ich kann Ihnen nichts geben, was nicht in Ihnen selbst schon existiert, ich kann Ihnen keinen ändern Bildersaal öffnen als den Ihrer Seele. Ich kann Ihnen nichts geben, nur die Gelegenheit, den Anstoß, den Schlüssel. Ich helfe Ihnen Ihre eigene Welt sichtbar machen, das ist alles.»

Er griff wieder in die Tasche seiner bunten Jacke und brachte einen runden Taschenspiegel heraus.

«Sehen Sie: so haben Sie bisher sich selbst gesehen!»

Er hielt mir das Spiegelein vor die Augen (ein Kindervers fiel mir ein:

«Spiegelein, Spiegelein in der Hand»), und ich sah, etwas zerflossen und wolkig, 152

ein unheimliches, in sich selbst bewegtes, in sich selbst heftig arbeitendes und gärendes Bild: mich selber, Harry Haller, und innen in diesem Harry den Steppenwolf, einen scheuen, schönen, aber verirrt und geängstigt blickenden Wolf, die Augen bald böse, bald traurig glimmend, und diese Wolfgestalt floß in unablässiger Bewegung durch Harry, so wie in einem Strome ein Nebenfluß von andrer Farbe wölkt und wühlt, kämpfend, leidvoll, einer im ändern fressend, voll unerlöster Sehnsucht nach Gestaltung. Traurig, traurig blickte der fließende, halbgestaltete Wolf mich aus den schönen scheuen Augen an.

«So haben Sie sich selbst gesehen», wiederholte Pablo sanft und steckte den Spiegel wieder in die Tasche. Dankbar schloß ich die Augen und nippte am Elixier.

«Wir haben nun ausgeruht», sagte Pablo, «wir haben uns gestärkt und haben ein wenig geplaudert. Wenn ihr euch nicht mehr müde fühlt, dann will ich euch jetzt in meinen Guckkasten führen und euch mein kleines Theater zeigen. Seid ihr einverstanden?»

Wir erhoben uns, lächelnd ging Pablo voran, öffnete eine Tür, zog einen Vorhang beiseite, und da standen wir im runden, hufeisenförmigen Korridor eines Theaters, genau in der Mitte, und nach beiden Seiten hin führte der gebogene Gang an sehr vielen, an unglaublich vielen schmalen Logentüren vorüber.

«Das ist unser Theater», erklärte Pablo, «ein vergnügtes Theater, hoffentlich werdet ihr allerlei zu lachen finden.» Dabei lachte er laut auf, nur ein paar Töne, aber sie durchführen mich heftig, es war wieder das helle, fremdartige Lachen, das ich schon vorher von oben gehört hatte.

«Mein Theaterchen hat so viele Logentüren, als ihr wollt, zehn oder hundert oder tausend, und hinter jeder Tür erwartet euch das, was ihr gerade sucht. Es ist ein hübsches Bilderkabinett, lieber Freund, aber es würde Ihnen nichts nützen, es so zu durchlaufen, wie Sie sind. Sie würden durch das gehemmt und geblendet werden, was Sie gewohnt sind, Ihre Persönlichkeit zu nennen. Ohne Zweifel haben Sie ja längst erraten, daß die Überwindung der Zeit, die Erlösung von der Wirklichkeit, und was immer für Namen Sie Ihrer Sehnsucht geben mögen, nichts andres bedeuten als den Wunsch, Ihrer sogenannten Persönlichkeit ledig 153

zu werden. Sie ist das Gefängnis, in dem Sie sitzen. Und wenn Sie so, wie Sie sind, in das Theater träten, so sähen Sie alles mit den Augen Harrys, alles durch die alte Brille des Steppenwolfes. Sie werden darum eingeladen, sich dieser Brille zu entledigen und diese sehr geehrte Persönlichkeit freundlichst hier in der Garderobe abzulegen, wo sie auf Wunsch jederzeit wieder zu Ihrer Verfügung steht. Der hübsche Tanzabend, den Sie hinter sich haben, der Traktat vom Steppenwolf, schließlich noch das kleine Anregungsmittel, das wir eben zu uns genommen haben, dürfte Sie genügend vorbereitet haben. Sie, Harry, werden nach Ablegung Ihrer werten Persönlichkeit die linke Seite des Theaters zu Ihrer Verfügung haben, Hermine die rechte, im Innern können Sie sich beliebig wieder treffen. Bitte, Hermine, geh einstweilen hinter den Vorhang, ich möchte erst Harry einführen.»

Hermine verschwand nach rechts, an einem riesengroßen Spiegel vorbei, der die Rückwand vom Boden bis zur Wölbung bedeckte.

«So, Harry, nun kommen Sie und seien Sie recht guter Laune. Sie in gute Laune zu bringen. Sie lachen zu lehren, ist der Zweck dieser ganzen Veranstaltung — ich hoffe, Sie machen es mir leicht. Sie fühlen sich doch wohl?

Ja? Haben nicht etwa Angst? Also gut, sehr gut. Sie werden jetzt, ohne Angst und mit herzlichem Vergnügen, in unsre Scheinwelt eintreten, indem Sie sich durch einen kleinen Scheinselbstmord einführen, wie das so Sitte ist.»

Er zog wieder den kleinen Taschenspiegel hervor und hielt ihn mir vors Gesicht. Wieder blickte mir der wirre, wolkige, von der ringenden Wolfsgestalt durchflossene Harry entgegen, ein mir wohlbekanntes und wahrlich nicht sympathisches Bild, dessen Vernichtung mir keine Sorge bereiten konnte.

«Dieses entbehrlich gewordene Spiegelbild werden Sie jetzt auslöschen, lieber Freund, mehr ist nicht vonnöten. Es genügt, daß Sie, wenn Ihre Laune es zuläßt, dieses Bild mit einem aufrichtigen Lachen betrachten. Sie sind hier in einer Schule des Humors, Sie sollen lachen lernen. Nun, aller höhere Humor fängt damit an, daß man die eigene Person nicht mehr ernst nimmt.»

Fest blickte ich in das Spiegelein, Spiegelein in der Hand, in dem der Harrywolf seine Zuckungen vollführte. Einen Augenblick zuckte es in mir, tief innen, leise, aber schmerzlich, wie Erinnerung, wie Heimweh, wie Reue. Dann 154

wich die leichte Beklemmung einem neuen Gefühl, jenem ähnlich, das man empfindet, wenn aus dem mit Kokain betäubten Kiefer ein kranker Zahn gezogen worden ist, ein Gefühl von Erleichterung und tiefem Aufatmen und zugleich von Verwunderung, daß es so gar nicht weh getan hat. Und zu diesem Gefühl gesellte sich eine frische Aufgeräumtheit und Lachlust, der ich nicht widerstehen konnte, so daß ich in ein erlösendes Gelächter ausbrach.

Das trübe Spiegelbildchen zuckte auf und erlosch, die kleine runde Spiegelfläche war plötzlich wie verbrannt, war grau und rauh und undurchsichtig geworden. Lachend warf Pablo die Scherbe weg, rollend verlor sie sich am Boden des unendlichen Korridors.

«Gut gelacht, Harry», rief Pablo, «du wirst noch lachen lernen wie die Unsterblichen. Nun hast du endlich den Steppenwolf umgebracht. Mit Rasiermessern geht das nicht. Paß auf, daß er tot bleibt! Gleich wirst du die dumme Wirklichkeit verlassen können. Wir werden beim nächsten Anlaß Brüderschaft trinken. Lieber, nie hast du mir so gut gefallen wie heut. Und wenn du dann noch Wert darauf legst, dann können wir auch miteinander philosophieren und disputieren und über Musik und über Mozart und Gluck und Plato und Goethe sprechen, soviel du willst. Du wirst jetzt begreifen, warum es früher nicht ging. — Hoffentlich glückt es dir, und du wirst den Steppenwolf für heute los. Denn natürlich ist dein Selbstmord kein endgültiger; wir sind hier in einem magischen Theater, es gibt hier nur Bilder, keine Wirklichkeit. Suche dir schöne und heitere Bilder aus und zeige, daß du wirklich nicht mehr in deine fragwürdige Persönlichkeit verliebt bist! Solltest du sie aber dennoch zurückbegehren, so brauchst du nur wieder in den Spiegel zu schauen, den ich dir jetzt zeigen werde. Du kennst ja aber das alte weise Wort: ein Spiegelein in der Hand ist besser als zwei an der Wand. Haha! (Wieder lachte er so schön und schrecklich.) — So, und jetzt ist bloß noch eine ganz kleine, lustige Zeremonie zu vollziehen. Du hast jetzt deine Persönlichkeitsbrille weggeworfen, nun komm einmal und schaue in einen richtigen Spiegel! Es wird dir Spaß machen.»

Unter Lachen und kleinen drolligen Liebkosungen drehte er mich um, daß ich dem riesengroßen Wandspiegel gegenüberstand. In dem sah ich mich.

Ich sah, einen winzigen Moment lang, den mir bekannten Harry, nur mit 155

einem ungewöhnlich gutgelaunten, hellen, lachenden Gesicht. Aber kaum, daß ich ihn erkannt hatte, fiel er auseinander, löste sich eine zweite Figur von ihm ab, eine dritte, eine zehnte, eine zwanzigste, und der ganze Riesenspiegel war voll von lauter Harrys oder HarryStücken, zahllosen Harrys, deren jeden ich nur einen blitzhaften Moment erblickte und erkannte. Einige von diesen vielen Harrys waren so alt wie ich, einige älter, einige uralt, andere ganz jung, Jünglinge, Knaben, Schulknaben, Lausbuben, Kinder. Fünfzigjährige und zwanzigjährige Harrys liefen und sprangen durcheinander, dreißigjährige und fünfjährige, ernste und lustige, würdige und komische, gutgekleidete und zerlumpte und auch ganz nackte, haarlose und langlockige, und alle waren ich, und jeder wurde blitzschnell von mir gesehen und erkannt und war verschwunden, nach allen Seiten liefen sie auseinander, nach links, nach rechts, in die Spiegeltiefe hinein, aus dem Spiegel heraus. Einer, ein junger eleganter Kerl, sprang dem Pablo lachend an die Brust, umarmte ihn und lief mit ihm davon. Und einer, der mir ganz besonders gefiel, ein hübscher, reizender Junge von sechzehn oder siebzehn Jahren, lief wie der Blitz in den Korridor hinein, las gierig die Inschriften an all den Türen, ich lief hinterher, vor einer Türe blieb er stehen, ich las an ihr die Aufschrift:

Alle Mädchen sind dein! Einwurf eine Mark

Der liebe Junge schnellte sich mit einem Sprung empor, Kopf voran, stürzte sich selbst in den Einwurf und war hinter der Tür verschwunden.

Auch Pablo war verschwunden, auch der Spiegel schien verschwunden und mit ihm alle die zahllosen Harryfiguren. Ich spürte, daß ich jetzt mir selber und dem Theater überlassen sei und trat neugierig von Tür zu Tür, und an jeder las ich eine Inschrift, eine Lockung, ein Versprechen.

Die Inschrift

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