TRACTAT VOM STEPPENWOLF
Nur für Verrückte
Es war einmal einer namens Harry, genannt der Steppenwolf. Er gingauf zwei Beinen, trug Kleider und war ein Mensch, aber eigentlich war erdoch eben ein Steppenwolf. Er hatte vieles von dem gelernt, wasMenschen mit gutem Verstande lernen können, und war ein ziemlichkluger Mann. Was er aber nicht gelernt hatte, war dies: mit sich undseinem Leben zufrieden zu sein. Dies konnte er nicht, er war einunzufriedener Mensch. Das kam wahrscheinlich daher, daß er im Grundeseines Herzens jederzeit wußte (oder zu wissen glaubte), daß ereigentlich gar kein Mensch, sondern ein Wolf aus der Steppe sei. Esmögen sich kluge Menschen darüber streiten, ob er nun wirklich ein Wolfwar, ob er einmal, vielleicht schon vor seiner Geburt, aus einem Wolf ineinen Menschen verzaubert worden war oder ob er als Mensch geboren,aber mit der Seele eines Steppenwolfes begabt und von ihr besessenwar oder aber ob dieser Glaube, daß er eigentlich ein Wolf sei, bloß eineEinbildung oder Krankheit von ihm war. Zum Beispiel wäre es ja möglich,daß dieser Mensch etwa in seiner Kindheit wild und unbändig undunordentlich war, daß seine Erzieher versucht hatten, die Bestie in ihmtotzukriegen, und ihm gerade dadurch die Einbildung und den Glaubenschufen, daß er in der Tat eigentlich eine Bestie sei, nur mit einem 34
dünnen Überzug von Erziehung und Menschentum darüber. Man könntehierüber lang und unterhaltend sprechen und sogar Bücher darüberschreiben; dem Steppenwolf aber wäre damit nicht gedient, denn für ihnwar es ganz einerlei, ob der Wolf in ihn hineingehext oder -geprügelt oderaber nur eine Einbildung seiner Seele sei. Was andre darüber denkenmochten und auch was er selbst darüber denken mochte, das war für ihnnichts wert, das holte den Wolf doch nicht aus ihm heraus.
Der Steppenwolf hatte also zwei Naturen, eine menschliche und einewölfische, dies war sein Schicksal, und es mag wohl sein, daß diesSchicksal kein so besonderes und seltenes war. Es sollen schon vieleMenschen gesehen worden sein, welche viel vom Hund oder vom Fuchs,vom Fisch oder von der Schlange in sich hatten, ohne daß sie darumbesondre Schwierigkeiten gehabt hätten. Bei diesen Menschen lebteeben der Mensch und der Fuchs, der Mensch und der Fischnebeneinander her, und keiner tat dem ändern weh, einer half sogar demändern, und in manchem Manne, der es weit gebracht hat und beneidetwird, war es mehr der Fuchs oder Affe als der Mensch, der sein Glückgemacht hat. Dies ist ja jedermann bekannt. Bei Harry hingegen war esanders, in ihm liefen Mensch und Wolf nicht nebeneinander her, undnoch viel weniger halfen sie einander, sondern sie lagen in ständigerTodfeindschaft gegeneinander, und einer lebte dem ändern lediglich zuLeide, und wenn Zwei in Einem Blut und Einer Seele miteinander todfeindsind, dann ist das ein übles Leben. Nun, jeder hat sein Los, und leicht istkeines. Bei unsrem Steppenwolfe nun war es so, daß er in seinem Gefühlzwar bald als Wolf, bald als Mensch lebte, wie es bei allen Mischwesender Fall ist, daß aber, wenn er Wolf war, der Mensch in ihm stetszuschauend, urteilend und richtend auf der Lauer lag — und in denZeiten, wo er Mensch war, tat der Wolf ebenso. Zum Beispiel, wennHarry als Mensch einen schönen Gedanken hatte, eine feine, edleEmpfindung fühlte oder eine sogenannte gute Tat verrichtete, dannbleckte der Wolf in ihm die Zähne und lachte und zeigte ihm mit blutigemHohn, wie lächerlich dieses ganze edle Theater einem Steppentier zu 35
Gesicht stehe, einem Wolf, der ja in seinem Herzen ganz genau darüberBescheid wußte, was ihm behage, nämlich einsam durch Steppen zutraben, zuzeiten Blut zu saufen oder eine Wölfin zu jagen, — und, vomWolf aus gesehen, wurde dann jede menschliche Handlung schauerlichkomisch und verlegen, dumm und eitel. Aber ganz ebenso war es, wennHarry sich als Wolf fühlte und benahm, wenn er andern die Zähne zeigte,wenn er Haß und Todfeindschaft gegen alle Menschen und ihreverlogenen und entarteten Manieren und Sitten fühlte. Dann nämlich lagdas Menschenteil in ihm auf der Lauer, beobachtete den Wolf, nannte ihnVieh und Bestie und verdarb und vergällte ihm alle Freude an seinemeinfachen, gesunden und
wilden Wolfswesen.
So war dies mit dem Steppenwolf beschaffen, und man kann sichvorstellen, daß Harry nicht gerade ein angenehmes und glücklichesLeben hatte. Doch soll damit nicht gesagt sein, daß er in ganzbesonderem Grade unglücklich gewesen sei (obwohl es ihm selberallerdings so erschien, wie denn jeder Mensch die ihm zufallendenLeiden für die größten hält). Man sollte das von keinem Menschensagen. Auch wer keinen Wolf in sich hat, braucht darum nicht glücklichzu sein. Und auch das unglücklichste Leben hat seine Sonnenstundenund seine kleinen Glücksblumen zwischen dem Sand und Gestein. Sowar es denn auch bei dem Steppenwolf. Er war meistens sehrunglücklich, das ist nicht zu leugnen, und unglücklich konnte er auchandre machen, nämlich wenn er sie liebte und sie ihn. Denn alle, die ihnlieb gewannen, sahen immer nur die eine Seite in ihm. Manche liebtenihn als einen feinen, klugen und eigenartigen Menschen und waren dannentsetzt und enttäuscht, wenn sie plötzlich den Wolf in ihm entdeckenmußten. Und das mußten sie, denn Harry wollte, wie jedes Wesen, alsGanzes geliebt werden und konnte darum gerade vor denen, an derenLiebe ihm viel gelegen war, den Wolf nicht verbergen und weglügen. Esgab aber auch solche, die gerade den Wolf in ihm liebten, gerade dasFreie, Wilde, Unzähmbare, Gefährliche und Starke, und diesen wieder 36
war es dann außerordentlich enttäuschend und jämmerlich, wennplötzlich der wilde, böse Wolf auch noch ein Mensch war, auch nochSehnsucht nach Güte und Zartheit in sich hatte, auch noch Mozarthören, Verse lesen und Menschheitsideale haben wollte. Gerade diesewaren meistens besonders enttäuscht und böse, und so brachte derSteppenwolf seine eigene Doppeltheit und Zwiespältigkeit auch in allefremden Schicksale hinein, die er berührte.
Wer nun aber meint, den Steppenwolf zu kennen und sein klägliches,zerrissenes Leben sich vorstellen zu können, der ist dennoch im Irrtum,er weiß noch lange nicht alles. Er weiß nicht, daß es (wie keine Regelohne Ausnahme und wie ein einziger Sünder unter Umständen Gottlieber ist als neunundneunzig Gerechte) — daß es bei Harry immerhinauch Ausnahmen und Glücksfälle gab, daß er zuweilen den Wolf,zuweilen den Menschen auch rein und ungestört in sich atmen, denkenund fühlen konnte, ja, daß beide manchmal, in sehr seltenen Stunden,Frieden schlossen und einander zu Liebe lebten, so daß nicht bloß der eineschlief, während der andre wachte, sondern beide einander stärkten und jeder denandern verdoppelte. Auch im Leben dieses Mannes schien, wie überall in der Welt,zuweilen alles Gewohnte, Alltägliche, Erkannte und Regelmäßige bloß den Zweck zuhaben, hie und da eine sekundenkurze Pause zu erleben, durchbrochen zu werden unddem Außerordentlichen, dem Wunder, der Gnade Platz zu machen. Ob nun diese kurzen,seltenen Glücksstunden das schlimme Los des Steppenwolfes ausglichen und milderten,so daß Glück und Leid sich schließlich die Waage hielten, oder ob vielleicht sogar daskurze, aber starke Glück jener wenigen Stunden alles Leid aufsog und ein Plus ergab,das ist nun wieder eine Frage, über welche müßige Leute nach Belieben brüten mögen.
Auch der Wolf brütete oft darüber, und das waren seine müßigen und unnützen Tage.
Hierzu muß eines noch gesagt werden. Es gibt ziemlich viele Menschen von ähnlicherArt, wie Harry einer war, viele Künstler namentlich gehören dieser Art an. DieseMenschen haben alle zwei Seelen, zwei Wesen in sich, in ihnen ist Göttliches undTeuflisches, ist mütterliches und väterliches Blut, ist Glücksfähigkeit und Leidensfähigkeitebenso feindlich und verworren neben und ineinander vorhanden, wie Wolf und Menschin Harry es waren. Und diese Menschen, deren Leben ein sehr unruhiges ist, erleben 37
zuweilen in ihren seltenen Glücksaugenblicken so Starkes und unnennbar Schönes, derSchaum des Augenblicksglückes spritzt zuweilen so hoch und blendend über das Meerdes Leides hinaus, daß dies kurze aufleuchtende Glück ausstrahlend auch andereberührt und bezaubert. So entstehen, als kostbarer flüchtiger Glücksschaum über demMeer des Leides, alle jene Kunstwerke, in welchen ein einzelner leidender Mensch sichfür eine Stunde so hoch über sein eigenes Schicksal erhob, daß sein Glück wie ein Sternstrahlt und allen denen, die es sehen, wie etwas Ewiges und wie ihr eigener Glückstraumerscheint. Alle diese Menschen, mögen ihre Taten und Werke heißen wie sie wollen,haben eigentlich überhaupt kein Leben, das heißt, ihr Leben ist kein Sein, hat keineGestalt, sie sind nicht Helden oder Künstler oder Denker in der Art, wie andere Richter,Ärzte, Schuhmacher oder Lehrer sind, sondern ihr Leben ist eine ewige, leidvolleBewegung und Brandung, ist unglücklich und schmerzvoll zerrissen und ist schauerlichund sinnlos, sobald man den Sinn nicht in ebenjenen seltenen Erlebnissen, Taten,Gedanken und Werken zu sehen bereit ist, die über dem Chaos eines solchen Lebensaufstrahlen. Unter den Menschen dieser Art ist der gefährliche und schreckliche Gedankeentstanden, daß vielleicht das ganze Menschenleben nur ein arger Irrtum, eine heftigeund mißglückte Fehlgeburt der Urmutter, ein wilder und grausig fehlgeschlagenerVersuch der Natur sei. Unter ihnen ist aber auch der andere Gedanke entstanden, daßder Mensch vielleicht nicht bloß ein halbwegs vernünftiges Tier, sondern ein Götterkindund zur Unsterblichkeit bestimmt sei.
Jede Menschenart hat ihre Kennzeichen, ihre Signaturen, jede hat ihre Tugenden undLaster, jede ihre Todsünde. Es gehörte zu den Zeichen des Steppenwolfes, daß er einAbendmensch war. Der Morgen war für ihn eine schlimme Tageszeit, die er fürchtete unddie ihm niemals Gutes gebracht hat. Nie ist er an irgendeinem Morgen seines Lebensrichtig froh gewesen, nie hat er in den Stunden vor Mittag Gutes getan, gute Einfällegehabt, sich und anderen Freude bereiten können. Erst im Laufe des Nachmittags wurdeer langsam warm und lebendig, und erst gegen Abend wurde er, an seinen guten Tagen,fruchtbar, regsam und zuweilen glühend und freudig. Damit hing auch sein Bedürfnisnach Einsamkeit und nach Unabhängigkeit zusammen. Nie hat ein Mensch ein tieferes,leidenschaftlicheres Bedürfnis nach Unabhängigkeit gehabt als er. In seiner Jugendzeit,als er noch arm war und Muhe hatte, sein Brot zu verdienen, zog er es vor, zu hungernund in zerrissenen Kleidern zu gehen, nur um dafür ein Stückchen 38
Unabhängigkeit zu retten. Er hat sich nie für Geld und Wohlleben, nie anFrauen oder an Mächtige verkauft und hat hundertmal das, was in allerWelt Augen sein Vorteil und Glück war, weggeworfen undausgeschlagen, um dafür seine Freiheit zu bewahren. Keine Vorstellungwar ihm verhaßter und grauenhafter als die, daß er ein Amt ausüben,eine Tages und Jahreseinteilung innehalten, anderen gehorchen müßte.
Ein Bureau, eine Kanzlei, eine Amtsstube, das war ihm verhaßt wie derTod, und das Entsetzlichste, was er im Traum erleben konnte, war dieGefangenschaft in einer Kaserne. All diesen Verhältnissen wußte er sichzu entziehen, oft unter großen Opfern. Hierin lag seine Stärke undTugend, hier war er unbeugsam und unbestechlich, hier war seinCharakter fest und gradlinig. Allein mit dieser Tugend hing wieder seinLeid und Schicksal aufs engste zusammen. Es ging ihm, wie es allenergeht: was er, aus einem innersten Trieb seines Wesens, aufshartnäckigste suchte und anstrebte, das ward ihm zuteil, aber mehr alsfür Menschen gut ist. Es wurde anfänglich sein Traum und Glück, dannsein bittres Schicksal. Der Machtmensch geht an der Macht zugrunde,der Geldmensch am Geld, der Unterwürfige am Dienen, der Lustsucheran der Lust. Und so ging der Steppenwolf an seiner Unabhängigkeitzugrunde. Er erreichte sein Ziel, er wurde immer unabhängiger, niemandhatte ihm zu befehlen, nach niemandem hatte er sich zu richten, frei undallein bestimmte er über sein Tun und Lassen. Denn jeder starke Menscherreicht unfehlbar das, was ein wirklicher Trieb ihn suchen heißt. Abermitten in der erreichten Freiheit nahm Harry plötzlich wahr, daß seineFreiheit ein Tod war, daß er allein stand, daß die Welt ihn auf eineunheimliche Weise in Ruhe ließ, daß die Menschen ihn nichts mehrangingen, ja er selbst sich nicht, daß er in einer immer dünner unddünner werdenden Luft von Beziehungslosigkeit und Vereinsamunglangsam erstickte. Denn nun stand es so, daß Alleinsein undUnabhängigkeit nicht mehr sein Wunsch und Ziel war, sondern sein Los,seine Verurteilung, daß der Zauberwunsch getan und nicht mehrzurückzunehmen war, daß es nichts mehr half, wenn er voll Sehnsucht 39
und guten Willens die Arme ausstreckte und zu Bindung undGemeinsamkeit bereit war: man ließ ihn jetzt allein. Dabei war er nichtetwa verhaßt und den Menschen zuwider. Im Gegenteil, er hatte sehrviele Freunde. Viele hatten ihn gern. Aber es war immer nur Sympathieund Freundlichkeit, was er fand, man lud ihn ein, man beschenkte ihn,schrieb ihm nette Briefe, aber nahe an ihn heran kam niemand, Bindungentstand nirgends, sein Leben zu teilen war niemand gewillt und fähig. Esumgab ihn jetzt die Luft der Einsamen, eine stille Atmosphäre, einWeggleiten der Umwelt, eine Unfähigkeit zu Beziehungen, gegen welchekein Wille und keine Sehnsucht etwas vermochte. Dies war eins derwichtigen Kennzeichen seines Lebens.
Ein anderes war, daß er zu den Selbstmördern gehörte. Hier mußgesagt werden, daß es falsch ist, wenn man nur jene MenschenSelbstmörder nennt, welche sich wirklich umbringen. Unter diesen sindsogar viele, die nur gewissermaßen aus Zufall Selbstmörder werden, zuderen Wesen das Selbstmördertum nicht notwendig gehört. Unter denMenschen ohne Persönlichkeit, ohne starke Prägung, ohne starkesSchicksal, unter den Dutzend und Herdenmenschen sind manche, diedurch Selbstmord umkommen, ohne darum in ihrer ganzen Signatur undPrägung dem Typus der Selbstmörder anzugehören, während wiederumvon jenen, welche dem Wesen nach zu den Selbstmördern zählen, sehrviele, vielleicht die meisten, niemals tatsächlich Hand an sich legen. Der
«Selbstmörder» — und Harry war einer — braucht nicht notwendig ineinem besonders starken Verhältnis zum Tode zu leben — dies kannman tun, auc h ohne Selbstmörder zu sein. Aber dem Selbstmörder ist eseigentümlich, daß er sein Ich, einerlei, ob mit Recht oder Unrecht, als einenbesonders gefährlichen, zweifelhaften und gefährdeten Keim der Natur empfindet, daß ersich stets außerordentlich exponiert und gefährdet vorkommt, so, als stunde er aufallerschmalster Felsenspitze, wo ein kleiner Stoß von außen oder eine winzige Schwächevon innen genügt, um ihn ins Leere fallen zu lassen. Diese Art von Menschen ist in ihrerSchicksalslinie dadurch gekennzeichnet, daß der Selbstmord für sie die wahrscheinlichsteTodesart ist, wenigstens in ihrer eigenen Vorstellung. Voraussetzung dieser Stimmung, 40
welche fast immer schon in früher Jugend sichtbar wird und diese Menschen ihr Lebenlang begleitet, ist nicht etwa eine besonders schwache Lebenskraft, man findet imGegenteil unter den «Selbstmördern» außerordentlich zähe, begehrliche und auch kühneNaturen. Aber so wie es Naturen gibt, die bei der kleinsten Erkrankung zu Fieber neigen,so neigen diese Naturen, die wir «Selbstmörder» heißen und die stets sehr empfindlichund sensibel sind, bei der kleinsten Erschütterung dazu, sich intensiv der Vorstellung desSelbstmordes hinzugeben. Hätten wir eine Wissenschaft, die den Mut und dieVerantwortungskraft besäße, sich mit dem Menschen zu beschäftigen, statt bloß mit denMechanismen der Lebenserscheinungen, hätten wir etwas wie eine Anthropologie, etwaswie eine Psychologie, so wären diese Tatsachen jedem bekannt.
Was wir hier über die Selbstmörder sagten, bezieht sich alles selbstverständlich nur aufdie Oberfläche, es ist Psychologie, also ein Stück Physik. Metaphysisch betrachtet siehtdie Sache anders und viel klarer aus, denn bei solcher Betrachtung stellen die
«Selbstmörder» sich uns dar als die vom Schuldgefühl der Individuation Betroffenen, alsjene Seelen, welchen nicht mehr die Vollendung und Ausgestaltung ihrer selbst alsLebensziel erscheint, sondern ihre Auflösung, zurück zur Mutter, zurück zu Gott, zurückins All. Von diesen Naturen sind sehr viele vollkommen unfähig, jemals den realenSelbstmord zu begehen, weil sie dessen Sünde tief erkannt haben. Für uns sind siedennoch Selbstmörder, denn sie sehen im Tod, nicht im Leben den Erlöser, sie sindbereit, sich wegzuwerfen und hinzugeben, auszulöschen und zum Anfangzurückzukehren.
Wie jede Kraft auch zu einer Schwäche werden kann (ja unter Umständen werdenmuß), so kann umgekehrt der typische Selbstmörder aus seiner anscheinendenSchwäche oft eine Kraft und eine Stütze machen, ja er tut dies außerordentlich häufig. Zudiesen Fällen gehört auch der Harrys, des Steppenwolfes. Wie Tausende vonseinesgleichen, machte er aus der Vorstellung, daß ihm zu jeder Stunde der Weg in denTod offenstehe, nicht bloß ein jugendlichmelancholisches Phantasiespiel, sondern bautesich aus ebendiesem Gedanken einen Trost und eine Stütze. Zwar rief in ihm, wie in allenMenschen seiner Art, jede Erschütterung, jeder Schmerz, jede üble Lebenslage sofortden Wunsch wach, sich durch den Tod zu entziehen. Allmählich aber schuf er sich ausdieser Neigung gerade eine dem Leben dienliche Philosophie. Die Vertrautheit mit demGedanken, daß jener Notausgang beständig offen stehe, gab ihm Kraft, machte ihn 41
neugierig auf das Auskosten von Schmerzen und üblen Zuständen, und wenn es ihmrecht elend ging, konnte er zuweilen mit grimmiger Freude, einer Art Schadenfreude,empfinden:
«Ich bin doch neugierig zu sehen, wie viel eigentlich ein Mensch auszuhalten vermag! Istdie Grenze des noch Erträglichen erreicht, dann brauche ich ja bloß die Tür zu öffnen undbin entronnen.» Es gibt sehr viele Selbstmörder, denen aus diesem Gedankenungewöhnliche Kräfte kommen.
Andrerseits ist allen Selbstmördern auch der Kampf gegen die Versuchung zumSelbstmord vertraut. Jeder weiß, in irgendeinem Winkel seiner Seele, recht wohl, daßSelbstmord zwar ein Ausweg, aber doch nur ein etwas schäbiger und illegitimerNotausgang ist, daß es im Grunde edler und schöner ist, sich vom Leben selbst besiegenund hinstrecken zu lassen als von der eigenen Hand. Dies Wissen, dies schlechteGewissen, dessen Quelle dieselbe ist wie etwa für das böse Gewissen der sogenanntenSelbstbefriediger, veranlaßt die meisten «Selbstmörder» zu einem dauernden Kampfgegen ihre Versuchung. Sie kämpfen, wie der Kleptomane gegen sein Laster kämpft.
Auch dem Steppenwolf war dieser Kampf wohl bekannt, mit vielerlei wechselnden Waffenhatte er ihn gestritten. Schließlich kam er, im Alter von etwa siebenundvierzig Jahren, aufeinen glücklichen und nicht humorlosen Einfall, der ihm oft Freude machte. Er setzteseinen fünfzigsten Geburtstag als den Tag fest, an welchem er sich den Selbstmorderlauben wolle. An diesem Tag, so vereinbarte er mit sich selber, sollte es ihm freistehen,den Notausgang zu benützen oder nicht, je nach der Laune des Tages. Mochte ihm nungeschehen was da wollte, mochte er krank werden, verarmen, Leid und Bitternis erfahren
— alles war befristet, alles konnte allerhöchstens nur diese wenigen Jahre, Monate, Tageandauern, deren Zahl täglich kleiner wurde! Und in der Tat ertrug er manches Ungemachjetzt viel leichter, das ihn früher tiefer und länger gequält, ja vielleicht bis zur Wurzelerschüttert hatte. Wenn es ihm aus irgendwelchem Grunde besonders schlecht ging,wenn zur Verödung, Vereinsamung und Verwilderung seines Lebens noch besondereSchmerzen oder Verluste hinzukamen, dann konnte er zu den Schmerzen sagen:
«Wartet nur, noch zwei Jahre, dann bin ich euer Herr!» Und dann vertiefte er sich mitLiebe in die Vorstellung, wie an seinem fünfzigsten Geburtstag morgens die Briefe undGratulationen ankommen würden, während er, seines Rasiermessers sicher, Abschiedvon allen Schmerzen nahm und die Tür hinter sich zuzog. Dann konnte die Gicht in den 42
Knochen, dann konnten Schwermut, Kopfschmerz und Magenweh sehen, wo sie blieben.
Es erübrigt noch, das Einzelphänomen des Steppenwolfes, und namentlich seineigentümliches Verhältnis zum Bürgertum, dadurch zu erklären, daß wir dieseErscheinungen auf ihre Grundgesetze zurückführen. Nehmen wir, da dies sich von selbstanbietet, ebenjenes sein Verhältnis zum «Bürgerlichen» zum Ausgangspunkt!
Der Steppenwolf stand, seiner eigenen Auffassung zufolge, gänzlich außerhalb derbürgerlichen Welt, da er weder Familienleben noch sozialen Ehrgeiz kannte. Er fühlte sichdurchaus als Einzelnen, als Sonderling bald und krankhaften Einsiedler, bald auch alsübernormal, als ein geniemäßig veranlagtes, über die kleinen Normen desDurchschnittslebens erhabenes Individuum. Mit Bewußtsein verachtete er den Bourgeoisund war stolz darauf, keiner zu sein. Dennoch lebte er in mancher Hinsicht ganz und garbürgerlich, er hatte Geld auf der Bank und unterstützte arme Verwandte, er kleidete sichzwar sorglos, doch anständig und unauffällig, er suchte mit der Polizei, dem Steueramtund ähnlichen Mächten in gutem Frieden zu leben. Außerdem aber zog ihn eine starke,heimliche Sehnsucht beständig zur bürgerlichen Kleinwelt, zu den stillen, anständigenFamilienhäusern mit sauberen Gärtchen, blankgehaltnem Treppenhaus und ihrer ganzenbescheidenen Atmosphäre von Ordnung und Wohlanständigkeit. Es gefiel ihm, seinekleinen Laster und Extravaganzen zu haben, sich als außerbürgerlich, als Sonderlingoder Genie zu fühlen, doch hauste und lebte er, um es so auszudrücken, niemals in denProvinzen des Lebens, wo keine Bürgerlichkeit mehr existiert. Er war weder in der Luftder Gewalt und Ausnahmemenschen zu Hause noch bei den Verbrechern oderEntrechteten, sondern blieb immer in der Provinz der Bürger wohnen, zu derenGewohnheiten, zu deren Norm und Atmosphäre er stets in Beziehung stand, sei es auchin der des Gegensatzes und der Revolte. Außerdem war er in kleinbürgerlicher Erziehungauf gewachsen und hatte von dorther eine Menge von Begriffen und Schablonenbeibehalten. Er hatte theoretisch nicht das mindeste gegen das Dirnentum, wäre aberunfähig gewesen, persönlich eine Dirne ernst zu nehmen und wirklich als seinesgleichenzu betrachten. Den politischen Verbrecher, den Revolutionär oder den geistigenVerführer, den Staat und Gesellschaft ächteten, vermochte er als seinen Bruder zulieben, aber mit einem Dieb, Einbrecher, Lustmörder hätte er nichts anzufangen gewußt,als sie auf eine ziemlich bürgerliche Art zu bedauern.
Auf diese Weise anerkannte und bejahte er stets mit der einen Hälfte seines Wesens 43
und Tuns das, was er mit der andern bekämpfte und verneinte. In einem kultiviertenBiirgerhause auf gewachsen, in fester Form und Sitte, war er mit einem Teil seiner Seelestets an den Ordnungen dieser Welt hängengeblieben, auch nachdem er sich längst überdas im Bürgerlichen mögliche Maß hinaus individualisiert und sich vom Inhaltbürgerlichen Ideals und Glaubens längst befreit hatte.
Das «Bürgerliche» nun, als ein stets vorhandener Zustand des Menschlichen, istnichts andres als der Versuch eines Ausgleiches, als das Streben nach einerausgeglichenen Mitte zwischen den zahllosen Extremen und Gegensatzpaarenmenschlichen Verhaltens. Nehmen wir irgendeines dieser Gegensatzpaare als Beispiel,etwa das des Heiligen und des Wüstlings, so wird unser Gleichnis alsbald verständlichwerden. Der Mensch hat die Möglichkeit, sich ganz und gar dem Geistigen, demAnnäherungsversuch ans Göttliche, hinzugeben, dem Ideal des Helligen. Er hatumgekehrt auch die Möglichkeit, sich ganz und gar dem Triebleben, dem Verlangenseiner Sinne hinzugeben und, sein ganzes Streben auf den Gewinn von augenblicklicherLust zu richten. Der eine Weg führt zum Heiligen, zum Märtyrer des Geistes, zurSelbstaufgabe an Gott. Der andre Weg führt zum Wüstling, zum Märtyrer der Triebe, zurSelbstaufgabe an die Verwesung. Zwischen beiden nun versucht in temperierter Mitteder Bürger zu leben. Nie wird er sich aufgeben, sich hingeben, weder dem Rausch nochder Askese, nie wird er Märtyrer sein, nie in seine Vernichtung willigen — im Gegenteil,sein Ideal ist nicht Hingabe, sondern Erhaltung des Ichs, sein Streben gilt weder derHeiligkeit noch deren Gegenteil, Unbedingtheit ist ihm unerträglich, er will zwar Gottdienen, aber auch dem Rausche, will zwar tugendhaft sein, es aber auch ein bißchen gutund bequem auf Erden haben. Kurz, er versucht es, in der Mitte zwischen den Extremensich anzusiedeln, in einer gemäßigten und bekömmlichen Zone ohne heftige Stürme undGewitter, und dies gelingt ihm auch, jedoch auf Kosten jener Lebens undGefühlsintensität, die ein aufs Unbedingte und Extreme gerichtetes Leben verleiht.
Intensiv leben kann man nur auf Kosten des Ichs. Der Bürger nun schätzt nichts höherals das Ich (ein nur rudimentär entwickeltes Ich allerdings). Auf Kosten der Intensität alsoerreicht er Erhaltung und Sicherheit, statt Gottbesessenheit erntet er Gewissensruhe,statt Lust Behagen, statt Freiheit Bequemlichkeit, statt tödlicher Glut eine angenehmeTemperatur. Der Bürger ist deshalb seinem Wesen nach ein Geschöpf von schwachemLebensantrieb, ängstlich, jede Preisgabe seiner selbst fürchtend, leicht zu regieren. Er 44
hat darum an Stelle der Macht die Majorität gesetzt, an Stelle der Gewalt das Gesetz, anStelle der Verantwortung das Abstimmungsverfahren.
Es ist klar, daß dies schwache und ängstliche Wesen, existierte es auch in noch sogroßer Anzahl, sich nicht halten kann, daß es vermöge seiner Eigenschaften in der Weltkeine andre Rolle spielen könnte als die einer Lämmerherde zwischen freischweifendenWölfen. Dennoch sehen wir, daß zwar in Zeiten des Regiments sehr starker Naturen derBürger sofort an die Wand gedrückt wird, daß er aber niemals untergeht, zuzeiten sogaranscheinend die Welt beherrscht. Wie ist das möglich? Weder die große Zahl seinerHerde, noch die Tugend, noch der common sense, noch die Organisation wären starkgenug, ihn vor dem Untergang zu retten. Wessen Lebensintensität von vornherein sosehr geschwächt ist, den kann keine Medizin der Welt am Leben erhalten. Und dennochlebt das Bürgertum, ist stark und gedeiht. — Warum?
Die Antwort lautet: Wegen der Steppenwölfe. In der Tat beruht die vitale Kraft desBürgertums keineswegs auf den Eigenschaften seiner normalen Mitglieder, sondern aufdenen der außerordentlich zahlreichen Outsiders, die es infolge der Verschwommenheitund Dehnbarkeit seiner Ideale mit zu umschließen vermag. Es lebt im Bürgertum stetseine große Menge von starken und wilden Naturen mit. Unser Steppenwolf Harry ist eincharakteristisches Beispiel. Er, der weit über das dem Bürger mögliche Maß hinaus zumIndividuum entwickelt ist, er, der die Wonne der Meditation ebenso wie die dusternFreuden des Hasses und Selbsthasses kennt, er, der das Gesetz, die Tugend und dencommon sense verachtet, ist dennoch ein Zwangshäftling des Bürgertums und kann ihmnicht entrinnen. Und so lagern um die eigentliche Masse des echten Bürgertums weiteSchichten der Menschheit, viele Tausende von Leben und Intelligenzen, deren jede demBürgertum zwar entwachsen und für ein Leben im Unbedingten berufen wäre, deren jedeaber, durch infantile Gefühle der Bürgerlichkeit anhängend und von ihrer Schwächung derLebensintensität ein Stuck weit angesteckt, dennoch irgendwie im Bürgertum verharrt,ihm Irgendwie hörig, verpflichtet und dienstbar bleibt. Denn dem Bürgertum gilt derumgekehrte Grundsatz der Großen: Wer nicht wider mich ist, der ist für mich!
Prüfen wir daraufhin die Seele des Steppenwolfes, so stellt er sich dar als ein Mensch,den schon sein hoher Grad von Individuation zum Nichtbürger bestimmt — denn alle hochgetriebene Individuation kehrt sich gegen das Ich und neigt wieder zu dessen Zerstörung. Wir sehen, daß er sowohl nach dem Heiligen wie nach dem Wüstling hin 45