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starke Antriebe in sich hat, jedoch aus irgendeiner Schwächung oder Trägheit heraus denSchwung in den freien wilden Weltraum nicht nehmen konnte und an das schweremütterliche Gestirn des Bürgertums gebannt bleibt. Dies ist seine Lage im Raum derWelt, dies seine Gebundenheit. Die allermeisten Intellektuellen, der größte Teil derKünstlermenschen gehört demselben Typus an. Nur die stärksten von ihnen durchstoßendie Atmosphäre der Bürgererde und gelangen ins Kosmische, die andern alle resignierenoder schließen Kompromisse, verachten das Bürgertum und gehören ihm dennoch anund stärken und verherrlichen es, indem sie letzten Endes es bejahen müssen, um nochleben zu können. Es reicht diesen zahllosen Existenzen nicht zur Tragik, wohl aber zueinem recht ansehnlichen Mißgeschick und Unstern, in dessen Hölle ihre Talente gargekocht und fruchtbar werden. Die wenigen, die sich losreißen, finden ins Unbedingte undgehen auf bewundernswerte Weise unter, sie sind die Tragischen, ihre Zahl ist klein. Denandern aber, den Gebundenbleibenden, deren Talenten oft das Bürgertum große Ehrenzollt, ihnen steht ein drittes Reich offen, eine imaginäre, aber souveräne Welt: der Humor.

Die friedlosen Steppenwölfe, diese beständig und furchtbar Leidenden, denen die zurTragik, zum Durchbruch in den Sternenraum erforderliche Wucht versagt ist, die sich zumUnbedingten berufen fühlen und doch in ihm nicht zu leben vermögen: ihnen bietet sich,wenn ihr Geist im Leiden stark und elastisch geworden ist, der versöhnliche Ausweg inden Humor. Der Humor bleibt stets irgendwie bürgerlich, obwohl der echte Bürger unfähigist, ihn zu verstehen. In seiner imaginären Sphäre wird das verzwickte, vielspältige Idealaller Steppenwölfe verwirklicht: hier ist es möglich, nicht nur gleichzeitig den Heiligen undden Wüstling zu bejahen, die Pole zueinander zu biegen, sondern auch noch den Bürgerin die Bejahung einzubeziehen. Es ist ja dem Gottbesessenen sehr wohl möglich, 3denVerbrecher zu bejahen, und ebenso umgekehrt, ihnen beiden aber, und allen anderenUnbedingten, ist es unmöglich, auch noch jene neutrale laue Mitte, das Bürgerliche, zubejahen. Einzig der Humor, die herrliche Erfindung der in ihrer Berufung zum GrößtenGehemmten, der beinahe Tragischen, der höchstbegabten Unglücklichen, einzig derHumor (vielleicht die eigenste und genialste Leistung des Menschentums) vollbringt diesUnmögliche, überzieht und vereinigt alle Bezirke des Menschenwesens mit denStrahlungen seiner Prismen. In der Welt zu leben, als sei es nicht die Welt, das Gesetz zuachten und doch über ihm zu stehen, zu besitzen, «als besäße man nicht», zu verzichten,als sei es kein Verzicht — alle diese beliebten und oft formulierten Forderungen einer 46

hohen Lebensweisheit ist einzig der Humor zu verwirklichen fähig.

Und falls es dem Steppenwolf, dem es an Gaben und Ansätzen dazu nicht fehlt, in derschwülen Wirrnis seiner Hölle noch gelingen sollte, diesen Zaubertrank auszukochen,auszuschwitzen, dann wäre er gerettet. Noch fehlt ihm dazu vieles. Die Möglichkeit aber,die Hoffnung ist vorhanden. Wer ihn liebt, wer an ihm Teil nimmt, mag ihm diese Rettungwünschen. Er würde dadurch zwar für immer im Bürgerlichen verharren bleiben, aberseine Leiden wären erträglich, würden fruchtbar. Sein Verhältnis zur Bürgerwelt, in Liebeund Haß, würde die Sentimentalität verlieren, und sein Gebundensein an diese Weltwürde aufhören, ihn beständig als Schande zu quälen.

Um dies zu erreichen, oder um vielleicht am Ende doch noch den Sprung ins Weltallwagen zu können, müßte solch ein Steppenwolf einmal sich selbst gegenübergestelltwerden, müßte tief in das Chaos der eigenen Seele blicken und zum vollen Bewußtseinseiner seihst kommen. Seine fragwürdige Existenz würde sich ihm alsdann in ihrerganzen Unabänderlichkeit enthüllen, und es würde ihm fernerhin unmöglich werden, sichimmer wieder aus der Hölle seiner Triebe in sentimentalphilosophische Tröstungen undaus diesen wieder in den blinden Rausch seines Wolftums hinüberzuflüchten. Menschund Wolf würden genötigt sein, einander ohne fälschende Gefühlsmasken zu erkennen,einander nackt in die Augen zu sehen. Dann würden sie entweder explodieren und fürimmer auseinandergehen, so daß es keinen Steppenwolf mehr gäbe, oder sie würdenunter dem aufgehenden Licht des Humors eine Vernunftehe schließen.

Möglich, daß Harry eines Tages vor diese letzte Möglichkeit geführt wird. Möglich, daßer eines Tages sich erkennen lernt, sei es, daß er einen unsrer kleinen Spiegel in dieHand bekomme, sei es, daß er den Unsterblichen begegne oder vielleicht in einemunsrer magischen Theater dasjenige finde, wessen er zur Befreiung seiner verwahrlostenSeele bedarf. Tausend solche Möglichkeiten warten auf ihn, sein Schicksal zieht sieunwiderstehlich an, alle diese Außenseiter des Bürgertums leben in der Atmosphäredieser magischen Möglichkeiten. Ein Nichts genügt, und der Blitz schlägt ein.

Und dies alles ist dem Steppenwolf, auch wenn er niemals diesen Abriß seiner innernBiographie zu Gesicht bekommt, sehr wohl bekannt. Er ahnt seine Stellung imWeltgebäude, er ahnt und kennt die Unsterblichen, er ahnt und fürchtet die Möglichkeiteiner Selbstbegegnung, er weiß vom Vorhandsein jenes Spiegels, in den zu blicken er sobitter nötig hätte, in den zu blicken er sich so tödlich fürchtet.

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Zum Schluß unsrer Studie bleibt noch eine letzte Fiktion, eine grundsätzlicheTäuschung aufzulösen. Alle «Erklärungen», alle Psychologie, alle Versuche desVerstehens bedürfen ja der Hilfsmittel, der Theorien, der Mythologien, der Lügen; und einanständiger Autor sollte es nicht unterlassen, am Schluß einer Darstellung diese Lügennach Möglichkeit aufzulösen. Wenn ich sage «.Oben» oder «Unten», so ist das )aschon eine Behauptung, welche Erklärung fordert, denn ein Oben undUnten gibt es nur im Denken, nur in der Abstraktion. Die Welt selbstkennt kein Oben noch Unten.

So ist denn auch, um es kurz zu sagen, der «Steppenwolf» eineFiktion. Wenn Harry sich selbst als Wolfsmenschen empfindet und auszwei feindlichen und gegensätzlichen Wesen zu bestehen meint, so istdas lediglich eine vereinfachende Mythologie. Harry ist gar keinWolfsmensch, und wenn wir seine, von ihm selbst erfundene undgeglaubte Lüge scheinbar unbesehen mit übernahmen und ihntatsächlich als Doppelwesen, als Steppenwolf zu betrachten und zudeuten suchten, so machten wir uns in der Hoffnung auf leichteresVerstandenwerden eine Täuschung zunutze, deren Richtigstellung jetztversucht werden soll.

Die Zweiteilung in Wolf und Mensch, in Trieb und Geist, durch welcheHarry sich sein Schicksal verständlicher zu machen sucht, ist eine sehrgrobe Vereinfachung, eine Vergewaltigung des Wirklichen zugunsteneiner plausiblen, aber irrigen Erklärung der Widersprüche, welche dieserMensch in sich vorfindet und die ihm die Quelle seiner nicht geringenLeiden zu sein scheinen. Harry findet in sich einen «Menschen», dasheißt eine Welt von Gedanken, Gefühlen, von Kultur, von gezähmter undsublimierter Natur, und er findet daneben in sich auch noch einen

«Wolf», das heißt eine dunkle Welt von Trieben, von Wildheit,Grausamkeit, von nicht sublimierter, roher Natur. Trotz dieser scheinbarso klaren Einteilung seines Wesens in zwei Sphären, die einanderfeindlich sind, hat er es aber je und je erlebt, daß Wolf und Mensch sichfür eine Weile, für einen glücklichen Augenblick miteinander vertrugen.

Wollte Harry in jedem einzelnen Moment seines Lebens, in jeder seiner 48

Taten, in jeder seiner Empfindungen festzustellen versuchen, welchenAnteil daran der Mensch, welchen Anteil der Wolf habe, so käme ersofort in die Klemme, und seine ganze hübsche Wolftheorie ginge in dieBruche. Denn kein einziger Mensch, auch nicht der primitive Neger, auchnicht der Idiot, ist so angenehm einfach, daß sein Wesen sich als dieSumme von nur zweien oder dreien Hauptelementen erklären ließe; undgar einen so sehr differenzierten Menschen wie Harry mit der naivenEinteilung in Wolf und Mensch zu erklären, ist ein hoffnungslos kindlicherVersuch. Harry besteht nicht aus zwei Wesen, sondern aus hundert, auslausenden. Sein Leben schwingt (wie jedes Menschen Leben) nicht bloßzwischen zwei Polen, etwa dem Trieb und dem Geist, oder dem Heiligenund dem Wüstling, sondern es schwingt zwischen tausenden, zwischenunzählbaren Polpaaren.

Daß ein so unterrichteter und kluger Mensch wie Harry sich für einen

«Steppenwolf» halten kann, daß er das reiche und komplizierte Gebildeseines Lebens in einer so schlichten, so brutalen, so primitiven Formelglaubt unterbringen zu können, darf uns nicht in Verwunderung setzen.

Der Mensch ist des Denkens nicht in hohem Maße fähig, und auch nochder geistigste und gebildetste Mensch sieht die Welt und sich selbstbeständig durch die Brille sehr naiver, vereinfachender und umlügenderFormeln an — am meisten aber sich selbst! Denn es ist ein, wie esscheint, eingeborenes und völlig zwanghaft wirkendes Bedürfnis allerMenschen, daß jeder sein Ich als eine Einheit sich vorstelle. Mag dieserWahn noch so oft, noch so schwer erschüttert werden, er heilt stetswieder zusammen. Der Richter, der dem Mörder gegenübersitzt und insein Auge sieht und einen Augenblick lang den Mörder mit seinereigenen (des Richters) Stimme reden hört und alle seine Regungen,Fähigkeiten, Möglichkeiten auch in seinem eigenen Innern vorfindet, er istschon im nächsten Augenblick wieder Eins, ist Richter, schnellt in dieSchale seines eingebildeten Ichs zurück, tut seine Pflicht und verurteiltden Mörder zum Tode. Und wenn in besonders begabten und zartorganisierten Menschenseelen die Ahnung ihrer Vielspältigkeit aufdämmert, wenn sie, wie 49

jedes Genie, den Wahn der Persönlichkeitseinheit durchbrechen und sich als mehrteilig,als ein Bündel aus vielen Ichs empfinden, so brauchen sie das nur zu äußern, und alsbaldsperrt die Majorität sie ein, ruft die Wissenschaft zu Hilfe, konstatiert Schizophrenie undbeschützt die Menschheit davor, aus dem Munde dieser Unglücklichen einen Ruf derWahrheit vernehmen zu müssen. Nun, wozu hier Worte verlieren, wozu Dingeaussprechen, welche zu wissen sich für jeden Denkenden von selbst versteht, welche zuäußern jedoch nicht Sitte ist? — Wenn nun also ein Mensch schon dazu vorschreitet, dieeingebildete Einheit des Ichs zur Zweiheit auszudehnen, so ist er schon beinahe einGenie, jedenfalls aber eine seltene und interessante Ausnahme. In Wirklichkeit aber istkein Ich, auch nicht das naivste, eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, einkleiner Sternhimmel, ein Chaos von Formen, von Stufen und Zuständen, von Erbschaftenund Möglichkeiten. Daß jeder einzelne dies Chaos für eine Einheit anzusehen bestrebt istund von seinem Ich redet, als sei dies eine einfache, fest geformte, klar umrisseneErscheinung: diese, jedem Menschen (auch dem höchsten) geläufige Täuschung scheinteine Notwendigkeit zu sein, eine Forderung des Lebens wie Atemholen und Essen.

Die Täuschung beruht auf einer einfachen Übertragung. Als Körper ist jeder Menscheins, als Seele nie. Auch in der Dichtung, selbst in der raffiniertesten, wirdherkömmlicherweise stets mit scheinbar ganzen, scheinbar einheitlichen Personenoperiert. An der bisherigen Dichtung schätzen die Fachleute, die Kenner am höchstendas Drama, und mit Recht, denn es bietet (oder böte) die größte Möglichkeit zurDarstellung des Ichs als einer Vielheit - wenn dem nicht der grobe Augenscheinwiderspräche, der uns jede einzelne Person eines Dramas, da sie in einem unweigerlicheinmaligen, einheitlichen, abgeschlossenen Körper steckt, als Einheit vortäuscht.

Am höchsten schätzt denn auch die naive Ästhetik das sogenannteCharakterdrama, in dem jede Figur recht kenntlich und abgesondert alsEinheit auftritt. Nur von ferne erst und allmählich dämmert die Ahnung ineinzelnen, daß das vielleicht alles eine billige Oberflächenästhetik ist, daßwir irren, wenn wir auf unsre großen Dramatiker die herrlichen, uns abernicht eingeborenen, sondern bloß aufgeschwatzten Schönheitsbegriffeder Antike anwenden, welche, überall vom sichtbaren Leibe ausgehend,recht eigentlich die Fiktion vom Ich, von der Person, erfunden hat. In denDichtungen des alten Indien ist dieser Begriff ganz unbekannt, die Helden 50

der indischen Epen sind nicht Personen, sondern Personenknäuel,Inkarnationsreihen. Und in unsrer modernen Welt gibt es Dichtungen, indenen hinter dem Schleier des Personen und Charakterspiels, dem Autorwohl kaum ganz bewußt, eine Seelenvielfalt darzustellen versucht wird.

Wer dies erkennen will, der muß sich entschließen, einmal die Figureneiner solchen Dichtung nicht als Einzelwesen anzusehen, sondern alsTeile, als Seiten, als verschiedene Aspekte einer höhern Einheit(meinetwegen der Dichterseele). Wer etwa den Faust auf diese Artbetrachtet, für den wird aus Faust, Mephisto, Wagner und allen änderneine Einheit, eine Überperson, und erst in dieser höhern Einheit, nicht inden Einzelfiguren, ist etwas vom wahren Wesen der Seele angedeutet.

Wenn Faust den unter den Schullehrern berühmten, vom Philister mitSchauer bewunderten Spruch sagt: «Zwei Seelen wohnen, ach, in meinerBrust!» dann vergißt er den Mephisto und eine ganze Menge andrerSeelen, die er ebenfalls in seiner Brust hat. Auch unser Steppenwolfglaubt ja, zwei Seelen (Wolf und Mensch) in seiner Brust zu tragen undfindet seine Brust dadurch schon arg beengt. Die Brust, der Leib, ist ebenimmer eines, der darin wohnenden Seelen aber sind nicht zwei, oder fünf,sondern unzählige; der Mensch ist eine aus hundert Schalen bestehendeZwiebel, ein aus vielen Fäden bestehendes Gewebe. Erkannt und genau gewußt habendies die alten Asiaten, und im buddhistischen Yoga ist eine genaue Technik dafürerfunden, den Wahn der Persönlichkeit zu entlarven. Lustig und vielfältig ist das Spiel derMenschheit: der Wahn, zu dessen Entlarvung Indien tausend fahre lang sich so sehrangestrengt hat, ist derselbe, zu dessen Stützung und Stärkung der Okzident sich ebensoviele Muhe gegeben bat.

Betrachten wir von diesem Standpunkt aus den Steppenwolf, so wird uns klar, warumer so sehr unter seiner lächerlichen Zweiheit leidet. Er glaubt, wie Faust, daß zwei Seelenfür eine einzige Brust schon zu viel seien und die Brust zerreißen müßten. Sie sind aberim Gegenteil viel zu wenig, und Harry vergewaltigt seine arme Seele furchtbar, wenn ersie in einem so primitiven Bilde zu begreifen sucht. Harry verfährt, obwohl er einhochgebildeter Mensch ist, etwa wie ein Wilder, der nicht über zwei hinaus zählen kann.

Er nennt ein Stück von sich Mensch, ein andres Wolf, und damit glaubt er schon am Ende 51

zu. sein und sich erschöpft zu haben. In den «Menschen» packt er alles Geistige,Sublimierte oder doch Kultivierte hinein, das er in sich vorfindet, und in den Wolf allesTriebhafte, Wilde und Chaotische. Aber so simpel wie in unsern Gedanken, so grob wie inunsrer armen Idiotensprache geht es im Leben nicht zu, und Harry belügt sich doppelt,wenn er diese negerhafle Wolfsmethode anwendet. Harry rechnet, so fürchten wir, ganzeProvinzen seiner Seele schon zum «Menschen», die noch lange nicht Mensch sind, undrechnet Teile seines Wesens zum Wolfe, die längst über den Wolf hinaus sind.

Wie alle Menschen, so glaubt auch Harry recht wohl zu wissen, was der Mensch sei,und weiß es doch durchaus nicht, obschon er es, in Träumen und anderen schwerkontrollierbaren Bewußtseinszuständen, nicht selten ahnt, Möchte er diese Ahnungennicht vergessen, möchte er sie sich doch möglichst zu eigen machen! Der Mensch ist jakeine feste und dauernde Gestaltung (dies war, trotz entgegengesetzter Ahnungen ihrerWeisen, das Ideal der Antike), er ist vielmehr ein Versuch und Übergang, er ist nichtsandres als die schmale, gefährliche Brücke zwischen Natur und Geist. Nach dem Geistehin, zu Gott hin treibt ihn die innerste Bestimmung—nach der Natur, zur Mutter zurückzieht ihn die innigste Sehnsucht: zwischen beiden Mächten schwankt angstvoll bebendsein Leben. Was die Menschen jeweils unter dem Begriff «Mensch» verstehen, ist stetsnur eine vergängliche bürgerliche Übereinkunft. Gewisse roheste Triebe werden vondieser Konvention abgelehnt und verpönt, ein Stück Bewußtsein, Gesittung undEntbestialisierung wird verlangt, ein klein wenig Geist ist nicht nur erlaubt, sondern wirdsogar gefordert. Der «Mensch» dieser Konvention ist, wie jedes Bürgerideal, einKompromiß, ein schüchterner und naivschlauer Versuch, sowohl die böse Urmutter Naturwie den lästigen Urvater Geist um ihre heftigen Forderungen zu prellen und in lauer Mittezwischen ihnen zu wohnen. Darum erlaubt und duldet der Bürger das, was er

«Persönlichkeit» nennt, liefert die Persönlichkeit aber gleichzeitig jenem Moloch «Staat»

aus und spielt beständig die beiden gegeneinander aus. Darum verbrennt der Bürgerheute den als Ketzer, hängt den als Verbrecher, dem er übermorgen Denkmäler setzt.

Daß der «Mensch» nicht schon Erschaffenes sei, sondern eine Forderung des Geistes,eine ferne, ebenso ersehnte wie gefürchtete Möglichkeit, und daß der Weg dahin immernur ein kleines Stückchen weit und unter furchtbaren Quälen und Ekstasen zurückgelegtwird, eben von jenen seltenen Einzelnen, denen heute das Schafott, morgen dasEhrendenkmal bereitet wird — dies Ahnen lebt auch im Steppenwolf. Was er aber, im 52

Gegensatz zu seinem «Wolf», in sich «Mensch» nennt, das ist zum großen Teil nichtsandres als eben jener mediokre «Mensch» der Bürgerkonvention. Den Wegzum wahren Menschen, den Weg zu den Unsterblichen kann Harry zwarrecht wohl ahnen, geht ihn auch hie und da ein winziges, zögerndesStückchen weit und bezahlt das mit schweren Leiden, mit schmerzlicherVereinsamung. Aber jene höchste Forderung, jene echte, vom Geistgesuchte Menschwerdung zu bejahen und anzustreben, den einzigenschmalen Weg zur Unsterblichkeit zu gehen, davor scheut er sich doch intiefster Seele. Er fühlt recht wohl:

das führt zu noch größeren Leiden, zur Achtung, zum letzten Verzicht,vielleicht zum Schafott, — und wenn auch am Ende dieses WegesUnsterblichkeit lockt, so ist er doch nicht gewillt, all diese Leiden zuleiden, alle diese Tode zu sterben. Obwohl ihm vom Ziel derMenschwerdung mehr bewußt ist als den Bürgern, macht er doch dieAugen zu und will nicht wissen, daß das verzweifelte Hängen am Ich, dasverzweifelte Nichtsterbenwollen der sicherste Weg zum ewigen Tode ist,während Sterbenkönnen, Hüllenabstreifen, ewige Hingabe des Ichs andie Wandlung zur Unsterblichkeit führt. Wenn er seine Lieblinge unterden Unsterblichen anbetet, etwa Mozart, so sieht er ihn letzten Endesdoch immer noch mit Bürgeraugen an und ist geneigt, MozartsVollendung recht wie ein Schullehrer bloß aus seiner hohenSpezialistenbegabung zu erklären, statt aus der Größe seiner Hingabeund Leidensbereitschaft, seiner Gleichgültigkeit gegen die Ideale derBürger und dem Erdulden jener äußersten Vereinsamung, die um denLeidenden, den Menschwerdenden alle Bürgeratmosphäre zu eisigemWeltäther verdünnt, jener Vereinsamung im Garten Gethsemane.

Immerhin hat unser Steppenwolf wenigstens die faustische Zweiheit insich entdeckt, er hat herausgefunden, daß der Einheit seines Leibes nichteine Seeleneinheit innewohnt, sondern daß er bestenfalls nur auf demWege, in langer Pilgerschaft zum Ideal dieser Harmonie begriffen ist. Ermöchte entweder den Wolf in sich überwinden und ganz Mensch werdenoder aber auf den Menschen verzichten und wenigstens als Wolf ein 53

einheitliches, unzerrissenes Leben leben. Vermutlich hat er nie einenwirklichen Wolf genau beobachtet — er hätte dann vielleicht gesehen,daß auch die Tiere keine einheitliche Seele haben, daß auch bei ihnenhinter der schönen straffen Form des Leibes eine Vielfalt von Strebungenund Zuständen wohnt, daß auch der Wolf Abgründe in sich hat, daß auchder Wolf leidet. Nein, mit dem «Zurück zur Natur!» geht der Mensch stetseinen leidvollen und hoffnungslosen Irrweg. Harry kann niemals wiederganz zum Wolfe werden, und würde er es, so sähe er, daß auch der Wolfwieder nichts Einfaches und Anfängliches ist, sondern schon etwas sehrVielfaches und Kompliziertes. Auch der Wolf hat zwei und mehr als zweiSeelen in seiner Wolfsbrust, und wer ein Wolf zu sein begehrt, begehtdieselbe Vergeßlichkeit wie der Mann mit jenem Liede: «O selig, ein Kind noch zu sein!» Der sympathische, aber sentimentale Mann, der das Lied vom seligen Kinde singt, möchte ebenfalls zur Natur, zur Unschuld, zu den Anfängen zurück und hat ganz vergessen, daß die Kinder keineswegs selig sind, daß sie vieler Konflikte, daß sie vieler Zwiespältigkeiten, daß sie aller Leiden fähig sind.

Zurück führt überhaupt kein Weg, nicht zum Wolf, noch zum Kinde. AmAnfang der Dinge ist nicht Unschuld und Einfalt; alles Erschaffene, auchdas scheinbar Einfachste, ist schon schuldig, ist schon vielspältig, ist inden schmutzigen Strom des Werdens geworfen und kann nie mehr, niemehr stromaufwärts schwimmen. Der Weg in die Unschuld, insUnerschaffene, zu Gott führt nicht zurück, sondern vorwärts, nicht zumWolf oder Kind, sondern immer weiter in die Schuld, immer tiefer in dieMenschwerdung hinein. Auch mit dem Selbstmord wird dir, armerSteppenwolf, nicht ernstlich gedient sein, du wirst schon den längeren,den mühevolleren und schwereren Weg der Menschwerdung gehen, duwirst deine Zweiheit noch oft vervielfachen, deine Kompliziertheit noch

•viel weiter komplizieren müssen. Statt deine Welt zu verengern, deineSeele zu vereinfachen, wirst du. immer mehr Welt, wirst schließlich dieganze Welt in deine schmerzlich erweiterte Seele aufnehmen müssen,um vielleicht einmal zum Ende, zur Ruhe zu kommen. Diesen Weg ist 54

Buddha, ist jeder große Mensch gegangen, der eine wissend, der andreunbewußt, soweit ihm eben das Wagnis glückte. Jede Geburt bedeutetTrennung vom All, bedeutet Umgrenzung, Absonderung von Gott,leidvolle Neuwerdung. Rückkehr ins All, Aufhebung der leidvollenIndividuation, Gottwerden bedeutet: seine Seele so erweitert haben, daßsie das All wieder zu umfassen vermag.

Es ist hier nicht die Rede vom Menschen, den die Schule, dieNationalökonomie, die Statistik kennt, nicht vom Menschen, wie er zuMillionen auf den Straßen herumläuft und von dem nichts andres zuhalten ist als vom Sand am Meer oder von den Spritzern einer Brandung:es kommt auf ein paar Millionen mehr oder weniger nicht an, sie sindMaterial, sonst nichts. Nein, wir sprechen hier vom Menschen im hohenSinn, vom Ziel des langen Weges der Menschwerdung, vom königlichenMenschen, von den Unsterblichen. Das Genie ist nicht so selten, wie esuns oft scheinen will, ist freilich auch nicht so häufig, wie die Literatur undWeltgeschichten oder gar die Zeitungen meinen. Der Steppenwolf Harry,so scheint es uns, wäre Genie genug, um das Wagnis derMenschwerdung zu versuchen, statt sich bei jeder Schwierigkeitwehleidig au) seinen dummen Steppenwolf hinauszureden.

Daß Menschen von solchen Möglichkeiten sich mit Steppenwölfen und

«zwei Seelen, ach!» behelfen, ist ebenso verwunderlich und betrübend,wie daß sie so oft jene feige Liebe zum Bürgerlichen haben. Ein Mensch,der fähig ist, Buddha zu begreifen, ein Mensch, der eine Ahnung hat vonden Himmeln und Abgründen des Menschentums, sollte nicht in einerWelt leben, in welcher common sense, Demokratie und bürgerlicheBildung herrschen. Nur aus Feigheit lebt er in ihr, und wenn seineDimensionen ihn bedrängen, wenn die enge Bürgerstube ihm zu engwird, dann schiebt er es dem «Wolf» in die Schuhe und will nicht wissen,daß der Wolf zuzeiten sein bestes Teil ist. Er nennt alles Wilde in sichWolf und empfindet es als böse, als gefährlich, als Bürgerschreck —

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