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nicht die Schrulle eines einzelnen, sondern die Krankheit der Zeit selbst, die Neurose jener Generation, welcher Haller angehört, und von welcher keineswegs nur die schwachen und minderwertigen Individuen befallen scheinen, sondern gerade die starken, geistigsten, begabtesten.

Diese Aufzeichnungen — einerlei, wie viel oder wenig realen Erlebens ihnen zugrunde liegen mag — sind ein Versuch, die große Zeitkrankheit nicht durch Umgehen und Beschönigen zu überwinden, sondern durch den Versuch, die Krankheit selber zum Gegenstand der Darstellung zu machen. Sie bedeuten, ganz wörtlich, einen Gang durch die Hölle, einen bald angstvollen, bald mutigen Gang durch das Chaos einer verfinsterten Seelenwelt, gegangen mit dem Willen, die Hölle zu durchqueren, dem Chaos die Stirn zu bieten, das Böse bis zu Ende zu erleiden.

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Ein Wort Hallers hat mir den Schlüssel zu diesem Verständnis gegeben. Er sagte einmal zu mir, nachdem wir über sogenannte Grausamkeiten im Mittelalter gesprochen hatten: «Diese Grausamkeiten sind in Wirklichkeit keine. Ein Mensch des Mittelalters würde den ganzen Stil unseres heutigen Lebens noch ganz anders als grausam, entsetzlich und barbarisch verabscheuen! Jede Zeit, jede Kultur, jede Sitte und Tradition hat ihren Stil, hat ihre ihr zukommenden Zartheiten und Härten, Schönheiten und Grausamkeiten, hält gewisse Leiden für selbstverständlich, nimmt gewisse Übel geduldig hin. Zum wirklichen Leiden, zur Hölle wird das menschliche Leben nur da, wo zwei Zeiten, zwei Kulturen und Religionen einander überschneiden. Ein Mensch der Antike, der im Mittelalter hätte leben müssen, wäre daran jämmerlich erstickt, ebenso wie ein Wilder inmitten unsrer Zivilisation ersticken müßte. Es gibt nun Zeiten, wo eine ganze Generation so zwischen zwei Zeiten, zwischen zwei Lebensstile hineingerät, daß ihr jede Selbstverständlichkeit, jede Sitte, jede Geborgenheit und Unschuld verlorengeht. Natürlich spürt das nicht ein jeder gleich stark. Eine Natur wie Nietzsche hat das heutige Elend um mehr als eine Generation voraus erleiden müssen, — was er einsam und unverstanden auszukosten hatte, das erleiden heute Tausende.»

Dieses Wortes mußte ich beim Lesen der Aufzeichnungen oft gedenken.

Haller gehört zu denen, die zwischen zwei Zeiten hineingeraten, die aus aller Geborgenheit und Unschuld herausgefallen sind, zu denen, deren Schicksal es ist, alle Fragwürdigkeit des Menschenlebens gesteigert als persönliche Qual und Hölle zu erleben.

Darin, scheint mir, liegt der Sinn, den seine Aufzeichnungen für uns haben können, und darum entschloß ich mich, sie mitzuteilen. Im übrigen will ich sie nicht in Schutz nehmen noch über sie aburteilen, möge jeder Leser dies nach seinem Gewissen tun!

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HARRY HALLERS AUFZEICHNUNGEN

Nur für Verrückte

Der Tag war vergangen, wie eben die Tage so vergehen; ich hatte ihn herumgebracht, hatte ihn sanft umgebracht, mit meiner primitiven und schüchternen Art von Lebenskunst; ich hatte einige Stunden gearbeitet, alte Bücher gewälzt, ich hatte zwei Stunden lang Schmerzen gehabt, wie ältere Leute sie eben haben, hatte ein Pulver genommen und mich gefreut, daß die Schmerzen sich überlisten ließen, hatte in einem heißen Bad gelegen und die liebe Wärme eingesogen, hatte dreimal die Post empfangen und all die entbehrlichen Briefe und Drucksachen durchgesehen, hatte meine Atemübungen gemacht, die Gedankenübungen aber heut aus Bequemlichkeit weggelassen, war eine Stunde spazieren gewesen und hatte schöne, zarte, kostbare Federwölkchenmuster in den Himmel gezeichnet gefunden. Das war sehr hübsch, ebenso wie das Lesen in den alten Büchern, wie das Liegen im warmen Bad, aber — alles in allem — war es nicht gerade ein entzückender, nicht eben ein strahlender, ein Glücks und Freudentag gewesen, sondern eben einer von diesen Tagen, wie sie für mich nun seit langer Zeit die normalen und gewohnten sein sollten: maßvoll angenehme, durchaus erträgliche, leidliche, laue Tage eines älteren unzufriedenen Herrn, Tage ohne besondere Schmerzen, ohne besondere Sorgen, ohne eigentlichen Kummer, ohne Verzweiflung, Tage, an welchen selbst die Frage, ob es nicht an der Zeit sei, dem Beispiele Adalbert Stifters zu folgen und beim Rasieren zu verunglücken, ohne Aufregung oder Angstgefühle sachlich und ruhig erwogen wird.

Wer die anderen Tage geschmeckt hat, die bösen, die mit den Gichtanfällen oder die mit jenem schlimmen, hinter den Augäpfeln festgewurzelten, teuflisch jede Tätigkeit von Auge und Ohr aus einer Freude zur Qual verhexenden Kopfweh, oder jene Tage des Seelensterbens, jene argen Tage der inneren Leere und Verzweiflung, an denen uns, inmitten der zerstörten und von Aktiengesellschaften ausgesogenen Erde, die Menschenwelt und sogenannte Kultur in ihrem verlogenen und gemeinen blechernen Jahrmarktsglanz auf 20

Schritt und Tritt wie ein Brechmittel entgegengrinst, konzentriert und zum Gipfel der Unleidlichkeit getrieben im eigenen kranken Ich — wer jene Höllentage geschmeckt hat, der ist mit solchen Normal und Halbundhalbtagen gleich dem heutigen sehr zufrieden, dankbar sitzt er am warmen Ofen, dankbar stellt er beim Lesen des Morgenblattes fest, daß auch heute wieder kein Krieg ausgebrochen, keine neue Diktatur errichtet, keine besonders krasse Schweinerei in Politik und Wirtschaft aufgedeckt worden ist, dankbar stimmt er die Saiten seiner verrosteten Leier zu einem gemäßigten, einem leidlich frohen, einem nahezu vergnügten Dankpsalm, mit dem er seinen stillen, sanften, etwas mit Brom betäubten Zufriedenheitshalbundhalbgott langweilt, und in der laudicken Luft dieser zufriedenen Langeweile, dieser sehr dankenswerten Schmerzlosigkeit sehen die beiden, der öde nickende Halbundhalbgott und der leicht angegraute, den gedämpften Psalm singende Halbundhalbmensch, einander wie Zwillinge ähnlich.

Es ist eine schöne Sache um die Zufriedenheit, um die Schmerzlosigkeit, um diese erträglichen geduckten Tage, wo weder Schmerz noch Lust zu schreien wagt, wo alles nur flüstert und auf Zehen schleicht. Nur steht es mit mir leider so, daß ich gerade diese Zufriedenheit gar nicht gut vertrage, daß sie mir nach kurzer Dauer unausstehlich verhaßt und ekelhaft wird und ich mich verzweiflungsvoll in andre Temperaturen flüchten muß, womöglich auf dem Wege der Lustgefühle, nötigenfalls aber auch auf dem Wege der Schmerzen.

Wenn ich eine Weile ohne Lust und ohne Schmerz war und die laue fade Erträglichkeit sogenannter guter Tage geatmet habe, dann wird mir in meiner kindischen Seele so windig weh und elend, daß ich die verrostete Dankbarkeitsleier dem schläfrigen Zufriedenheitsgott ins zufriedene Gesicht schmeiße und lieber einen recht teuflischen Schmerz in mir brennen fühle als diese bekömmliche Zimmertemperatur. Es brennt alsdann in mir eine wilde Begierde nach starken Gefühlen, nach Sensationen, eine Wut auf dies abgetönte, flache, normierte und sterilisierte Leben und eine rasende Lust, irgend etwas kaputt zu schlagen, etwa ein Warenhaus oder eine Kathedrale oder mich selbst, verwegene Dummheiten zu begehen, ein paar verehrten Götzen die Perücken abzureißen, ein paar rebellische Schulbuben mit der ersehnten Fahrkarte nach 21

Hamburg auszurüsten, ein kleines Mädchen zu verführen oder einigen Vertretern der bürgerlichen Weltordnung das Gesicht ins Genick zu drehen. Denn dies haßte, verabscheute und verfluchte ich von allem doch am innigsten: diese Zufriedenheit, diese Gesundheit, Behaglichkeit, diesen gepflegten Optimismus des Bürgers, diese fette gedeihliche Zucht des Mittelmäßigen, Normalen, Durchschnittlichen.

In solcher Stimmung also beschloß ich diesen leidlichen Dutzendtag bei einbrechender Dunkelheit. Ich beschloß ihn nicht auf die für einen etwas leidenden Mann normale und bekömmliche Weise, indem ich mich von dem bereitstehenden und mit einer Wärmflasche als Köder versehenen Bett einfangen ließ, sondern indem ich unbefriedigt und angeekelt von meinem bißchen Tagewerk voll Mißmut meine Schuhe anzog, in den Mantel schlüpfte und mich bei Finsternis und Nebel in die Stadt begab, um im Gasthaus zum Stahlhelm das zu trinken, was trinkende Männer nach einer alten Konvention «ein Gläschen Wein» nennen.

So stieg ich denn die Treppen von meiner Mansarde hinab, diese schwer zu steigenden Treppen der Fremde, diese durch und durch bürgerlichen, gebürsteten, sauberen Treppen eines hochanständigen Dreifamilienmiethauses, in dessen Dach ich meine Klause habe. Ich weiß nicht, wie das zugeht, aber ich, der heimatlose Steppenwolf und einsame Hasser der kleinbürgerlichen Welt, ich wohne immerzu in richtigen Bürgerhäusern, das ist eine alte Sentimentalität von mir. Ich wohne weder in Palästen noch in Proletarierhäusern, sondern ausgerechnet stets in diesen hochanständigen, hochlangweiligen, tadellos gehaltenen Kleinbürgernestern, wo es nach etwas Terpentin und etwas Seife riecht und wo man erschrickt, wenn man einmal die Haustür laut ins Schloß hat fallen lassen oder mit schmutzigen Schuhen hereinkommt. Ich liebe diese Atmosphäre ohne Zweifel aus meinen Kinderzeiten her, und meine heimliche Sehnsucht nach so etwas wie Heimat führt mich, hoffnungslos, immer wieder diese alten dummen Wege. Nun ja, und ich habe auch den Kontrast gern, in dem mein Leben, mein einsames, liebloses und gehetztes, durch und durch unordentliches Leben, zu diesem Familien und Bürgermilieu steht. Ich habe das gern, auf der Treppe diesen Geruch von Stille, Ordnung, Sauberkeit, Anstand 22

und Zahmheit zu atmen, der trotz meinem Bürgerhaß immer etwas Rührendes für mich hat, und habe es gern, dann über die Schwelle meines Zimmers zu treten, wo das alles aufhört, wo zwischen den Bücherhaufen die Zigarrenreste liegen und die Weinflaschen stehen, wo alles unordentlich, unheimisch und verwahrlost ist und wo alles, Bücher, Manuskripte, Gedanken, gezeichnet und durchtränkt ist von der Not der Einsamen, von der Problematik des Menschseins, von der Sehnsucht nach einer neuen Sinngebung für das sinnlos gewordene Menschenleben.

Und nun kam ich an der Araukarie vorbei. Nämlich im ersten Stockwerk dieses Hauses führt die Treppe am kleinen Vorplatz einer Wohnung vorüber, die ist ohne Zweifel noch tadelloser, sauberer und gebürsteter als die andern, denn dieser kleine Vorplatz strahlt von einer übermenschlichen Gepflegtheit, er ist ein leuchtender kleiner Tempel der Ordnung. Auf einem Parkettboden, den zu betreten man sich scheut, stehen da zwei zierliche Schemel und auf jedem Schemel ein großer Pflanzentopf, im einen wächst eine Azalee, im ändern eine ziemlich stattliche Araukarie, ein gesunder, strammer Kinderbaum von größter Vollkommenheit, und noch die letzte Nadel am letzten Zweig strahlt von frischester Abgewaschenheit. Zuweilen, wenn ich mich unbeobachtet weiß, benütze ich diese Stätte als Tempel, setze mich über der Araukarie auf eine Treppenstufe, ruhe ein wenig, falte die Hände und blicke andächtig hinab in diesen kleinen Garten der Ordnung, dessen rührende Haltung und einsame Lächerlichkeit mich irgendwie in der Seele ergreift. Ich vermute hinter diesem Vorplatz, gewissermaßen im heiligen Schatten der Araukarie, eine Wohnung voll von strahlendem Mahagoni und ein Leben voll Anstand und Gesundheit, mit Frühaufstehen, Pflichterfüllung, gemäßigt heitern Familienfesten, sonntäglichem Kirchgang und frühem Schlafengehen.

Mit gespielter Munterkeit trabte ich über den feucht beschlagenen Asphalt der Gassen, tränend und umflort blickten die Laternenlichter durch die kühlfeuchte Trübe und sogen träge Spiegellichter aus dem nassen Boden. Meine vergessenen Jünglingsjahre fielen mir ein — wie habe ich damals solche finstre und trübe Abende im Spätherbst und Winter geliebt, wie gierig und berauscht sog ich damals die Stimmungen der Einsamkeit und Melancholie, wenn ich halbe 23

Nächte, in den Mantel gehüllt, bei Regen und Sturm durch die feindliche, entblätterte Natur lief, einsam auch damals schon, aber voll tiefen Genießens und voll von Versen, die ich nachher bei Kerzenlicht in meiner Kammer, auf dem Bettrand sitzend, aufschrieb! Nun, dies war vorüber, dieser Becher war ausgetrunken und wurde mir nicht mehr gefüllt. War es schade darum? Es war nicht schade darum. Es war um nichts schade, was vorüber war. Schade war es um das Jetzt und Heute, um all diese ungezählten Stunden und Tage, die ich verlor, die ich nur erlitt, die weder Geschenke noch Erschütterungen brachten.

Aber Gott sei gelobt, es gab auch Ausnahmen, es gab zuweilen, selten, auch andre Stunden, die brachten Erschütterungen, brachten Geschenke, rissen Wände ein und brachten mich Verirrten wieder zurück ans lebendige Herz der Welt.

Traurig und doch zu innerst angeregt suchte ich mich des letzten Erlebnisses dieser Art zu erinnern. Es war bei einem Konzert gewesen, eine herrliche alte Musik wurde gespielt, da war zwischen zwei Takten eines von Holzbläsern gespielten Piano mir plötzlich wieder die Tür zum Jenseits aufgegangen, ich hatte Himmel durchflogen und Gott an der Arbeit gesehen, hatte selige Schmerzen gelitten und mich gegen nichts mehr in der Welt gewehrt, mich vor nichts mehr in der Welt gefürchtet, hatte alles bejaht, hatte an alles mein Herz hingegeben. Es hatte nicht lange gedauert, vielleicht eine Viertels tunde, aber es war im Traum jener Nacht wiedergekehrt und hatte seither, durch alle die öden Tage, hin und wieder heimlich aufgeglänzt, ich sah es zuweilen für Minuten deutlich wie eine goldene göttliche Spur durch mein Leben gehen, fast immer tief im Kot und Staub verschüttet, dann wieder in goldnen Funken vorleuchtend, nie mehr verlierbar scheinend und dennoch bald wieder tief verloren. Einmal geschah es nachts, daß ich im Wachliegen plötzlich Verse sagte, Verse viel zu schön und viel zu wunderlich, als daß ich daran hätte denken dürfen, sie aufzuschreiben, die ich am Morgen nicht mehr wußte und die doch in mir verborgen lagen wie die schwere Nuß in einer alten brüchigen Schale. Ein andermal kam es beim Lesen eines Dichters, beim Nachdenken eines Gedankens von Descartes, von Pascal, ein andres Mal leuchtete es wieder auf und führte mit goldner Spur weiter in die Himmel, wenn ich bei meiner Geliebten war. Ach, es ist schwer, diese Gottesspur zu finden inmitten dieses Lebens, das wir führen, 24

inmitten dieser so sehr zufriedenen, so sehr bürgerlichen, so sehr geistlosen Zeit, im Anblick dieser Architekturen, dieser Geschäfte, dieser Politik, dieser Menschen! Wie sollte ich nicht ein Steppenwolf und ruppiger Eremit sein inmitten einer Welt, von deren Zielen ich keines teile, von deren Freuden keine zu mir spricht! Ich kann weder in einem Theater noch in einem Kino lange aushallen, kann kaum eine Zeitung lesen, selten ein modernes Buch, ich kann nicht verstehen, welche Lust und Freude es ist, die die Menschen in den überfüllten Eisenbahnen und Hotels, in den überfüllten Cafes bei schwüler aufdringlicher Musik, in den Bars und Varietes der eleganten Luxusstädte suchen, in den Weltausstellungen, auf den Korsos, in den Vorträgen für Bildungsdurstige, auf den großen Sportplätzen — ich kann all diese Freuden, die mir ja erreichbar wären und um die tausend andre sich mühen und drängen, nicht verstehen, nicht teilen. Und was hingegen mir in meinen seltnen Freudenstunden geschieht, was für mich Wonne, Erlebnis, Ekstase und Erhebung ist, das kennt und sucht und liebt die Welt höchstens in Dichtungen, im Leben findet sie es verrückt. Und in der Tat, wenn die Welt recht hat, wenn diese Musik in den Cafes, diese Massenvergnügungen, diese amerikanischen, mit so wenigem zufriedenen Menschen recht haben, dann habe ich unrecht, dann bin ich verrückt, dann bin ich wirklich der Steppenwolf, den ich mich oft nannte, das in eine ihm fremde und unverständliche Welt verirrte Tier, das seine Heimat, Luft und Nahrung nicht mehr findet.

Mit diesen gewohnten Gedanken lief ich auf der nassen Straße weiter, durch eins der stillsten und ältesten Quartiere der Stadt. Da stand gegenüber, jenseits der Gasse, in der Finsternis eine alte graue Steinmauer, die ich immer gerne sah, sie stand immer so alt und unbekümmert da, zwischen einer kleinen Kirche und einem alten Hospital, auf ihrer rauhen Fläche ließ ich bei Tage oft meine Augen ausruhen, es gab wenige so stille, gute, schweigende Flächen in der Innern Stadt, wo ja sonst auf jedem halben Quadratmeter ein Geschäft, ein Advokat, ein Erfinder, ein Arzt, ein Barbier oder Hühneraugenheilkünstler einem seinen Namen entgegenschrie. Auch jetzt wieder sah ich die alte Mauer still in ihrem Frieden liegen, und doch, war etwas an ihr verändert, ich sah ein kleines hübsches Portal mit einem Spitzbogen in der Mitte der Mauer und wurde irr, 25

denn ich wußte wahrhaftig nicht mehr, ob dies Portal immer dagewesen oder neu hinzugekommen war. Alt sah es ohne Zweifel aus, uralt; vermutlich hatte die kleine geschlossene Pforte mit ihrer dunklen Holztür schon vor Jahrhunderten in irgendeinen verschlafenen Klosterhof geführt und tat es heute noch, •wenn auch das Kloster nicht mehr stand, und wahrscheinlich hatte ich das Tor hundertmal gesehen und bloß nie beachtet, vielleicht war es frisch bemalt und fiel mir darum auf. Immerhin blieb ich stehen und blickte aufmerksam hinüber, ohne doch hinüber zu gehen, die Straße dazwischen war gar so bodenlos erweicht und naß; ich blieb auf dem Trottoir und schaute bloß hinüber, es war alles schon sehr nächtig, und mir schien, um die Pforte sei ein Kranz oder sonst etwas Buntes geflochten. Und jetzt, wo ich mir Mühe gab, genauer zu sehen, sah ich über dem Portal ein helles Schild, auf dem stand, so schien mir, irgend etwas geschrieben.

Ich strengte die Augen an, und schließlich ging ich trotz Schmutz und Pfützen hinüber. Da sah ich über dem Portal auf dem alten Graugrün der Mauer einen Fleck matt beschienen, und über den Fleck liefen bewegliche bunte Buchstaben und verschwanden alsbald wieder, kamen wieder und verflogen. Nun haben sie, dachte ich, richtig auch diese alte gute Mauer zu einer Lichtreklame mißbraucht!

Indessen entzifferte ich einige der flüchtig erscheinenden Worte, sie waren schwer zu lesen und mußten halb erraten werden, die Buchstaben kamen mit ungleichen Zwischenräumen, so blaß und hinfällig, und erloschen so rasch. Der Mann, der damit sein Geschäft machen wollte, war nicht tüchtig, er war ein Steppenwolf, armer Kerl; warum ließ er seine Buchstaben hier auf dieser Mauer im finstersten Gäßchen der Altstadt spielen, zu dieser Tageszeit, bei Regenwetter, wo niemand hier unterwegs war, und warum waren sie so flüchtig, so hingeweht, so launisch und unleserlich? Aber halt, jetzt gelang es mir, hintereinander konnte ich mehrere Worte erhaschen, die hießen: Magisches Theater

Eintritt nicht für jedermann

— nicht für jedermann

Ich versuchte die Pforte zu öffnen, die schwere alte Klinke bewegte sich auf keinen Druck. Das Buchstabenspiel war zu Ende, plötzlich hatte es aufgehört, 26

traurig, seiner Vergeblichkeit inne geworden. Ich trat einige Schritte zurück, trat tief in den Schmutz, es kamen keine Buchstaben mehr, das Spiel war erloschen, lange blieb ich im Schmutz stehen und wartete, vergebens.

Da, als ich es aufgab und schon auf den Bürgersteig zurückgekehrt war, tropften vor mir her ein paar farbige Lichtbuchstaben über den spiegelnden Asphalt.

Ich las:

Nur — — für — — Ver —rückte!

Ich hatte nasse Füße bekommen und fror, dennoch blieb ich noch eine ganze Weile wartend stehen. Nichts mehr. Während ich noch stand und dachte, wie hübsch die zarten bunten Buchstabenirrlichter über die feuchte Mauer und den schwarzglänzenden Asphalt gegeistert waren, fiel mir plötzlich wieder ein Bruchstück aus meinen vorigen Gedanken ein: das Gleichnis von der golden aufleuchtenden Spur, die so plötzlich wieder fern und unauffindbar ist.

Ich fror und ging nun weiter, jener Spur nachträumend, voll Sehnsucht nach der Pforte zu einem Zaubertheater, nur für Verrückte. Ich hatte inzwischen die Marktgegend betreten, wo es an Abendunterhaltungen nicht fehlte, alle paar Schritte hing ein Plakat und warb eine Tafel: Damenkapelle — Variete — Kino

— Tanzabend —, aber dies alles war nichts für mich, es war für «Jedermann», für Normale, welche ich denn auch überall in Scharen durch die Pforten drängen sah. Trotzdem war meine Traurigkeit ein wenig aufgehellt, es halte mich doch ein Gruß der ändern Welt berührt, ein paar farbige Buchstaben hatten getanzt und auf meiner Seele gespielt und an verborgene Akkorde gerührt, ein Schimmer der goldenen Spur war wieder sichtbar gewesen.

Ich suchte die kleine altväterische Kneipe auf, in der sich seit meinem ersten Aufenthalt in dieser Stadt, vor wohl fünfundzwanzig Jahren, nichts geändert hat, auch die "Wirtin ist noch die von damals, und manche von den heutigen Gästen saßen auch damals schon hier, am gleichen Platz, vor den gleichen Gläsern. Ich trat in das bescheidene Wirtshaus, hier war Zuflucht. Zwar war es nur eine Zuflucht wie etwa die auf der Treppe bei der Araukarie, auch hier fand ich nicht Heimat und Gemeinschaft, fand nur einen stillen Zuschauerplatz, vor einer 27

Are sens

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