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Ein Leichnam ist für den Wurm ein schöner Gedanke und der Wurm ein schrecklicher für jedes Lebendige. Würmer träumen sich ihr Himmelreich in einem fetten Körper, Philosophieprofessoren im Zerwühlen Schopenhauerischer Eingeweide, und so lange es Nagethiere giebt, gab es auch einen Nagethierhimmel. Damit ist unsere erste Frage: Wie denkt sich der neue Gläubige seinen Himmel? beantwortet. Der Straussische Philister haust in den Werken unserer grossen Dichter und Musiker wie ein Gewürm, welches lebt, indem es zerstört, bewundert, indem es frisst, anbetet, indem es verdaut.

Nun lautet aber unsere zweite Frage: Wie weit reicht der Muth, den die neue Religion ihren Gläubigen verleiht? Auch sie würde bereits beantwortet sein, wenn Muth und Unbescheidenheit eins wären: denn dann würde es Strauss in nichts an einem wahren und gerechten Mameluken-Muthe gebrechen, wenigstens ist die gebührende Bescheidenheit, von der Strauss in einer eben erwähnten Stelle in Bezug auf Beethoven spricht, nur eine stilistische, keine moralische Wendung. Strauss participirt hinreichend an der Keckheit, zu der jeder siegreiche Held sich berechtigt glaubt; alle Blumen sind nur für ihn, den Sieger, gewachsen, und er lobt die Sonne, dass sie zur rechten Zeit gerade seine Fenster bescheint. Selbst das alte und ehrwürdige Universum lässt er mit seinem Lobe nicht unangetastet, als ob es erst durch dieses Lob geweiht werden müsste und sich von jetzt ab allein um die Centralmonade Strauss schwingen dürfte. Das Universum, weiss er uns zu belehren, sei zwar eine Maschine mit eisernen, gezahnten Rädern, mit schweren Hämmern und Stampfen, aber "es bewegen sich in ihr nicht bloss unbarmherzige Räder, es ergiesst sich auch linderndes Oel" (p. 365). Das Universum wird dem bilderwüthigen Magister nicht gerade Dank wissen, dass er kein besseres Gleichniss zu seinem Lobe erfinden konnte, wenn es sich auch einmal gefallen lassen sollte, von Strauss gelobt zu werden. Wie nennt man doch das Oel, das an den Hämmern und Stampfen einer Maschine niederträufelt? Und was würde es den Arbeiter trösten, zu wissen, dass dieses Oel sich auf ihn ergiesst, während die Maschine seine Glieder fasst? Nehmen wir einmal an, das Bild sei verunglückt, so zieht eine andere Prozedur unsere Aufmerksamkeit auf sich, durch die Strauss zu ermitteln sucht, wie er eigentlich gegen das Universum gestimmt sei, und bei der ihm die Frage Gretchens auf den Lippen schwebt: "Er liebt mich—liebt mich nicht—liebt mich?" [Goethe, Faust, I, 12.] Wenn nun Strauss auch nicht Blumen zerpflückt oder Rockknöpfe abzählt, so ist doch das, was er thut, nicht weniger harmlos, obwohl vielleicht etwas mehr Muth dazu gehört. Strauss will in Erfahrung ziehen, ob sein Gefühl für das "All" gelähmt und abgestorben sei oder nicht, und sticht sich: denn er weiss, dass man ein Glied ohne Schmerz mit der Nadel stechen kann, falls es abgestorben oder gelähmt ist. Eigentlich freilich sticht er sich nicht, sondern wählt eine noch gewaltthätigere Prozedur, die er also beschreibt: "Wir schlagen Schopenhauer auf, der dieser unserer Idee bei jeder Gelegenheit in's Gesicht schlägt" (p. 143). Da nun eine Idee, selbst die schönste Straussen-Idee vom Universum, kein Gesicht hat, sondern nur der, welcher die Idee hat, so besteht die Prozedur aus folgenden einzelnen Actionen: Strauss schlägt Schopenhauer—allerdings sogar auf: worauf Schopenhauer bei dieser Gelegenheit Strauss in's Gesicht schlägt. Jetzt "reagirt" Strauss "religiös," das heisst, er schlägt wieder auf Schopenhauer los, schimpft, redet von Absurditäten, Blasphemien, Ruchlosigkeiten, urtheilt sogar, dass Schopenhauer nicht bei Troste gewesen sei. Resultat der Prügelei: "wir fordern für unser Universum dieselbe Pietät, wie der Fromme alten Stils für seinen Gott"—oder kürzer: "er liebt mich!" Er macht sich das Leben schwer, unser Liebling der Grazien, aber er ist muthig wie ein Mameluk und fürchtet weder den Teufel noch Schopenhauer. Wie viel "linderndes Oel" verbraucht er, wenn solche Prozeduren häufig sein sollten!

Andererseits verstehen wir, welchen Dank Strauss dem kitzelnden, stechenden und schlagenden Schopenhauer schuldet; deshalb sind wir auch durch folgende ausdrückliche Gunstbezeigung gegen ihn nicht weiter überrascht: "in Arthur Schopenhauers Schriften braucht man bloss zu blättern, obwohl man übrigens gut thut, nicht bloss darin zu blättern, sondern sie zu studiren, usw." (p. 141 ). Wem sagt dies eigentlich der Philisterhäuptling? Er, dem man gerade nachweisen kann, dass er Schopenhauer nie studirt hat, er, von dem Schopenhauer umgekehrt sagen müsste: "das ist ein Autor, der nicht durchblättert, geschweige studirt zu werden verdient." Offenbar ist ihm Schopenhauer in die unrechte Kehle gekommen: indem er sich über ihn räuspert, sucht er ihn loszuwerden. Damit aber das Maass naiver Lobreden voll werde, erlaubt sich Strauss noch eine Anempfehlung des alten Kant: er nennt dessen Allgemeine Geschichte und Theorie des Himmels vom Jahre 1755 "eine Schrift, die mir immer nicht weniger bedeutend erschienen ist, als seine spätere Vernunftkritik. Ist hier die Tiefe des Einblicks, so ist dort die Weite des Umblicks zu bewundern: haben wir hier den Greis, dem es vor allem um die Sicherheit eines wenn auch beschränkten Erkenntnissbesitzes zu thun ist, so tritt uns dort der Mann mit dem vollen Muthe des geistigen Entdeckers und Eroberers entgegen." Dieses Urtheil Straussens über Kant ist mir immer nicht mehr bescheiden als jenes über Schopenhauer erschienen: haben wir hier den Häuptling, dem es vor allem um die Sicherheit im Aussprechen eines wenn auch noch so beschränkten Urtheils zu thun ist, so tritt uns dort der berühmte Prosaschreiber entgegen, der mit dem vollen Muthe der Ignoranz selbst über Kant seine Lob-Essenzen ausgiesst. Gerade die rein unglaubliche Thatsache, dass Strauss von der Kantischen Vernunftkritik für sein Testament der modernen Ideen gar nichts zu gewinnen wusste, und dass er überall nur dem gröblichsten Realismus zu Gefallen redet, gehört mit zu den auffallenden Charakterzügen dieses neuen Evangeliums, das sich übrigens auch nur als das mühsam errungene Resultat fortgesetzter Geschichts- und Natur-Forschung bezeichnet und somit selbst das philosophische Element abläugnet. Für den Philisterhäuptling und seine "Wir" giebt es keine Kantische Philosophie. Er ahnt nichts von der fundamentalen Antinomie des Idealismus und von dem höchst relativen Sinne aller Wissenschaft und Vernunft. Oder: gerade die Vernunft sollte ihm sagen, wie wenig durch die Vernunft über das Ansich der Dinge auszumachen ist. Es ist aber wahr, dass es Leuten in gewissen Lebensaltern unmöglich ist, Kant zu verstehen, besonders wenn man in der Jugend, wie Strauss, den "Riesengeist" Hegel verstanden hat oder verstanden zu haben wähnt, ja daneben sich mit Schleiermacher, "der des Scharfsinns fast allzuviel besass," wie Strauss sagt, befassen musste. Es wird Strauss seltsam klingen, wenn ich ihm sage, dass er auch jetzt noch zu Hegel und Schleiermacher in "schlechthiniger Abhängigkeit" steht, und dass seine Lehre vom Universum, die Betrachtungsart der Dinge sub specie biennii und seine Rückenkrümmungen vor den deutschen Zuständen, vor allem aber sein schamloser Philister-Optimismus aus gewissen früheren Jugendeindrücken, Gewohnheiten und Krankheits-Phänomenen zu erklären sei. Wer einmal an der Hegelei und Schleiermacherei erkrankte, wird nie wieder ganz curirt.

Es giebt eine Stelle in dem Bekenntnissbuche, in der sich jener incurable Optimismus mit einem wahrhaft feiertagsmässigen Behagen daherwälzt (p. 142, 143). "Wenn die Welt ein Ding ist, sagt Strauss, das besser nicht wäre, ei so ist ja auch das Denken des Philosophen, das ein Stück dieser Welt bildet, ein Denken, das besser nicht dächte. Der pessimistische Philosoph bemerkt nicht, wie er vor allem auch sein eigenes, die Welt für schlecht erklärendes Denken für schlecht erklärt; ist aber ein Denken, das die Welt für schlecht erklärt, ein schlechtes Denken, so ist ja die Welt vielmehr gut. Der Optimismus mag sich in der Regel sein Geschäft zu leicht machen, dagegen sind Schopenhauers Nachweisungen der gewaltigen Rolle, die Schmerz und Uebel in der Welt spielen, ganz am Platze; aber jede wahre Philosophie ist nothwendig optimistisch, weil sie sonst sich selbst das Recht der Existenz abspricht." Wenn diese Widerlegung Schopenhauer's nicht eben das ist, was Strauss einmal an einer anderen Stelle eine "Widerlegung unter dem lauten Jubel der höheren Räume" nennt, so verstehe ich diese theatralische Wendung, deren er sich einmal gegen einen Widersacher bedient, gar nicht. Der Optimismus hat sich hier einmal mit Absicht sein Geschäft leicht gemacht. Aber gerade das war das Kunststück, so zu thun, als ob es gar nichts wäre, Schopenhauer zu widerlegen und die Last so spielend fortzuschieben, dass die drei Grazien an dem tändelnden Optimisten jeden Augenblick ihre Freude haben. Eben dies soll durch die That gezeigt werden, dass es gar nicht nöthig ist, mit einem Pessimisten es ernst zu nehmen: die haltlosesten Sophismen sind gerade recht, um kund zu thun, dass man an eine so "ungesunde und unerspriessliche" Philosophie wie die Schopenhauerische keine Gründe, sondern höchstens nur Worte und Scherze verschwenden dürfe. An solchen Stellen begreift man Schopenhauers feierliche Erklärung, dass ihm der Optimismus, wo er nicht etwa das gedankenlose Reden solcher ist, unter deren platten Stirnen nichts als Worte herbergen, nicht blos als eine absurde, sondern auch als eine wahrhaft ruchlose Denkungsart erscheint, als ein bitterer Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit. Wenn der Philister es zum System bringt, wie Strauss, so bringt er es auch zur ruchlosen Denkungsart, das heisst, zu einer stumpfsinnigsten Behäbigkeitslehre des "Ich" oder der "Wir" und erregt Indignation.

Wer vermöchte zum Beispiel folgende psychologische Erklärung ohne Entrüstung zu lesen, weil sie recht ersichtlich nur am Stamme jener ruchlosen Behäbigkeitstheorie gewachsen sein kann: "niemals, äusserte Beethoven, wäre er im Stande gewesen, einen Text wie Figaro oder Don Juan zu componiren. So hatte ihm das Leben nicht gelächelt, dass er es so heiter hätte ansehen, es mit den Schwächen der Menschen so leicht nehmen können" (p.360). Um aber das stärkste Beispiel jener ruchlosen Vulgarität der Gesinnung anzuführen: so genüge hier die Andeutung, dass Strauss den ganzen furchtbar ernsten Trieb der Verneinung und die Richtung auf asketische Heiligung in den ersten Jahrhunderten des Christenthums sich nicht anders zu erklären weiss, als aus einer vorangegangenen Uebersättigung in geschlechtlichen Genüssen aller Art und dadurch erzeugtem Ekel und Uebel befinden:

"Perser nennen's bidamag buden,

Deutsche sagen Katzenjammer."

So citirt Strauss selbst und schämt sich nicht. Wir aber wenden uns einen Augenblick ab, um unseren Ekel zu überwinden.

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In der That, unser Philisterhäuptling ist tapfer, ja tollkühn in Worten, überall wo er durch eine solche Tapferkeit seine edlen "Wir" zu ergötzen glauben darf. Also die Askese und Selbstverleugnung der alten Einsiedler und Heiligen soll einmal als eine Form des Katzenjammers gelten, Jesus mag als Schwärmer beschrieben werden, der in unserer Zeit kaum dem Irrenhause entgehen würde, die Geschichte von der Auferstehung Jesu mag ein "welthistorischer Humbug" genannt werden—alles das wollen wir uns einmal gefallen lassen, um daran die eigenthümliche Art des Muthes zu studiren, dessen Strauss, unser "klassischer Philister," fähig ist.

Hören wir zunächst sein Bekenntniss: "Es ist freilich ein missliebiges und undankbares Amt, der Welt gerade das zu sagen, was sie am wenigsten hören mag. Sie wirthschaftet gern aus dem Vollen, wie grosse Herren, nimmt ein und giebt aus, so lange sie etwas auszugeben hat: aber wenn nun einer die Posten zusammenrechnet und ihr sogleich die Bilanz vorlegt, so betrachtet sie den als einen Störenfried. Und eben dazu hat mich von jeher meine Gemüths- und Geistesart getrieben." Eine solche Gemüths- und Geistesart mag man immerhin muthig nennen, doch bleibt es zweifelhaft, ob dieser Muth ein natürlicher und ursprünglicher oder nicht vielmehr ein angelernter und künstlicher ist; vielleicht hat sich Strauss nur bei Zeiten daran gewöhnt, der Störenfried von Beruf zu sein, bis er sich so allmählich einen Muth von Beruf anerzogen hat. Damit verträgt sich ganz vortrefflich natürliche Feigheit, wie sie dem Philister zu eigen ist: diese zeigt sich ganz besonders in der Consequenzlosigkeit jener Sätze, welche auszusprechen Muth kostet; es klingt wie Donner, und die Atmosphäre wird doch nicht gereinigt. Er bringt es nicht zu einer aggressiven That, sondern nur zu aggressiven Worten, wählt aber diese so beleidigend als möglich und verbraucht in derben und polternden Ausdrücken alles das, was an Energie und Kraft in ihm sich aufgesammelt hat; nachdem das Wort verklungen ist, ist er feiger als der, welcher nie gesprochen hat. Ja, selbst das Schattenbild der Thaten, die Ethik, zeigt, dass er ein Held der Worte ist, und dass er jede Gelegenheit vermeidet, bei der es nöthig ist, von den Worten zum grimmigen Ernste weiterzugehen. Er verkündet mit bewunderungswürdiger Offenheit, dass er kein Christ mehr ist, will aber keine Zufriedenheit irgend welcher Art stören; ihm scheint es widersprechend, einen Verein zu stiften, um einen Verein zu stürzen—was gar nicht so widersprechend ist. Mit einem gewissen rauhen Wohlbehagen hüllt er sich in das zottige Gewand unserer Affengenealogen und preist Darwin als einen der grössten Wohlthäter der Menschheit—aber mit Beschämung sehen wir, dass seine Ethik ganz losgelöst von der Frage: "wie begreifen wir die Welt?" sich aufbaut. Hier war eine Gelegenheit, natürlichen Muth zu zeigen: denn hier hätte er seinen "Wir" den Rücken kehren müssen und kühnlich aus dem bellum omnium contra omnes und dem Vorrechte des Stärkeren Moralvorschriften für das Leben ableiten können, die freilich nur in einem innerlich unerschrockenen Sinne, wie in dem des Hobbes, und in einer ganz anderen grossartigen Wahrheitsliebe ihren Ursprung haben müssten, als in einer solchen, die immer nur in kräftigen Ausfällen gegen die Pfaffen, das Wunder und den "welthistorischen Humbug" der Auferstehung explodirt. Denn mit einer ächten und ernst durchgeführten Darwinistischen Ethik hätte man den Philister gegen sich, den man bei allen solchen Ausfällen für sich hat.

"Alles sittliche Handeln," sagt Strauss, "ist ein Sichbestimmen des Einzelnen nach der Idee der Gattung." In's Deutliche und Greifbare übertragen heisst das nur: Lebe als Mensch und nicht als Affe oder Seehund. Dieser Imperativ ist leider nur durchaus unbrauchbar und kraftlos, weil unter dem Begriff Mensch das Mannichfaltigste zusammen im Joche geht, zum Beispiel der Patagonier und der Magister Strauss, und weil Niemand wagen wird, mit gleichem Rechte zu sagen: lebe als Patagonier! und: lebe als Magister Strauss! Wollte aber gar Jemand sich die Forderung stellen: lebe als Genie, das heisst eben als idealer Ausdruck der Gattung Mensch, und wäre doch zufällig entweder Patagonier oder Magister Strauss, was würden wir dann erst von den Zudringlichkeiten geniesüchtiger Original-Narren zu leiden haben, über deren pilzartiges Aufwachsen in Deutschland schon Lichtenberg klagte, und die mit wildem Geschrei von uns fordern, dass wir die Bekenntnisse ihres allerneuesten Glaubens anhören. Strauss hat noch nicht einmal gelernt, dass nie ein Begriff die Menschen sittlicher und besser machen kann, und dass Moral predigen eben so leicht als Moral begründen schwer ist; seine Aufgabe wäre vielmehr gewesen, die Phänomene menschlicher Güte, Barmherzigkeit, Liebe und Selbstverneinung, die nun einmal thatsächlich vorhanden sind, aus seinen Darwinistischen Voraussetzungen ernsthaft zu erklären und abzuleiten: während er es vorzog, durch einen Sprung in's Imperativische sich vor der Aufgabe der Erklärung zu flüchten. Bei diesem Sprunge begegnet es ihm sogar, auch über den Fundamentalsatz Darwins leichten Sinnes hinwegzuhüpfen. "Vergiss" sagt Strauss, "in keinem Augenblicke, dass du Mensch und kein blosses Naturwesen bist, in keinem Augenblicke, dass alle anderen gleichfalls Menschen, das heisst, bei aller individuellen Verschiedenheit, dasselbe wie du, mit den gleichen Bedürfnissen und Ansprüchen wie du, sind—das ist der Inbegriff aller Moral." (p. 238). Aber woher erschallt dieser Imperativ? Wie kann ihn der Mensch in sich selbst haben, da er doch, nach Darwin, eben durchaus ein Naturwesen ist und nach ganz anderen Gesetzen sich bis zur Höhe des Menschen entwickelt hat, gerade dadurch, dass er in jedem Augenblick vergass, dass die anderen gleichartigen Wesen ebenso berechtigt seien, gerade dadurch, dass er sich dabei als den Kräftigeren fühlte und den Untergang der anderen schwächer gearteten Exemplare allmählich herbeiführte. Während Strauss doch annehmen muss, dass nie zwei Wesen völlig gleich waren, und dass an dem Gesetz der individuellen Verschiedenheit die ganze Entwickelung des Menschen von der Thierstufe bis hinauf zur Höhe des Kulturphilisters hängt, so kostet es ihm doch keine Mühe, auch einmal das Umgekehrte zu verkündigen: "benimm dich so, als ob es keine individuellen Verschiedenheiten gebe!" Wo ist da die Morallehre Strauss—Darwin, wo überhaupt der Muth geblieben!

Sofort bekommen wir einen neuen Beleg, an welchen Grenzen jener Muth in sein Gegentheil umschlägt. Denn Strauss fährt fort: "Vergiss in keinem Augenblick, dass du und Alles, was du in dir und um dich her wahrnimmst, kein zusammenhangloses Bruchstück, kein wildes Chaos von Atomen und Zufälligkeiten ist, sondern dass alles nach ewigen Gesetzen aus dem Einen Urquell alles Lebens, aller Vernunft und alles Guten hervorgeht—das ist der Inbegriff der Religion." Aus jenem "einen Urquell" fliesst aber zugleich aller Untergang, alle Unvernunft, alles Böse, und sein Name heisst bei Strauss das Universum. Wie sollte dies, bei einem solchen widersprechenden und sich selbst aufhebenden Charakter, einer religiösen Verehrung würdig sein und mit dem Namen "Gott" angeredet werden dürfen, wie es eben Strauss p. 365 thut: "unser Gott nimmt uns nicht von aussen in seinen Arm (man erwartet hier als Gegensatz ein allerdings sehr wunderliches Von innen in den Arm nehmen!), sondern er eröffnet uns Quellen des Trostes in unserem Innern. Er zeigt uns, dass zwar der Zufall ein unvernünftiger Weltherrscher wäre, dass aber die Nothwendigkeit, d. h. die Verkettung von Ursachen in der Welt, die Vernunft selber ist" (eine Erschleichung, die nur die "Wir" nicht merken, weil sie in dieser Hegelischen Anbetung des Wirklichen als des Vernünftigen, das heisst in der Vergötterung des Erfolges gross gezogen sind). "Er lehrt uns erkennen, dass eine Ausnahme von dem Vollzug eines einzigen Naturgesetzes verlangen, die Zertrümmerung des All verlangen hiesse." Im Gegentheil, Herr Magister: ein ehrlicher Naturforscher glaubt an die unbedingte Gesetzmässigkeit der Welt, ohne aber das Geringste über den ethischen oder intellectuellen Werth dieser Gesetze selbst auszusagen: in derartigen Aussagen würde er das höchst anthropomorphische Gebahren einer nicht in den Schranken des Erlaubten sich haltenden Vernunft erkennen. An eben dem Punkte aber, an welchem der ehrliche Naturforscher resignirt, "reagirt" Strauss, um uns mit seinen Federn zu schmücken, "religiös" und verfährt naturwissenschaftlich und wissentlich unehrlich; er nimmt ohne Weiteres an, dass alles Geschehene den höchsten intellectuellen Werth habe, also absolut vernünftig und zweckvoll geordnet sei, und sodann, dass es eine Offenbarung der ewigen Güte selbst enthalte. Er bedarf also einer vollständigen Kosmodicee und steht jetzt im Nachtheil gegen den, dem es nur um eine Theodicee zu thun ist, und der zum Beispiel das ganze Dasein des Menschen als einen Strafakt oder Läuterungs-Zustand auffassen darf. An diesem Punkte und in dieser Verlegenheit macht Strauss sogar einmal eine metaphysische Hypothese, die dürrste und gichtbrüchigste, die es giebt, und im Grunde nur die unfreiwillige Parodie eines Lessingischen Wortes. "Jenes andere Wort Lessing's (so heisst es p. 219): Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb darnach, obschon unter der Bedingung beständigen Irrens, ihm zur Wahl vorhielte, würde er demüthig Gott in seine Linke fallen und sich deren Inhalt für sich erbitten—dieses Lessing'sche Wort hat man von jeher zu den herrlichsten gerechnet, die er uns hinterlassen hat. Man hat darin den genialen Ausdruck seiner rastlosen Forschungs- und Thätigkeitslust gefunden. Auf mich hat das Wort immer deswegen einen so ganz besondern Eindruck gemacht, weil ich hinter seiner subjectiven Bedeutung noch eine objective von unendlicher Tragweite anklingen hörte. Denn liegt darin nicht die beste Antwort auf die grobe Schopenhauer'sche Rede von dem übelberathenen Gott, der nichts besseres zu thun gewusst, als in diese elende Welt einzugehen? Wenn nämlich der Schöpfer selbst auch der Meinung Lessing's gewesen wäre, das Ringen dem ruhigen Besitze vorzuziehen?" Also wahrhaftig ein Gott, der sich das beständige Irren, aber mit dem Streben nach Wahrheit, vorbehält und vielleicht sogar Strauss demüthig in die Linke fällt, um ihm zu sagen: nimm du die ganze Wahrheit. Wenn je ein Gott und ein Mensch übelberathen waren, so ist es doch dieser Straussische Gott, der die Liebhaberei zu irren und zu fehlen hat, und der Straussische Mensch, der diese Liebhaberei büssen muss—da hört man freilich "eine Bedeutung von unendlicher Tragweite anklingen," da fliesst das lindernde Universal-Öl Straussens, da ahnt man die Vernünftigkeit alles Werdens und aller Naturgesetze! Wirklich? Wäre dann nicht vielmehr unsere Welt, wie das Lichtenberg einmal ausgedrückt hat, das Werk eines untergeordneten Wesens, das die Sache noch nicht recht verstand, also ein Versuch? ein Probestück, an dem noch gearbeitet wird? Strauss selber müsste sich dann doch zugeben, dass unsere Welt eben nicht der Schauplatz der Vernunft, sondern des Irrens sei, und dass alle Gesetzmässigkeit nichts Tröstliches enthalte, weil alle Gesetze von einem irrenden und zwar aus Vergnügen irrenden Gott gegeben sind. Es ist wahrhaftig ein ergötzliches Schauspiel, Strauss als metaphysischen Baumeister einmal in die Wolken hineinbauen zu sehen. Aber für wen wird dies Schauspiel aufgeführt? Für die edlen und behäbigen "Wir," damit ihnen nur ja der Humor nicht verdorben werde: vielleicht sind sie inmitten des starren und erbarmungslosen Räderwerks der Weltmaschine in Angst gerathen und bitten zitternd ihren Führer um Hülfe. Deshalb lässt Strauss "linderndes Öl" fliessen, deshalb führt er einen aus Passion irrenden Gott am Seile herbei, deshalb spielt er einmal die gänzlich befremdende Rolle eines metaphysischen Architekten. Alles dieses thut er, weil jene sich fürchten und er selber sich fürchtet—und hier gerade ist die Grenze seines Muthes, selbst seinen "Wir" gegenüber. Er wagt es nämlich nicht, ihnen ehrlich zu sagen: von einem helfenden und sich erbarmenden Gott habe ich euch befreit, das "Universum" ist nur ein starres Räderwerk, seht zu, dass seine Räder euch nicht zermalmen! Er wagt es nicht: so muss denn doch die Hexe dran, nämlich die Metaphysik. Dem Philister aber ist selbst eine Straussische Metaphysik lieber als die christliche und die Vorstellung eines irrenden Gottes sympathischer als die eines wunderthätigen. Denn er selbst, der Philister, irrt, aber hat noch nie ein Wunder gethan.

Aus eben diesem Grunde ist dem Philister das Genie verhasst: denn gerade dieses steht mit Recht im Rufe, Wunder zu thun; und höchst belehrend ist es deshalb zu erkennen, weshalb an einer einzigen Stelle Strauss einmal sich zum kecken Vertheidiger des Genies und überhaupt der aristokratischen Natur des Geistes aufwirft. Weshalb doch? Aus Furcht, und zwar vor den Socialdemokraten. Er verweist auf die Bismarck, Moltke, "deren Grösse um so weniger zu verläugnen steht, als sie auf dem Gebiete der handgreiflichen äusseren Thatsachen hervortritt. Da müssen nun doch auch die steifnackigsten und borstigsten unter jenen Gesellen sich bequemen, ein wenig aufwärts zu blicken, um die erhabenen Gestalten wenigstens bis zum Knie in Sicht zu bekommen." Wollen Sie, Herr Magister, vielleicht den Social-Demokraten eine Anleitung geben, Fusstritte zu empfangen? Der gute Wille, solche zu ertheilen, ist ja überall vorhanden, und dass die Getretenen bei dieser Prozedur die erhabenen Gestalten "bis zum Knie" zu sehen bekommen, dürfen Sie schon verbürgen. "Auch auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft, fährt Strauss fort, wird es nie an bauenden Königen fehlen, die einer Masse von Kärrnern zu thun geben." Gut—aber wenn nun einmal die Kärmer bauen? Es kommt vor, Herr Metaphysicus, Sie wissen es—dann haben die Könige zu lachen.

In der That diese Vereinigung von Dreistigkeit und Schwäche, tollkühnen Worten und feigem Sich—Anbequemen, dieses feine Abwägen, wie und mit welchen Sätzen man einmal dem Philister imponiren, mit welchen man ihn streicheln kann, dieser Mangel an Charakter und Kraft bei dem Anschein von Kraft und Charakter, dieser Defekt an Weisheit bei aller Affectation der Ueberlegenheit und Reife der Erfahrung—das alles ist es, was ich an diesem Buche hasse. Wenn ich mir denke, dass junge Männer ein solches Buch ertragen, ja werthschätzen könnten, so würde ich mit Betrübniss meinen Hoffnungen für ihre Zukunft entsagen. Dieses Bekenntniss einer ärmlichen, hoffnungslosen und wahrhaft verächtlichen Philisterei sollte der Ausdruck jener vielen Tausende von "Wir" sein, von denen Strauss redet, und diese "Wir" wären wiederum die Väter der nachfolgenden Generation! Es sind grauenhafte Voraussetzungen für jeden, der dem kommenden Geschlechte zu dem verhelfen möchte, was die Gegenwart nicht hat—zu einer wahrhaft deutschen Kultur. Einem solchen scheint der Boden mit Asche überdeckt, alle Gestirne verdunkelt; jeder abgestorbene Baum, jedes verwüstete Feld ruft ihm zu: Unfruchtbar! Verloren! Hier giebt es keinen Frühling wieder! Ihm muss zu Muthe werden, wie dem jungen Goethe zu Muthe war, als er in die triste atheistische Halbnacht des Système de la nature hineinblickte: ihm kam das Buch so grau, so kimmerisch, so todtenhaft vor, dass er Mühe hatte, seine Gegenwart auszuhalten, dass er davor wie vor einem Gespenste schauderte.

8

Wir sind über den Himmel und den Muth des neuen Gläubigen hinlänglich belehrt, um uns nun auch die letzte Frage stellen zu können: Wie schreibt er seine Bücher? und welcher Art sind seine Religions-Urkunden?

Wer sich diese Frage streng und ohne Vorurtheil beantworten kann, für den wird die Thatsache, dass das Straussische Hand-Orakel des deutschen Philisters in sechs Auflagen begehrt worden ist, zum nachdenklichsten Probleme, besonders wenn er gar noch hört, dass es auch in den gelehrten Kreisen und selbst an den deutschen Universitäten als ein solches Hand-Orakel willkommen geheissen worden ist. Studenten sollen es wie einen Canon für starke Geister begrüsst, und Professoren sollen nicht widersprochen haben: hier und da hat man darin wirklich ein Religionsbuch für den Gelehrten finden wollen. Strauss selbst giebt zu verstehen, dass das Bekenntnissbuch nicht nur eine Auskunft für den Gelehrten und Gebildeten abgeben möge; aber wir halten uns hier daran, dass es sich zunächst an diese und zwar vornehmlich an die Gelehrten wendet, um ihnen den Spiegel eines Lebens vorzuhalten, wie sie es selbst leben. Denn dies ist das Kunststück: der Magister stellt sich, als ob er das Ideal einer neuen Weltbetrachtung entwerfe, und nun kommt ihm sein Lob aus jedem Munde zurück, weil Jeder meinen kann, gerade er betrachte Welt und Leben so, und gerade an ihm habe Strauss schon erfüllt sehen können, was er erst von der Zukunft fordere. Daraus erklärt sich auch zum Theil der ausserordentliche Erfolg jenes Buches: so, wie im Buche steht, leben wir, so wandeln wir beglückt! ruft der Gelehrte ihm entgegen und freut sich, dass andere sich daran freuen. Ob er über einzelne Dinge, zum Beispiel über Darwin oder die Todesstrafe, zufällig anders denkt als der Magister, hält er selbst für ziemlich gleichgültig, weil er so sicher fühlt, im Ganzen seine eigene Luft zu athmen, und den Widerklang seiner Stimme und seiner Bedürfnisse zu hören. So peinlich diese Einmüthigkeit jeden wahren Freund deutscher Kultur berühren mag, so unerbittlich streng muss er sich eine solche Thatsache erklären und selbst davor nicht zurückschrecken, seine Erklärung öffentlich abzugeben.

Wir kennen ja alle die unserem Zeitalter eigenthümliche Art, die Wissenschaften zu betreiben, wir kennen sie, weil wir sie leben: und eben deshalb stellt sich fast Niemand die Frage, was wohl bei einer solchen Beschäftigung mit den Wissenschaften für die Kultur herauskommen könne, selbst vorausgesetzt, dass überall die beste Befähigung und der ehrlichste Wille, für die Kultur zu wirken, vorhanden sei. Es liegt ja im Wesen des wissenschaftlichen Menschen (ganz abgesehen von seiner gegenwärtigen Gestalt) ein rechtes Paradoxon: er benimmt sich wie der stolzeste Müssiggänger des Glücks: als ob das Dasein nicht eine heillose und bedenkliche Sache sei, sondern ein fester, für ewige Dauer garantirter Besitz. Ihm scheint es erlaubt, ein Leben auf Fragen zu verschwenden, deren Beantwortung im Grunde nur dem, der einer Ewigkeit versichert wäre, wichtig sein könnte. Rings umstarren ihn, den Erben weniger Stunden, die schrecklichsten Abstürze, jeder Tritt sollte ihn erinnern: Wozu? Wohin? Woher? Aber seine Seele erglüht bei der Aufgabe, die Staubfäden einer Blume zu zählen oder die Gesteine am Wege zu zerklopfen, und er versenkt in diese Arbeit das ganze, volle Gewicht seiner Theilnahme, Lust, Kraft und Begierde. Dieses Paradoxon, der wissenschaftliche Mensch, ist nun neuerdings in Deutschland in eine Hast gerathen, als ob die Wissenschaft eine Fabrik sei, und jede Minuten-Versäumniss eine Strafe nach sich ziehe. Jetzt arbeitet er, so hart wie der vierte Stand, der Sclavenstand, arbeitet, sein Studium ist nicht mehr eine Beschäftigung, sondern eine Noth, er sieht weder rechts noch links und geht durch alle Geschäfte und ebenso durch alle Bedenklichkeiten, die das Leben im Schoosse trägt, mit jener halben Aufmerksamkeit oder mit jenem widrigen Erholungs-Bedürfnisse hindurch, welches dem erschöpften Arbeiter zu eigen ist.

So steht er nun auch zur Kultur. Er benimmt sich, als ob das Leben für ihn nur otium sei, aber sine dignitate: und selbst im Traume wirft er sein Joch nicht ab, wie ein Sclave, der selbst in der Freiheit von seiner Noth, seiner Hast und seinen Prügeln träumt. Unsere Gelehrten unterscheiden sich kaum und jedenfalls nicht zu ihren Gunsten von den Ackerbauern, die einen kleinen ererbten Besitz mehren wollen und emsig vom Tag bis in die Nacht hinein bemüht sind, den Acker zu bestellen, den Pflug zu führen und den Ochsen zuzurufen. Nun meint Pascal überhaupt, dass die Menschen so angelegentlich ihre Geschäfte und ihre Wissenschaften betrieben, um nur damit den wichtigsten Fragen zu entfliehen, die jede Einsamkeit, jede wirkliche Musse ihnen aufdringen würde, eben jenen Fragen nach dem Warum, Woher, Wohin. Unseren Gelehrten fällt sogar, wunderlicher Weise, die allernächste Frage nicht ein: wozu ihre Arbeit, ihre Hast, ihr schmerzlicher Taumel nütze sei. Doch nicht etwa, um Brot zu verdienen oder Ehrenstellen zu erjagen? Nein, wahrhaftig nicht. Aber doch mühet ihr euch in der Art der Darbenden und Brotbedürftigen, ja ihr reisst die Speisen mit einer Gier und ohne alle Wahl vom Tische der Wissenschaft, als ob ihr am Verhungern wäret. Wenn ihr aber, als wissenschaftliche Menschen, mit der Wissenschaft verfahrt, wie die Arbeiter mit den Aufgaben, die ihnen ihre Bedürftigkeit und Lebensnoth stellt, was soll da aus einer Kultur werden, die verurtheilt ist, gerade Angesichts einer solchen aufgeregten, athemlosen, hin—und herrennenden, ja zappelnden Wissenschaftlichkeit auf die Stunde ihrer Geburt und Erlösung zu warten? Für sie hat ja Niemand Zeit—und doch, was soll überhaupt die Wissenschaft, wenn sie nicht für die Kultur Zeit hat? So antwortet uns doch wenigstens hier: woher, wohin, wozu alle Wissenschaft, wenn sie nicht zur Kultur führen soll? Nun dann vielleicht zur Barbarei! Und in dieser Richtung sehen wir den Gelehrtenstand schon erschreckend vorgeschritten, wenn wir uns denken dürften, dass so oberflächliche Bücher, wie das Straussische, seinem jetzigen Kulturgrade genug thäten. Denn gerade in ihm finden wir jenes widrige Erholungs-Bedürfniss und jenes beiläufige mit halber Aufmerksamkeit hinhörende Sich-Abfinden mit der Philosophie und Kultur und überhaupt mit allem Ernste des Daseins. Man wird an die Gesellschaft der gelehrten Stände erinnert, die auch, wenn das Fachgespräch schweigt, nur von Ermüdung, von Zerstreuungslust um jeden Preis, von einem zerpflückten Gedächtniss und unzusammenhängender Lebenserfahrung Zeugniss ablegt. Wenn man Strauss über die Lebensfragen reden hört, sei es nun über die Probleme der Ehe oder über den Krieg oder die Todesstrafe, so erschreckt er uns durch den Mangel aller wirklichen Erfahrung, alles ursprünglichen Hineinsehens in die Menschen: alles Urtheilen ist so büchermässig uniform, ja im Grunde sogar nur zeitungsgemäss; litterarische Reminiscenzen vertreten die Stelle von wirklichen Einfällen und Einsichten, eine affectirte Mässigung und Altklugheit in der Ausdrucksweise soll uns für den Mangel an Weisheit und an Gereiftheit des Denkens schadlos halten. Wie genau entspricht dies Alles dem Geiste der umlärmten Hochsitze deutscher Wissenschaft in den grossen Städten. Wie sympathisch muss dieser Geist zu jenem Geiste reden: denn gerade an jenen Stätten ist die Kultur am meisten abhanden gekommen, gerade an ihnen ist selbst das Aufkeimen einer neuen unmöglich gemacht; so lärmend sind die Zurüstungen der hier betriebenen Wissenschaften, so heerdenartig werden dort die beliebtesten Disciplinen auf Unkosten der wichtigsten überfallen. Mit welcher Laterne würde man hier nach Menschen suchen müssen, die eines innigen Sich—Versenkens und einer reinen Hingabe an den Genius fähig wären, und die Muth und Kraft genug hätten, Dämonen zu citiren, die aus unserer Zeit geflohen sind! Aeusserlich betrachtet, findet man freilich an jenen Stätten den ganzen Pomp der Kultur, sie gleichen mit ihren imponirenden Apparaten den Zeughäusern mit ihren ungeheuren Geschützen und Kriegswerkzeugen: wir sehen Zurüstungen und eine emsige Betriebsamkeit, als ob der Himmel gestürmt und die Wahrheit aus dem tiefsten Brunnen herauf geholt werden sollte, und doch kann man im Kriege die grössten Maschinen am schlechtesten gebrauchen. Und ebenso lässt die wirkliche Kultur bei ihrem Kampfe jene Stätten bei Seite liegen und fühlt mit dem besten Instinkte heraus, dass dort für sie nichts zu hoffen und viel zu fürchten ist. Denn die einzige Form der Kultur, mit der sich das entzündete Auge und das abgestumpfte Denk-Organ des gelehrten Arbeiter-Standes abgeben mag, ist eben jene Philister-Kultur, deren Evangelium Strauss verkündet hat.

Betrachten wir einen Augenblick die hauptsächlichen Gründe jener Sympathie, die den gelehrten Arbeiterstand und die Philister-Kultur verknüpfen, so finden wir auch den Weg, der uns zu dem als klassisch anerkannten Schriftsteller Strauss und damit zu unserem letzten Hauptthema führt.

Jene Kultur hat erstens den Ausdruck der Zufriedenheit im Gesichte und will nichts Wesentliches an dem gegenwärtigen Stande der deutschen Gebildetheit geändert haben; vor allem ist sie ernstlich von der Singularität aller deutschen Erziehungs-Institutionen, namentlich der Gymnasien und Universitäten, überzeugt, hört nicht auf, diese dem Auslande anzuempfehlen, und zweifelt keinen Augenblick daran, dass man durch dieselben das gebildetste und urtheilsfähigste Volk der Welt geworden sei. Die Philister-Kultur glaubt an sich und darum auch an die ihr zu Gebote stehenden Methoden und Mittel. Zweitens aber legt sie das höchste Urtheil über alle Kultur- und Geschmacks-Fragen in die Hand des Gelehrten und betrachtet sich selbst als das immer anwachsende Compendium gelehrter Meinungen über Kunst, Litteratur und Philosophie; ihre Sorge ist, den Gelehrten zum Aussprechen seiner Meinungen zu nöthigen und diese dann vermischt, diluirt oder systematisirt dem deutschen Volke als Heiltrank einzugeben. Was ausserhalb dieser Kreise heranwächst, wird so lange mit zweifelnder Halbheit angehört oder nicht angehört, bemerkt oder nicht bemerkt, bis endlich einmal eine Stimme, gleichgültig von wem, wenn er nur recht streng den Gattungs-Charakter des Gelehrten an sich trägt, laut wird, heraus aus jenen Tempelräumen, in denen die traditionelle Geschmacks-Unfehlbarkeit herbergen soll: und von jetzt ab hat die öffentliche Meinung eine Meinung mehr und wiederholt mit hundertfachem Echo die Stimme jenes Einzelnen. In Wirklichkeit aber steht es um die ästhetische Unfehlbarkeit, die in diesen Räumen und bei jenen Einzelnen herbergen soll, sehr bedenklich und zwar so bedenklich, dass man so lange von dem Ungeschmack, der Gedankenlosigkeit und ästhetischen Rohheit eines Gelehrten überzeugt sein kann, als er nicht das Gegentheil erwiesen hat. Und nur Wenige werden das Gegentheil beweisen können. Denn wie Viele werden sich, nachdem sie sich an dem keuchenden und gehetzten Wettlauf der gegenwärtigen Wissenschaft betheiligt haben, überhaupt nur jenen muthigen und ruhenden Blick des kämpfenden Kultur-Menschen erhalten können, wenn sie ihn je besessen haben sollten, jenen Blick, der dieses Wettlaufen selbst als ein barbarisirendes Element verurtheilt? Deshalb müssen diese Wenigen fürderhin in einem Widerspruche leben: was vermöchten sie also gegen einen uniformen Glauben Unzähliger auszurichten, die allesammt die öffentliche Meinung zu ihrer Schutzpatronin gemacht haben und in diesem Glauben sich gegenseitig stützen und tragen? Was hilft es nun, wenn so ein Einzelner sich gegen Strauss erklärt, da doch die Vielen sich für ihn entschieden haben, und die von ihnen angeführte Masse sechs Mal hinter einander nach dem philiströsen Schlaftrunk des Magisters begehren gelernt hat.

Wenn wir hiermit ohne Weiteres angenommen haben, dass das Straussische Bekenntnissbuch bei der öffentlichen Meinung gesiegt habe und als Sieger willkommen geheissen sei, so würde sein Verfasser uns vielleicht aufmerksam machen, dass die mannichfachen Beurtheilungen seines Buches in öffentlichen Blättern einen durchaus nicht einmüthigen und am wenigsten einen unbedingt günstigen Charakter tragen, und dass er selbst gegen den bisweilen äusserst feindseligen Ton und die gar zu freche und herausfordernde Manier einiger dieser Zeitungskämpen in einem Nachwort sich habe verwahren müssen. Wie kann es, wird er uns zurufen, eine öffentliche Meinung über mein Buch geben, wenn trotzdem jeder Journalist mich als vogelfrei betrachten und nach Herzenslust schlecht behandeln darf! Dieser Widerspruch ist leicht zu heben, sobald man an dem Straussischen Buche zwei Seiten unterscheidet, eine theologische und eine schriftstellerische: nur mit der letzteren berührt jenes Buch die deutsche Kultur. Durch seine theologische Färbung steht es ausserhalb unserer deutschen Kultur und erweckt die Antipathien der verschiedenen theologischen Parteien, ja im Grunde jedes einzelnen Deutschen, insofern dieser ein theologischer Sektirer von Natur ist und seinen curiosen Privatglauben nur deshalb erfindet, um mit jedem anderen Glauben dissentiren zu können. Aber hört nur einmal alle diese theologischen Sektirer über Strauss reden, sobald von dem Schriftsteller Strauss gesprochen werden muss; sofort verklingt der theologische Dissonanzen-Lärm, und in reinem Einklang ertönt es wie aus dem Munde Einer Gemeinde: ein klassischer Schriftsteller bleibt er doch! Jeder, auch der verbissenste Orthodoxe, sagt dem Schriftsteller das Günstigste in's Gesicht, und sei es auch nur ein Wort über seine fast Lessingische Dialektik oder über die Feinheit, Schönheit und Gültigkeit seiner ästhetischen Ansichten. Als Buch, so scheint es, entspricht das Straussische Produkt geradezu dem Ideal eines Buches. Die theologischen Widersacher sind, obwohl sie am lautesten geredet haben, in diesem Falle nur ein kleiner Bruchtheil des grossen Publikums: und selbst ihnen gegenüber wird Strauss Recht haben, wenn er sagt: "Gegen die Tausende meiner Leser sind die paar Dutzende meiner öffentlichen Tadler eine verschwindende Minderheit, und sie werden schwerlich beweisen können, dass sie durchaus die treuen Dollmetscher der ersteren sind. Wenn in einer Sache, wie diese, meistens die Nicht-Einverstandenen das Wort genommen, die Einverstandenen sich mit stiller Zustimmung begnügt haben, so liegt das in der Natur der Verhältnisse, die wir ja alle kennen." Also abgesehen von dem Aergerniss des theologischen Bekenntnisses, das Strauss hier und da erregt haben mag, über den Schriftsteller Strauss herrscht, selbst bei den fanatischen Widersachern, denen seine Stimme wie die Stimme des Thieres aus dem Abgrunde klingt, Einmüthigkeit. Und deshalb beweist die Behandlung, die Strauss durch die litterarischen Lohndiener der theologischen Parteien erfahren hat, nichts gegen unseren Satz, dass die Philister-Kultur in diesem Buche einen Triumph gefeiert hat.

Es ist zuzugeben, dass der gebildete Philister im Durchschnitt um einen Grad weniger freimüthig ist als Strauss, oder wenigstens bei öffentlichen Kundgebungen sich mehr zurückhält: um so erbaulicher ist ihm aber dieser Freimuth bei einem Anderen; zu Hause und unter seines Gleichen klatscht er sogar lärmend Beifall und nur gerade schriftlich mag er nicht bekennen, wie sehr ihm das alles von Strauss nach dem Herzen gesagt ist. Denn etwas feige ist nun einmal, wie wir bereits wissen, unser Bildungs-Philister, selbst bei den stärksten Sympathien: und gerade dass Strauss um einen Grad weniger feige ist, das macht ihn zum Führer, während es andererseits auch für seinen Muth eine sehr bestimmte Grenzlinie giebt. Wenn er diese überschritte, wie dies zum Beispiel Schopenhauer fast in jedem Satze thut, dann würde er nicht mehr wie ein Häuptling vor den Philistern herziehen, und man liefe ebenso hurtig davon, als man jetzt hinter ihm drein läuft. Wer dieses wenn nicht weise, so doch jedenfalls kluge Maasshalten und diese mediocritas des Muthes eine aristotelische Tugend nennen wollte, würde freilich im Irrthum sein: denn jener Muth ist nicht die Mitte zwischen zwei Fehlern, sondern zwischen einer Tugend und einem Fehler—und in dieser Mitte, zwischen Tugend und Fehler, liegen alle Eigenschaften des Philisters.

9

"Aber ein klassischer Schriftsteller bleibt er doch!" Nun wir werden sehen.

Es wäre jetzt vielleicht erlaubt, sofort von dem Stilisten und Sprachkünstler Strauss zu reden, aber zuvor lasst uns doch einmal in Erwägung ziehen, ob er im Stande ist, sein Haus als Schriftsteller zu bauen und ob er wirklich die Architektur des Buches versteht. Daraus wird sich bestimmen, ob er ein ordentlicher, besonnener und geübter Buchmacher ist; und sollten wir mit Nein antworten müssen, so bliebe ihm immer noch als letztes refugium seines Ruhmes der Anspruch, ein "klassischer Prosaschreiber" zu sein. Die letzte Fähigkeit ohne die erste würde freilich nicht ausreichen, ihn zum Rang der klassischen Schriftsteller zu erheben: sondern höchstens zu dem der klassischen Improvisatoren oder der Virtuosen des Stils, die aber bei allem Geschick des Ausdruckes im Ganzen und bei dem eigentlichen Hinstellen des Baus die unbeholfene Hand und das befangene Auge des Stümpers zeigen. Wir fragen also, ob Strauss die künstlerische Kraft hat, ein Ganzes hinzusetzen, totum ponere.

Gewöhnlich lässt sich schon nach dem ersten schriftlichen Entwurf erkennen, ob der Verfasser ein Ganzes geschaut und diesem Geschauten gemäss den allgemeinen Gang und die richtigen Maasse gefunden hat. Ist diese wichtigste Aufgabe gelöst und das Gebäude selbst in glücklichen Proportionen aufgerichtet, so bleibt doch noch genug zu thun übrig: wie viel kleinere Fehler sind zu berichtigen, wie viel Lücken auszufüllen, hier und da musste bisher ein vorläufiger Bretterverschlag oder ein Fehlboden genügen, überall liegt Staub und Schutt, und wohin du blickst, gewahrst du die Spuren der Noth und Arbeit; das Haus ist immer noch als Ganzes unwohnlich und unheimlich: alle Wände sind nackt und der Wind saust durch die offenen Fenster. Ob nun die jetzt noch nöthige, grosse und mühsame Arbeit von Strauss gethan ist, geht uns so lange nichts an, als wir fragen, ob er das Gebäude selbst in guten Proportionen und überall als Ganzes hingestellt hat. Das Gegentheil hiervon ist bekanntlich, ein Buch aus Stücken zusammenzusetzen, wie dies die Art der Gelehrten ist. Sie vertrauen darauf, dass diese Stücke einen Zusammenhang unter sich haben und verwechseln hierbei den logischen Zusammenhang und den künstlerischen. Logisch ist nun jedenfalls das Verhältniss der vier Hauptfragen, welche die Abschnitte des Straussischen Buches bezeichnen, nicht: "Sind wir noch Christen? Haben wir noch Religion? Wie begreifen wir die Welt? Wie ordnen wir unser Leben?" und zwar deshalb nicht, weil die dritte Frage nichts mit der zweiten, die vierte nichts mit der dritten und alle drei nichts mit der ersten zu thun haben. Der Naturforscher zum Beispiel, der die dritte Frage aufwirft, zeigt gerade darin seinen unbefleckten Wahrheitssinn, dass er an der zweiten stillschweigend vorübergeht; und dass die Themata des vierten Abschnittes: Ehe, Republik, Todesstrafe durch die Einmischung Darwinistischer Theorien aus dem dritten Abschnitte nur verwirrt und verdunkelt werden würden, scheint Strauss selbst zu begreifen, wenn er thatsächlich auf diese Theorien keine weitere Rücksicht nimmt. Die Frage aber: sind wir noch Christen? verdirbt sofort die Freiheit der philosophischen Betrachtung und färbt sie in unangenehmer Weise theologisch; überdies hat er dabei ganz vergessen, dass der grössere Theil der Menschheit auch heute noch buddhaistisch und nicht christlich ist. Wie darf man bei dem Worte "alter Glaube" ohne Weiteres allein an das Christenthum denken! Zeigt sich hierin, dass Strauss nie aufgehört hat, christlicher Theologe zu sein und deshalb nie gelernt hat, Philosoph zu werden, so überrascht er uns wieder dadurch, dass er nicht zwischen Glauben und Wissen zu unterscheiden vermag und fortwährend seinen sogenannten "neuen Glauben" und die neuere Wissenschaft in Einem Athem nennt. Oder sollte neuer Glaube nur eine ironische Accommodation an den Sprachgebrauch sein? So scheint es fast, wenn wir sehen, dass er hier und da neuen Glauben und neuere Wissenschaft harmlos sich einander vertreten lässt, zum Beispiel auf pag. II, wo er fragt, auf welcher Seite, ob auf der des alten Glaubens oder der neueren Wissenschaft "der in menschlichen Dingen nicht zu vermeidenden Dunkelheiten und Unzulänglichkeiten mehrere sind." Zudem will er nach dem Schema der Einleitung die Beweise angeben, auf welche die moderne Weltbetrachtung sich stützt: alle diese Beweise entlehnt er aber aus der Wissenschaft und gebärdet sich auch hier durchaus als ein Wissender, nicht als Gläubiger.

Im Grunde ist also die neue Religion nicht ein neuer Glaube, sondern fällt mit der modernen Wissenschaft zusammen, ist also als solche gar nicht Religion. Behauptet nun Strauss, dennoch Religion zu haben, so liegen die Gründe dafür abseits von der neueren Wissenschaft. Nur der kleinste Theil des Straussischen Buches, das heisst wenige zerstreute Seiten überhaupt, betreffen das, was Strauss mit Recht einen Glauben nennen dürfte: nämlich jene Empfindung für das All, für welches Strauss dieselbe Pietät fordert, die der Fromme alten Stils für seinen Gott hat. Auf diesen Seiten geht es wenigstens durchaus nicht wissenschaftlich zu; wenn es aber nur ein wenig kräftiger, natürlicher und derber und überhaupt gläubiger zugienge! Gerade das ist höchst auffallend, durch was für künstliche Prozeduren unser Autor erst zum Gefühl kommt, dass er überhaupt noch einen Glauben und eine Religion hat: durch Stechen und Schlagen, wie wir gesehen haben. Er zieht arm und schwächlich daher, dieser exstimulirte Glaube: uns fröstelt ihn anzusehen.

Wenn Strauss in dem Schema der Einleitung versprochen hat, eine Vergleichung anzustellen, ob dieser neue Glaube auch dieselben Dienste leiste, wie der Glaube alten Stils den Alt-Gläubigen, so fühlt er zuletzt selbst, dass er zuviel versprochen habe. Denn die letzte Frage, nach dem gleichen Dienste und dem Besser und Schlechter, wird von ihm schliesslich ganz nebenbei und mit scheuer Eile auf einem Paar Seiten (p. 366 ff.) abgethan, sogar einmal mit dem Verlegenheitstrumpfe: "wer hier sich nicht selbst zu helfen weiss, dem ist überhaupt nicht zu helfen, der ist für unseren Standpunkt noch nicht reif" (p. 366). Mit welcher Wucht der Ueberzeugung glaubte dagegen der antike Stoiker an das All und an die Vernünftigkeit des Alls! Und in welchem Lichte, so betrachtet, erscheint gar der Anspruch auf Originalität seines Glaubens, den Strauss macht? Aber, wie gesagt, ob neu oder alt, original oder nachgemacht, das möchte gleichgültig sein, wenn es nur kräftig, gesund und natürlich zugienge. Strauss selbst lässt diesen herausdestillirten Nothglauben, so oft es geht, im Stich, um uns und sich mit seinem Wissen schadlos zu halten, und um seine neu erlernten naturwissenschaftlichen Kenntnisse mit ruhigerem Gewissen seinen "Wir" zu präsentiren. So scheu er ist, wenn er vom Glauben redet, so rund und voll wird sein Mund, wenn der grösste Wohlthäter der allerneuesten Menschheit, Darwin, citirt wird: dann verlangt er nicht nur Glauben für den neuen Messias, sondern auch für sich, den neuen Apostel, zum Beispiel, wenn er einmal bei dem intricatesten Thema der Naturwissenschaft mit wahrhaft antikem Stolze verkündet: "man wird mir sagen, ich rede da von Dingen, die ich nicht verstehe. Gut; aber es werden Andere kommen, die sie verstehen und die auch mich verstanden haben." Hiernach scheint es fast, als ob die berühmten "Wir" nicht nur auf den Glauben an das All, sondern auch auf den Glauben an den Naturforscher Strauss verpflichtet werden sollen; in diesem Falle würden wir nur wünschen, dass, um diesen letzteren Glauben sich zum Gefühl zu bringen, nicht eben so peinliche und grausame Prozeduren nöthig sind, wie in Betreff des ersteren. Oder genügt es vielleicht gar, dass hier einmal der Gegenstand des Glaubens und nicht der Gläubige gezwickt und gestochen wird, um die Gläubigen zu jener "religiösen Reaction" zu bringen, die das Merkmal des "neuen Glaubens" ist? Welches Verdienst würden wir uns dann um die Religiosität jener "Wir" erwerben!

Es ist nämlich sonst fast zu fürchten, dass die modernen Menschen fortkommen werden, ohne sich sonderlich um die religiöse Glaubens-Zuthat des Apostels zu kümmern: wie sie thatsächlich ohne den Satz von der Vernünftigkeit des Alls bisher fortgekommen sind. Die ganze moderne Natur- und Geschichts-Forschung hat mit dem Straussischen Glauben an das All nichts zu thun, und dass der moderne Philister diesen Glauben nicht braucht, zeigt gerade die Schilderung seines Lebens, die Strauss in dem Abschnitte "wie ordnen wir unser Leben?" macht. Er ist also im Rechte zu zweifeln, ob der "Wagen," dem sich seine "werthen Leser anvertrauen mussten, allen Anforderungen entspräche." Er entspricht ihnen gewiss nicht: denn der moderne Mensch kommt schneller vorwärts, wenn er sich nicht in diesen Straussen-Wagen setzt—oder richtiger: er kam schneller vorwärts, längst bevor dieser Straussen-Wagen existirte. Wenn es nun wahr wäre, dass die berühmte, "nicht zu übersehende Minderheit," von der und in deren Namen Strauss spricht, "grosse Stücke auf Consequenz hält," so müsste sie doch mit dem Wagenbauer Strauss eben so wenig zufrieden sein, als wir mit dem Logiker.

Aber geben wir immerhin den Logiker preis: vielleicht hat das ganze Buch, künstlerisch betrachtet, eine gut erfundene Form und entspricht den Gesetzen der Schönheit, wenn es auch einem gut gearbeiteten Gedankenschema nicht entspricht. Und hier erst kommen wir zu der Frage, ob Strauss ein guter Schriftsteller sei, nachdem wir erkannt haben, dass er sich nicht als wissenschaftlicher, streng ordnender und systematisirender Gelehrter benommen hat.

Vielleicht hat er sich nur dies zur Aufgabe gestellt, nicht sowohl von dem "alten Glauben" fortzuscheuchen, als durch ein anmuthiges und farbenreiches Gemälde eines in der neuen Weltbetrachtung heimischen Lebens anzulocken. Gerade wenn er an Gelehrte und Gebildete, als an seine nächsten Leser dachte, so musste er wohl aus Erfahrung wissen, dass man diese durch das schwere Geschütz wissenschaftlicher Beweise zwar niederschiessen, nie aber zur Uebergabe nöthigen kann, dass aber eben dieselben um so schneller leichtgeschürzten Verführungs-Künsten erliegen. "Leicht geschürzt" und zwar "mit Absicht," nennt aber Strauss sein Buch selbst; als "leicht geschürzt" empfinden und schildern es seine öffentlichen Lobredner, von denen zum Beispiel einer, und zwar ein recht beliebiger, diese Empfindungen folgendermaassen umschreibt: "In anmuthigem Ebenmaasse schreitet die Rede fort, und gleichsam spielend handhabt sie die Kunst der Beweisführung, wo sie kritisch gegen das Alte sich wendet, wie nicht minder da, wo sie das Neue, das sie bringt, verführerisch zubereitet und anspruchslosem wie verwöhntem Geschmacke präsentirt. Fein erdacht ist die Anordnung eines so mannichfaltigen, ungleichartigen Stoffes, wo Alles zu berühren und doch nichts in die Breite zu führen war; zumal die Uebergänge, die von der einen Materie zur anderen überleiten, sind kunstreich gefügt, wenn man nicht etwa noch mehr die Geschicklichkeit bewundern will, mit der unbequeme Dinge bei Seite geschoben oder verschwiegen sind." Die Sinne solcher Lobredner sind, wie sich auch hier ergiebt, nicht gerade fein hinsichtlich dessen, was einer als Autor kann, aber um so feiner für das, was einer will. Was aber Strauss will, verräth uns am deutlichsten seine emphatische und nicht ganz harmlose Anempfehlung Voltaire'scher Grazien, in deren Dienst er gerade jene "leichtgeschürzten" Künste, von denen sein Lobredner spricht, lernen konnte—falls nämlich die Tugend lehrbar ist, und ein Magister je ein Tänzer werden kann.

Wer hat nicht hierüber seine Nebengedanken, wenn er zum Beispiel folgendes Wort Straussens über Voltaire liest (p.219 Volt.): "originell ist Voltaire als Philosoph allerdings nicht, sondern in der Hauptsache Verarbeiter englischer Forschungen: dabei erweist er sich aber durchaus als freier Meister des Stoffes, den er mit unvergleichlicher Gewandtheit von allen Seiten zu zeigen, in alle möglichen Beleuchtungen zu stellen versteht und dadurch, ohne streng methodisch zu sein, auch den Forderungen der Gründlichkeit zu genügen weiss." Alle negativen Züge treffen zu: Niemand wird behaupten, dass Strauss als Philosoph originell, oder dass er streng methodisch sei, aber die Frage wäre, ob wir ihn auch als "freien Meister des Stoffes" gelten lassen und ihm die "unvergleichliche Gewandtheit" zugeben. Das Bekenntniss, dass die Schrift "mit Absicht leicht geschürzt" sei, lässt errathen, dass es auf eine unvergleichliche Gewandtheit mindestens abgesehen war.

Nicht einen Tempel, nicht ein Wohnhaus, sondern ein Gartenhaus inmitten aller Gartenkünste hinzustellen, war der Traum unseres Architekten. Ja es scheint fast, dass selbst jene mysteriöse Empfindung für das All, hauptsächlich als ästhetisches Effectmittel berechnet war, gleichsam als ein Ausblick auf ein irrationales Element, etwa das Meer, mitten heraus aus dem zierlichsten und rationellsten Terrassenwerk. Der Gang durch die ersten Abschnitte, nämlich durch die theologischen Katakomben mit ihrem Dunkel und ihrer krausen und barocken Ornamentik, war wiederum nur ein ästhetisches Mittel, die Reinlichkeit, Helle und Vernünftigkeit des Abschnittes mit der Ueberschrift: "wie begreifen wir die Welt?" durch Kontrast zu heben: denn sofort nach jenem Gang im Düsteren und dem Blick in die irrationale Weite treten wir in eine Halle mit Oberlicht; nüchtern und hell empfängt sie uns, mit Himmelskarten und mathematischen Figuren an den Wänden, gefüllt mit wissenschaftlichen Geräthen, in den Schränken Skelette, ausgestopfte Affen und anatomische Präparate. Von hier aus aber wandeln wir, erst recht beglückt, mitten hinein in die volle Gemächlichkeit unserer Gartenhaus-Bewohner; wir finden sie bei ihren Frauen und Kindern unter ihren Zeitungen und politischen Alltagsgesprächen, wir hören sie eine Zeit lang reden über Ehe und allgemeines Stimmrecht, Todesstrafe und Arbeiterstrikes, und es scheint uns nicht möglich, den Rosenkranz öffentlicher Meinungen schneller abzubeten. Endlich sollen wir auch noch von dem klassischen Geschmacke der hier Hausenden überzeugt werden: ein kurzer Aufenthalt in der Bibliothek und im Musik-Zimmer giebt uns den erwarteten Aufschluss, dass die besten Bücher auf den Regalen und die berühmtesten Musikstücke auf den Notenpulten liegen; man spielt uns sogar etwas vor, und wenn es Haydn'sche Musik sein sollte, so war Haydn jedenfalls nicht Schuld daran, dass es wie Riehl'sche Hausmusik klang. Der Hausherr hat inzwischen Gelegenheit gehabt, sich mit Lessing ganz einverstanden zu erklären, mit Goethe auch, jedoch nur bis auf den zweiten Theil des Faust. Zuletzt preist sich unser Gartenhaus-Besitzer selbst und meint, wem es bei ihm nicht gefiele, dem sei nicht zu helfen, der sei für seinen Standpunkt nicht reif; worauf er uns noch seinen Wagen anbietet, doch mit der artigen Einschränkung, er wolle nicht behaupten, dass derselbe allen Anforderungen entspräche; auch seien die Steine auf seinen Wegen frisch aufgeschüttet und wir würden übel zerstossen werden. Darauf empfiehlt sich unser epikureischer Garten-Gott mit der unvergleichlichen Gewandtheit, die er an Voltaire zu rühmen wusste.

Wer könnte auch jetzt noch an dieser unvergleichlichen Gewandtheit zweifeln? Der freie Meister des Stoffs ist erkannt, der leicht geschürzte Gartenkünstler entpuppt; und immer hören wir die Stimme des Klassikers: als Schriftsteller will ich nun einmal kein Philister sein, will nicht! will nicht! Sondern durchaus Voltaire, der deutsche Voltaire! und höchstens noch der französische Lessing!

Wir verrathen ein Geheimniss: unser Magister weiss nicht immer, was er lieber sein will, Voltaire oder Lessing, aber um keinen Preis ein Philister, womöglich Beides, Lessing und Voltaire—auf dass erfüllet werde, was da geschrieben stehet: "er hatte gar keinen Charakter, sondern wenn er einen haben wollte, so musste er immer erst einen annehmen."

10

Wenn wir Strauss, den Bekenner, recht verstanden haben, so ist er selbst ein wirklicher Philister mit eingeengter, trockener Seele und mit gelehrten und nüchternen Bedürfnissen; und trotzdem würde Niemand mehr erzürnt sein, ein Philister genannt zu werden, als David Strauss, der Schriftsteller. Es würde ihm recht sein, wenn man ihn muthwillig, verwegen, boshaft, tollkühn nennte; sein höchstes Glück wäre aber, mit Lessing oder Voltaire verglichen zu werden, weil diese gewiss keine Philister waren. In der Sucht nach diesem Glück schwankt er öfter, ob er es dem tapferen dialektischen Ungestüm Lessings gleichthun solle, oder ob es ihm besser anstehe, sich als faunischen, freigeisterischen Alten in der Art Voltaires zu gebärden. Beständig macht er, wenn er sich zum Schreiben niedersetzt, ein Gesicht, wie wenn er sich malen lassen wollte, und zwar bald ein Lessingisches, bald ein Voltaire'sches Gesicht. Wenn wir sein Lob der Voltaire'schen Darstellung lesen (p. 217 Volt.), so scheint er der Gegenwart nachdrücklich in's Gewissen zu reden, weshalb sie nicht längst wisse, was sie an dem modernen Voltaire habe: "auch sind die Vorzüge," sagt er, "überall dieselben: einfache Natürlichkeit, durchsichtige Klarheit, lebendige Beweglichkeit, gefällige Anmuth. Wärme und Nachdruck fehlen, wo sie hingehören, nicht; gegen Schwulst und Affectation kam der Widerwille aus Voltaires innerster Natur; wie andererseits, wenn zuweilen Muthwille oder Leidenschaften seinen Ausdruck in's Gemeine herabzogen, die Schuld nicht am Stilisten, sondern am Menschen in ihm lag." Strauss scheint demnach recht wohl zu wissen, was es mit der Simplicität des Stiles auf sich hat: sie ist immer das Merkmal des Genies gewesen, als welches allein das Vorrecht hat, sich einfach, natürlich und mit Naivetät auszusprechen. Es verräth sich also nicht der gemeinste Ehrgeiz, wenn ein Autor eine simple Manier wählt: denn obgleich mancher merkt, für was ein solcher Autor gehalten werden möchte, so ist doch mancher auch so gefällig, ihn eben dafür zu halten. Der geniale Autor verräth sich aber nicht nur in der Schlichtheit und Bestimmtheit des Ausdruckes: seine übergrosse Kraft spielt mit dem Stoffe, selbst wenn er gefährlich und schwierig ist. Niemand geht mit steifem Schritte auf unbekanntem und von tausend Abgründen unterbrochenem Wege: aber das Genie läuft behend und mit verwegenen oder zierlichen Sprüngen auf einem solchen Pfade und verhöhnt das sorgfältige und furchtsame Abmessen der Schritte.

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