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aber er, der doch ein Künstler zu sein und zarte Sinne zu haben glaubt,vermag nicht zu sehen, daß außer dem Wolf, hinter dem Wolf, noch viel 55

andres in ihm lebt, daß nicht alles Wolf ist, was beißt, daß da auch nochFuchs, Drache, Tiger, Affe und Paradiesvogel wohnen. Und daß dieseganze Welt, dieser ganze Paradiesgarten von holden und schrecklichen,großen und kleinen, starken und zarten Gestaltungen erdrückt undgefangengehalten wird von dem Wolfmärchen, ebenso wie der wahreMensch in ihm vom Scheinmenschen, vom Burger, erdrückt undgefangengehalten wird.

Man stelle sich einen Garten vor, mit hunderterlei Bäumen, mittausenderlei Blumen, hunderterlei Obst, hunderterlei Kräutern. Wenn nunder Gärtner dieses Gartens keine andre botanische Unterscheidungkennt als «eßbar» und «Unkraut», dann wird er mit neun Zehnteln seinesGartens nichts anzufangen wissen, er wird die zauberhaftesten Blumenausreißen, die edelsten Bäume abhauen oder wird sie doch hassen undscheel ansehen. So macht es der Steppenwolf mit den tausend Blumenseiner Seele. Was nicht in die Rubriken «Mensch» oder «Wolf» faßt, dassieht er gar nicht. Und was zählt er nicht alles zum «Menschen»! AllesFelge, alles Affenhafte, alles Dumme und Kleinliche, wenn es nur nichtgerade wölfisch ist, zählt er zum «Menschen», ebenso wie er alles Starkeund Edle, nur weil es ihm noch nicht gelang, seiner Herr zu werden, demWölfischen zuschreibt.

Wir nehmen Abschied von Harry, wir lassen ihn seinen Weg alleinweitergehen. Wäre er schon bei den Unsterblichen, wäre er schon dort,wohin sein schwerer Weg zu zielen scheint, wie würde er diesem Hin undHer, diesem wilden, unentschlossnen Zickzack seiner Bahn verwundertzuschauen, wie würde er diesem Steppenwolf ermunternd, tadelnd,mitleidig, belustigt zulächeln!

Als ich zu Ende gelesen hatte, fiel mir ein, daß ich vor einigen Wochen einmal in der Nacht ein etwas sonderbares Gedicht aufgeschrieben hatte, das ebenfalls vom Steppenwolf handelte. Ich suchte danach im Papiergestöber meines vollgestopften Schreibtisches, fand es und las:

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Ich Steppenwolf trabe und trabe,

Die Welt liegt voll Schnee,

Vom Birkenbaum flügelt der Rabe,

Aber nirgends ein Hase, nirgends ein Reh!

In die Rehe bin ich so verliebt,

Wenn ich doch eins fände!

Ich nähm's in die Zähne, in die Hände,

Das ist das Schönste, was es gibt.

Ich wäre der Holden so von Herzen gut,

Fräße mich tief in ihre zärtlichen Keulen,

Tränke mich satt an ihrem hellroten Blut,

Um nachher die ganze Nacht einsam zu heulen.

Sogar mit einem Hasen war ich zufrieden,

Süß schmeckt sein warmes Fleisch in der Nacht—

Ach, ist denn alles von mir geschieden,

Was das Leben ein bißchen fröhlicher macht?

An meinem Schwanz ist das Haar schon grau,

Auch kann ich nicht mehr ganz deutlich sehen,

Schon vor Jahren starb meine liebe Frau.

Und nun trab ich und träume von Rehen,

Trabe und träume von Hasen,

Höre den Wind in der Winternacht blasen,

Tränke mit Schnee meine brennende Kehle,

Trage dem Teufel zu meine arme Seele.

Da hatte ich nun zwei Bildnisse von mir in Händen, das eine ein Selbstbildnis in Knittelversen, traurig und angstvoll wie ich selbst, das andre kühl und mit dem Anschein hoher Objektivität gezeichnet, von einem Außenstehenden, von außen und von oben gesehen, geschrieben von einem, der mehr und doch auch weniger wußte als ich selbst. Und diese beiden Bildnisse zusammen, mein schwermütig stammelndes Gedicht und die kluge Studie von unbekannter Hand, taten mir 57

beide weh, hatten beide recht, zeichneten beide ungeschminkt meine trostlose Existenz, zeigten beide deutlich die Unerträglichkeit und Unhaltbarkeit meines Zustandes. Dieser Steppenwolf mußte sterben, er mußte mit eigener Hand seinem verhaßten Dasein ein Ende machen — oder er mußte, geschmolzen im Todesfeuer einer erneuten Selbstschau, sich wandeln, seine Maske abreißen und eine neue Ichwerdung begehen. Ach, dieser Vorgang war mir nicht neu und unbekannt, ich kannte ihn, ich hatte ihn mehrmals schon erlebt, jedesmal in Zeiten der äußersten Verzweiflung. Jedesmal war bei diesem schwer aufwühlenden Erlebnis mein jeweiliges Ich in Scherben zerbrochen, jedesmal hatten Mächte der Tiefe es aufgerüttelt und zerstört, jedesmal war dabei ein gehegtes und besonders geliebtes Stück meines Lebens mir untreu geworden und verlorengegangen. Das eine Mal hatte ich meinen bürgerlichen Ruf samt meinem Vermögen verloren und hatte lernen müssen, auf die Achtung derer zu verzichten, die bisher vor mir den Hut gezogen hatten. Das andre Mal war über Nacht mein Familienleben zusammengebrochen; meine geisteskrank gewordene Frau hatte mich aus Haus und Behagen vertrieben, Liebe und Vertrauen hatte sich plötzlich in Haß und tödlichen Kampf verwandelt, mitleidig und verächtlich blickten die Nachbarn mir nach. Damals hatte meine Vereinsamung ihren Anfang genommen. Und wieder um Jahre, um schwere bittere Jahre später, nachdem ich mir . in strenger Einsamkeit und mühsamer Selbstzucht ein neues, asketischgeistiges Leben und Ideal gebaut und wieder eine gewisse Stille und Höhe des Lebens erreicht hatte, hingegeben an abstrakte Denkübung und an streng geregelte Meditation, da war auch diese Lebensgestaltung wieder zusammengebrochen und hatte ihren edlen hohen Sinn mit einemmal verloren; auf wilden anstrengenden Reisen riß es mich aufs neue durch die Welt, neue Leiden türmten sich und neue Schuld. Und jedesmal war dem Abreißen einer Maske, dem Zusammenbruch eines Ideals diese grausige Leere und Stille vorangegangen, diese tödliche Einschnürung, Vereinsamung und Beziehungslosigkeit, diese leere öde Hölle der Lieblosigkeit und Verzweiflung, wie ich sie auch jetzt wieder zu durchwandern hatte.

Bei jeder solchen Erschütterung meines Lebens hatte ich am Ende irgend etwas gewonnen, das war nicht zu leugnen, etwas an Freiheit, an Geist, an Tiefe, 58

aber auch an Einsamkeit, an Unverstandensein, an Erkältung. Von der bürgerlichen Seite her gesehen war mein Leben, von jeder solchen Erschütterung zur ändern, ein beständiger Abstieg, eine immer größere Entfernung vom Normalen, Erlaubten, Gesunden gewesen. Ich war im Lauf der Jahre berufslos, familienlos, heimatlos geworden, stand außerhalb aller sozialen Gruppen, allein, von niemand geliebt, von vielen beargwöhnt, in ständigem, bitterm Konflikt mit der öffentlichen Meinung und Moral, und wenn ich auch noch im bürgerlichen Rahmen lebte, war ich doch inmitten dieser Welt mit meinem ganzen Fühlen und Denken ein Fremder. Religion, Vaterland, Familie, Staat waren mir entwertet und gingen mich nichts mehr an, die Wichtigtuerei der Wissenschaft, der Zünfte, der Künste ekelte mich an; meine Anschauungen, mein Geschmack, mein ganzes Denken, mit dem ich einst als ein begabter und beliebter Mann geglänzt hatte, war jetzt verwahrlost und verwildert und den Leuten verdächtig. Mochte ich bei all meinen so schmerzlichen Wandlungen irgendetwas Unsichtbares und Unwägbares gewonnen haben — ich hatte es teuer bezahlen müssen, und von Mal zu Mal war mein Leben härter, schwieriger, einsamer, gefährdeter geworden. Wahrlich, ich hatte keinen Grund, eine Fortsetzung dieses Weges zu wünschen, der mich in immer dünnere Lüfte führte, jenem Rauche in Nietzsches Herbstlied gleich.

Ach ja, ich kannte diese Erlebnisse, diese Wandlungen, die das Schicksal seinen Sorgenkindern, seinen heikelsten Kindern bestimmt hat, allzu gut kannte ich sie. Ich kannte sie, wie ein ehrgeiziger, aber erfolgloser Jäger die Etappen einer Jagdunternehmung, wie ein alter Börsenspieler die Etappen der Spekulation, des Gewinns, des Unsicherwerdens, des Wankens, des Bankerotts kennen mag. Sollte ich all dies nun wirklich noch einmal durchleben? All diese Qual, all diese irre Not, all diese Einblicke in die Niedrigkeit und Wertlosigkeit des eigenen Ich, all diese furchtbare Angst vor dem Erliegen, all diese Todesfurcht? War es nicht klüger und einfacher, die Wiederholung so vieler Leiden zu verhüten, sich aus dem Staube zu machen? Ge wiß, es war einfacher und klüger. Mochte nun das, was in dem Steppenwolfbüchlein über die

«Selbstmörder» behauptet wurde, sich so oder anders verhalten, niemand konnte mir das Vergnügen verwehren, mir mit Hilfe von Kohlengas, Rasiermesser oder 59

Pistole die Wiederholung eines Prozesses zu ersparen, dessen bittere Schmerzlichkeit ich nun wahrlich oft und tief genug hatte auskosten müssen.

Nein, bei allen Teufeln, es gab keine Macht in der Welt, die von mir verlangen konnte, nochmals eine Selbstbegegnung mit ihren Todesschauern und nochmals eine Neugestaltung, eine neue Inkarnation durchzumachen, deren Ziel und Ende ja nicht Friede und Ruhe war, sondern nur immer neue Selbstvernichtung, immer neue Selbstgestaltung! Mochte der Selbstmord dumm, feig und schäbig, mochte er ein unrühmlicher und schmachvoller Notausgang sein — aus dieser Mühle der Leiden war jeder, auch der schmählichste Ausgang innig zu wünschen, hier gab es kein Theater des Edelmuts und Heroismus mehr, hier war ich vor die einfache Wahl gestellt zwischen einem kleinen, flüchtigen Schmerz und einem unausdenklich brennenden, endlosen Leid. Oft genug in meinem so schwierigen, so verrückten Leben war ich der edle Don Quichotte gewesen, hatte die Ehre dem Behagen und den Heroismus der Vernunft vorgezogen. Genug und Schluß damit!

Der Morgen gähnte schon durch die Scheiben, der bleierne, verdammte Morgen eines Winterregentages, als ich endlich zu Bette kam. Ins Bett nahm ich meinen Entschluß mit. Ganz zu äußerst aber, an der letzten Grenze des Bewußtseins im Augenblick des Einschlafens, blitzte sekundenschnell jene merkwürdige Stelle des Steppenwolfbüchleins vor mir auf, wo von den

«Unsterblichen» die Rede war, und damit verband sich die aufzuckende Erinnerung daran, daß ich manche Male und erst noch ganz vor kurzem mich den Unsterblichen nah genug gefühlt hatte, um in einem Takt alter Musik die ganze kühle, helle, hart lächelnde Weisheit der Unsterblichen mitzukosten. Das tauchte auf, glänzte, erlosch, und schwer •wie ein Berg legte sich der Schlaf auf meine Stirn.

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