Der betretene Herr erhob zwar noch einige Einwände, kam auch wieder darauf zu sprechen, wie schön und anregend unsre einstigen Unterredungen gewesen seien, ja, daß meine Vermutungen über Mithras und Krishna ihm damals tiefen Eindruck gemacht hätten und daß er gehofft habe, auch heute wieder... und so weiter. Ich dankte ihm und sagte, daß dies sehr freundliche Worte seien, daß aber leider mein Interesse für Krischna ebenso wie meine Lust zu wissenschaftlichen Gesprächen ganz und gar geschwunden sei, daß ich ihn heute mehrmals angelogen habe, so sei ich zum Beispiel nicht seit einigen Tagen hier in der Stadt, sondern seit vielen Monaten, lebe aber für mich allein und sei nicht mehr für den Verkehr in besseren Häusern geeignet, denn erstens sei ich stets sehr 71
schlechter Laune und mit Gicht behaftet und zweitens meistens betrunken.
Ferner, um reinen Tisch zu schaffen und wenigstens nicht als Lügner wegzugehen, müsse ich dem verehrten Herrn erklären, daß er mich heute recht sehr beleidigt habe. Er habe sich jene dumme, stiernackige, eines beschäftigungslosen Offiziers, nicht aber eines Gelehrten würdige Stellung eines reaktionären Blattes zu Hallers Meinungen zu eigen gemacht. Dieser «Bursche»
und vaterlandslose Geselle Haller aber sei ich selber, und es stünde besser um unser Land und um die Welt, wenn wenigstens die paar denkfähigen Menschen sich zu Vernunft und Friedensliebe bekennten, statt blind und besessen auf einen neuen Krieg loszusteuern. So, und damit Gott befohlen.
Und so erhob ich mich, nahm Abschied von Goethe und dem Professor, riß draußen meine Sachen vom Kleiderhaken und lief davon. Laut heulte in meiner Seele der schadenfrohe Wolf, ein gewaltiges Theater fand zwischen den beiden Harrys statt. Denn, das war mir sofort klar, diese unerquickliche Abendstunde hatte für mich viel mehr Bedeutung als für den indignierten Professor; für ihn war sie eine Enttäuschung und ein kleines Ärgernis, für mich aber war sie ein letztes Mißlingen und Davonlaufen, war mein Abschied von der bürgerlichen, der moralischen, der gelehrten Welt, war ein vollkommener Sieg des Steppenwolfes. Und e< war ein Abschiednehmen als Flüchtling und Besiegter, eine Bankrotterklärung vor mir selber, ein Abschied ohne Trost, ohne Überlegenheit, ohne Humor. Ich hatte von meiner ehemaligen Welt und Heimat, von Bürgerlichkeit, Sitte, Gelehrsamkeit nicht anders Abschied genommen als der Mann mit dem Magengeschwür vom Schweinebraten. Wütend lief ich unter den Laternen hin, wütend und todestraurig. Was war das für ein trostloser, beschämender, böser Tag gewesen, vom Morgen bis zum Abend, vom Friedhof bis zur Szene beim Professor! Wozu? Warum? Hatte es einen Sinn, noch mehr solche Tage auf sich zu laden, noch mehr solche Suppen auszufressen? Nein!
Und so würde ich denn heut nacht der Komödie ein Ende machen. Geh heim, Harry, und schneide dir die Kehle durch! Lang genug hast du damit gewartet.
Hin und her lief ich durch die Straßen, vom Elend geritten. Natürlich war es dumm von mir gewesen, den guten Leuten ihren Salonschmuck zu bespucken, es war dumm und unartig, aber ich konnte und konnte nun einmal nicht anders, 72
ich konnte dies zahme, verlogene, artige Leben nicht mehr ertragen. Und da ich, wie es schien, auch die Einsamkeit nicht mehr ertragen konnte, da auch meine eigene Gesellschaft mir so unsäglich verhaßt und zum Ekel geworden war, da ich im luftleeren Raum meiner Hölle erstickend um mich schlug, was gab es da noch für einen Ausweg? Es gab keinen. 0 Vater und Mutter, o ferne heilige Feuer meiner Jugend, o ihr tausend Freuden, Arbeiten und Ziele meines Lebens!
Nichts von allem war mir geblieben, nicht einmal Reue, nur Ekel und Schmerz.
Nie, so schien mir, hatte das bloße Leben müssen so weh getan wie in dieser Stunde.
In einer trostlosen Vorstadtkneipe ruhte ich einen Augenblick aus, trank Wasser und Kognak, lief wieder weiter, vom Teufel gejagt, die steilen krummen Gassen der Altstadt hinauf und hinab, durch die Alleen, über den Bahnhofplatz.
Fortreisen! dachte ich, ging in den Bahnhof, starrte auf die Fahrpläne an den Wänden, trank etwas Wein, versuchte, mich zu besinnen. Immer näher, immer deutlicher begann ich das Gespenst zu sehen, vor dem ich mich fürchtete. Es war die Heimkehr, die Rückkehr in meine Stube, das Stillhaltenmüssen vor der Verzweiflung! Dem entging ich nicht, auch wenn ich noch viele Stunden herumlief, nicht der Rückkehr zu meiner Tür, zum Tisch mit den Büchern, zum Diwan mit dem Bild meiner Geliebten darüber, nicht dem Augenblick, da ich das Rasiermesser abziehen und mir die Kehle durchschneiden mußte. Immer deutlicher tat dies Bild sich vor mir auf, und immer deutlicher, mit rasend klopfendem Herzen, fühlte ich die Angst aller Ängste: die Todesfurcht! Ja, ich hatte eine grauenhafte Furcht vor dem Tode. Obwohl ich keinen ändern Ausweg sah, obwohl Ekel, Leid und Verzweiflung rings um mich getürmt standen, obwohl nichts mehr mich zu locken, mir Freude und Hoffnung zu machen imstande war, graute mir doch unaussprechlich vor der Hinrichtung, vor dem letzten Augenblick, vor dem kalten klaffenden Schnitt ins eigene Fleisch!
Ich sah keinen Weg, dem Gefürchteten zu entrinnen. Würde im Kampf zwischen Verzweiflung und Feigheit heute auch vielleicht die Feigheit siegen, morgen und jeden Tag würde von neuem die Verzweiflung vor mir stehen, noch erhöht durch die Selbstverachtung. Ich würde so lange das Messer zur Hand nehmen und wieder wegwerfen, bis es endlich doch einmal getan war. Dann 73
lieber heute noch! Vernünftig sprach ich mir selber zu, wie einem geängstigten Kind, aber das Kind hörte nicht, es lief davon, es wollte leben. Zuckend riß es mich weiter durch die Stadt, in weiten Bogen umkreiste ich meine Wohnung, stets die Heimkehr im Sinn, stets sie verzögernd. Da und dort blieb ich in einer Kneipe hängen, einen Becher lang, zwei Becher lang, dann jagte es mich weiter, im weiten Kreise um das Ziel, um das Rasiermesser, um den Tod herum.
Todmüde saß ich zuweilen auf einer Bank, auf einem Brunnenrand, auf einem Prellstein, hörte mein Herz klopfen, wischte mir den Schweiß von der Stirn, lief wieder weiter, voll tödlicher Angst, voll flackernder Sehnsucht nach Leben.
So zog es mich, spät in der Nacht, in einer entlegenen und mir wenig bekannten Vorstadt, in ein Wirtshaus hinein, hinter dessen Fenstern heftige Tanzmusik erscholl. Überm Tor las ich im Hineingehen ein altes Schild: Zum schwarzen Adler. Drinnen war Freinacht, lautes Menschengetümmel, Rauch, Weindunst und Geschrei, im hintern Saale wurde getanzt, dort wütete die Tanzmusik. Ich blieb im vordern Räume, wo lauter einfache, zum Teil ärmlich gekleidete Leute sich aufhielten, während hinten im Ballsaal auch elegante Erscheinungen zu erspähen waren. Vom Gedränge durch den Raum gestoßen, ward ich neben dem Büfett an einen Tisch gedrängt, ein hübsches bleiches Mädchen saß auf der Wandbank, in einem dünnen, tief ausgeschnittenen Ballkleidchen, eine verwelkte Blume im Haar. Das Mädchen blickte mich, als es mich kommen sah, aufmerksam und freundlich an, lächelnd rückte es ein wenig beiseite und machte mir Platz. «Darf ich?» fragte ich und setzte mich neben sie.
«Gewiß, du darfst», sagte sie, «wer bist du denn?» «Danke», sagte ich, «ich kann unmöglich nach Hause gehen, ich kann nicht, ich kann nicht, ich will hie r bleiben, bei Ihnen, wenn Sie es erlauben. Nein, ich kann nicht heimgehen.»
Sie nickte, als verstünde sie mich, und indem sie nickte, betrachtete ich die Locke, die von ihrer Stirn am Ohr vorbeifiel, und ich sah, daß die welke Blume eine Kamelie war. Von drüben schmetterte die Musik, am Büfett riefen die Kellnerinnen hastig ihre Bestellungen aus.
«Bleib nur hier», sagte sie mit einer Stimme, die mir wohl tat. «Warum kannst du denn nicht heimgehen?»
«Ich kann nicht. Zu Hause wartet etwas auf mich — nein, ich kann nicht, es ist 74
zu schrecklich.»
«Dann laß es warten und bleib da. Komm, wische dir erst die Brille ab, du kannst ja gar nichts sehen. So, gib dein Taschentuch. Was wollen wir denn trinken? Burgunder?»
Sie wischte mir meine Brille ab; nun sah ich sie erst deutlich, das bleiche feste Gesicht mit dem blutrot gemalten Mund, mit den hellen grauen Augen, mit der glatten, kühlen Stirn, mit der kurzen straffen Locke vorm Ohr. Gütig und ein klein wenig spöttisch nahm sie sich meiner an, bestellte Wein, stieß mit mir an und sah dabei auf meine Schuhe hinunter.
«Mein Gott, woher kommst du denn? Du siehst aus, wie wenn du zu Fuß von Paris gekommen wärst. So kommt man doch nicht an einen Ball.»
Ich sagte ja und nein, lachte ein wenig, ließ sie reden. Sie gefiel mir sehr, und ich war darüber verwundert, denn solche junge Mädchen hatte ich bisher gemieden und eher mit Mißtrauen betrachtet. Und sie war genau so mit mir, wie es in diesem Augenblick für mich gut war — oh, und so ist sie auch seither zu jeder Stunde mit mir gewesen. Sie behandelte mich so schonend, wie ich es nötig hatte, und so spöttisch, wie ich es nötig hatte. Sie bestellte ein belegtes Brot und befahl mir, es zu essen. Sie schenkte mir ein und hieß mich einen Schluck trinken, aber nicht zu rasch. Dann lobte sie meine Folgsamkeit.
«Du bist brav», meinte sie ermunternd, «du machst es einem nicht schwer.
Wollen wir wetten, daß es lange her ist, seit du zum letztenmal jemandem hast gehorchen müssen?»
«Ja, Sie haben die Wette gewonnen. Woher wußten Sie denn das?»
«Keine Kunst. Gehorchen ist wie Essen und Trinken — wer es lang entbehrt hat, dem geht nichts darüber. Nicht wahr, du gehorchst mir gern?»
«Sehr gern. Sie wissen alles.»
«Du machst es einem leicht. Vielleicht, Freund, könnte ich dir auch sagen, was das ist, was daheim auf dich wartet und wovor du solche Angst hast. Aber du weißt es ja selber, wir brauchen nicht davon zu reden, gelt? Dummes Zeug!
Entweder einer hängt sich auf, nun ja, dann hängt er sich eben auf, er wird Grund dazu haben. Oder er lebt noch, und dann hat er sich bloß um das Leben zu kümmern. Nichts ist einfacher.»
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«Oh», rief ich, «wenn das so einfach wäre! Ich habe mich, bei Gott, genug um das Leben gekümmert, und es hat nichts genützt. Sich aufhängen ist vielleicht schwer, ich weiß es nicht. Aber leben ist viel, viel schwerer! Weiß Gott, wie schwer es ist!»
«Nun, du wirst sehen, daß es kinderleicht ist. Den Anfang haben wir schon gemacht, du hast deine Brille geputzt, hast gegessen, hast getrunken. Jetzt gehen wir und bürsten deine Hosen und Schuhe ein wenig, sie haben es nötig. Und dann wirst du einen Shimmy mit mir tanzen.»
«Da sehen Sie», rief ich eifrig, «daß ich doch recht hatte! Nichts tut mir mehr leid, als einen Befehl von Ihnen nicht ausführen zu können. Aber diesen kann ich nicht ausführen. Ich kann keinen Shimmy tanzen, und auch keinen Walzer und keine Polka und wie die Dinger alle heißen, ich habe nie in meinem Leben tanzen gelernt. Sehen Sie jetzt, daß doch nicht alles so einfach ist, wie Sie meinen?»
Das schöne Mädchen lächelte mit seinen blutroten Lippen und schüttelte den festen, knabenhaft frisierten Kopf. Indem ich sie ansah, wollte mir scheinen, sie gleiche der Rosa Kreisler, dem ersten Mädchen, in das ich mich einst als Knabe verliebt hatte, aber die war ja bräunlich und dunkelhaarig gewesen. Nein, ich wußte nicht, an wen dies fremde Mädchen mich erinnerte, ich wußte nur, es war etwas aus sehr früher Jugend, aus der Knabenzeit.
«Langsam», rief sie, «langsam! Du kannst also nicht tanzen? Überhaupt nicht?
Nicht einmal einen Onestep? Und dabei behauptest du, weiß Gott, welche Mühe du dir mit dem Leben gegeben habest! Da hast du geflunkert, Junge, das sollte man in deinem Alter nicht mehr tun. Ja, wie kannst du sagen, du habest dir mit dem Leben Mühe gegeben, wenn du nicht einmal tanzen willst?» «Wenn ich es doch nicht kann! Ich habe es nie gelernt.» Sie lachte.
«Aber lesen und schreiben hast du gelernt, gelt, und rechnen und wahrscheinlich auch noch Latein und Französisch und allerlei solche Sachen? Ich will wetten, du bist zehn oder zwölf Jahre in der Schule gesessen und hast womöglich auch noch studiert und hast vielleicht sogar den Doktortitel und kannst Chinesisch oder Spanisch. Oder nicht? Also. Aber das bißchen Zeit und Geld für ein paar Tanzstunden hast du nicht aufgebracht! Na!»