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In der That, unser Philisterhäuptling ist tapfer, ja tollkühn in Worten, überall wo er durch eine solche Tapferkeit seine edlen "Wir" zu ergötzen glauben darf. Also die Askese und Selbstverleugnung der alten Einsiedler und Heiligen soll einmal als eine Form des Katzenjammers gelten, Jesus mag als Schwärmer beschrieben werden, der in unserer Zeit kaum dem Irrenhause entgehen würde, die Geschichte von der Auferstehung Jesu mag ein "welthistorischer Humbug" genannt werden—alles das wollen wir uns einmal gefallen lassen, um daran die eigenthümliche Art des Muthes zu studiren, dessen Strauss, unser "klassischer Philister," fähig ist.

Hören wir zunächst sein Bekenntniss: "Es ist freilich ein missliebiges und undankbares Amt, der Welt gerade das zu sagen, was sie am wenigsten hören mag. Sie wirthschaftet gern aus dem Vollen, wie grosse Herren, nimmt ein und giebt aus, so lange sie etwas auszugeben hat: aber wenn nun einer die Posten zusammenrechnet und ihr sogleich die Bilanz vorlegt, so betrachtet sie den als einen Störenfried. Und eben dazu hat mich von jeher meine Gemüths- und Geistesart getrieben." Eine solche Gemüths- und Geistesart mag man immerhin muthig nennen, doch bleibt es zweifelhaft, ob dieser Muth ein natürlicher und ursprünglicher oder nicht vielmehr ein angelernter und künstlicher ist; vielleicht hat sich Strauss nur bei Zeiten daran gewöhnt, der Störenfried von Beruf zu sein, bis er sich so allmählich einen Muth von Beruf anerzogen hat. Damit verträgt sich ganz vortrefflich natürliche Feigheit, wie sie dem Philister zu eigen ist: diese zeigt sich ganz besonders in der Consequenzlosigkeit jener Sätze, welche auszusprechen Muth kostet; es klingt wie Donner, und die Atmosphäre wird doch nicht gereinigt. Er bringt es nicht zu einer aggressiven That, sondern nur zu aggressiven Worten, wählt aber diese so beleidigend als möglich und verbraucht in derben und polternden Ausdrücken alles das, was an Energie und Kraft in ihm sich aufgesammelt hat; nachdem das Wort verklungen ist, ist er feiger als der, welcher nie gesprochen hat. Ja, selbst das Schattenbild der Thaten, die Ethik, zeigt, dass er ein Held der Worte ist, und dass er jede Gelegenheit vermeidet, bei der es nöthig ist, von den Worten zum grimmigen Ernste weiterzugehen. Er verkündet mit bewunderungswürdiger Offenheit, dass er kein Christ mehr ist, will aber keine Zufriedenheit irgend welcher Art stören; ihm scheint es widersprechend, einen Verein zu stiften, um einen Verein zu stürzen—was gar nicht so widersprechend ist. Mit einem gewissen rauhen Wohlbehagen hüllt er sich in das zottige Gewand unserer Affengenealogen und preist Darwin als einen der grössten Wohlthäter der Menschheit—aber mit Beschämung sehen wir, dass seine Ethik ganz losgelöst von der Frage: "wie begreifen wir die Welt?" sich aufbaut. Hier war eine Gelegenheit, natürlichen Muth zu zeigen: denn hier hätte er seinen "Wir" den Rücken kehren müssen und kühnlich aus dem bellum omnium contra omnes und dem Vorrechte des Stärkeren Moralvorschriften für das Leben ableiten können, die freilich nur in einem innerlich unerschrockenen Sinne, wie in dem des Hobbes, und in einer ganz anderen grossartigen Wahrheitsliebe ihren Ursprung haben müssten, als in einer solchen, die immer nur in kräftigen Ausfällen gegen die Pfaffen, das Wunder und den "welthistorischen Humbug" der Auferstehung explodirt. Denn mit einer ächten und ernst durchgeführten Darwinistischen Ethik hätte man den Philister gegen sich, den man bei allen solchen Ausfällen für sich hat.

"Alles sittliche Handeln," sagt Strauss, "ist ein Sichbestimmen des Einzelnen nach der Idee der Gattung." In's Deutliche und Greifbare übertragen heisst das nur: Lebe als Mensch und nicht als Affe oder Seehund. Dieser Imperativ ist leider nur durchaus unbrauchbar und kraftlos, weil unter dem Begriff Mensch das Mannichfaltigste zusammen im Joche geht, zum Beispiel der Patagonier und der Magister Strauss, und weil Niemand wagen wird, mit gleichem Rechte zu sagen: lebe als Patagonier! und: lebe als Magister Strauss! Wollte aber gar Jemand sich die Forderung stellen: lebe als Genie, das heisst eben als idealer Ausdruck der Gattung Mensch, und wäre doch zufällig entweder Patagonier oder Magister Strauss, was würden wir dann erst von den Zudringlichkeiten geniesüchtiger Original-Narren zu leiden haben, über deren pilzartiges Aufwachsen in Deutschland schon Lichtenberg klagte, und die mit wildem Geschrei von uns fordern, dass wir die Bekenntnisse ihres allerneuesten Glaubens anhören. Strauss hat noch nicht einmal gelernt, dass nie ein Begriff die Menschen sittlicher und besser machen kann, und dass Moral predigen eben so leicht als Moral begründen schwer ist; seine Aufgabe wäre vielmehr gewesen, die Phänomene menschlicher Güte, Barmherzigkeit, Liebe und Selbstverneinung, die nun einmal thatsächlich vorhanden sind, aus seinen Darwinistischen Voraussetzungen ernsthaft zu erklären und abzuleiten: während er es vorzog, durch einen Sprung in's Imperativische sich vor der Aufgabe der Erklärung zu flüchten. Bei diesem Sprunge begegnet es ihm sogar, auch über den Fundamentalsatz Darwins leichten Sinnes hinwegzuhüpfen. "Vergiss" sagt Strauss, "in keinem Augenblicke, dass du Mensch und kein blosses Naturwesen bist, in keinem Augenblicke, dass alle anderen gleichfalls Menschen, das heisst, bei aller individuellen Verschiedenheit, dasselbe wie du, mit den gleichen Bedürfnissen und Ansprüchen wie du, sind—das ist der Inbegriff aller Moral." (p. 238). Aber woher erschallt dieser Imperativ? Wie kann ihn der Mensch in sich selbst haben, da er doch, nach Darwin, eben durchaus ein Naturwesen ist und nach ganz anderen Gesetzen sich bis zur Höhe des Menschen entwickelt hat, gerade dadurch, dass er in jedem Augenblick vergass, dass die anderen gleichartigen Wesen ebenso berechtigt seien, gerade dadurch, dass er sich dabei als den Kräftigeren fühlte und den Untergang der anderen schwächer gearteten Exemplare allmählich herbeiführte. Während Strauss doch annehmen muss, dass nie zwei Wesen völlig gleich waren, und dass an dem Gesetz der individuellen Verschiedenheit die ganze Entwickelung des Menschen von der Thierstufe bis hinauf zur Höhe des Kulturphilisters hängt, so kostet es ihm doch keine Mühe, auch einmal das Umgekehrte zu verkündigen: "benimm dich so, als ob es keine individuellen Verschiedenheiten gebe!" Wo ist da die Morallehre Strauss—Darwin, wo überhaupt der Muth geblieben!

Sofort bekommen wir einen neuen Beleg, an welchen Grenzen jener Muth in sein Gegentheil umschlägt. Denn Strauss fährt fort: "Vergiss in keinem Augenblick, dass du und Alles, was du in dir und um dich her wahrnimmst, kein zusammenhangloses Bruchstück, kein wildes Chaos von Atomen und Zufälligkeiten ist, sondern dass alles nach ewigen Gesetzen aus dem Einen Urquell alles Lebens, aller Vernunft und alles Guten hervorgeht—das ist der Inbegriff der Religion." Aus jenem "einen Urquell" fliesst aber zugleich aller Untergang, alle Unvernunft, alles Böse, und sein Name heisst bei Strauss das Universum. Wie sollte dies, bei einem solchen widersprechenden und sich selbst aufhebenden Charakter, einer religiösen Verehrung würdig sein und mit dem Namen "Gott" angeredet werden dürfen, wie es eben Strauss p. 365 thut: "unser Gott nimmt uns nicht von aussen in seinen Arm (man erwartet hier als Gegensatz ein allerdings sehr wunderliches Von innen in den Arm nehmen!), sondern er eröffnet uns Quellen des Trostes in unserem Innern. Er zeigt uns, dass zwar der Zufall ein unvernünftiger Weltherrscher wäre, dass aber die Nothwendigkeit, d. h. die Verkettung von Ursachen in der Welt, die Vernunft selber ist" (eine Erschleichung, die nur die "Wir" nicht merken, weil sie in dieser Hegelischen Anbetung des Wirklichen als des Vernünftigen, das heisst in der Vergötterung des Erfolges gross gezogen sind). "Er lehrt uns erkennen, dass eine Ausnahme von dem Vollzug eines einzigen Naturgesetzes verlangen, die Zertrümmerung des All verlangen hiesse." Im Gegentheil, Herr Magister: ein ehrlicher Naturforscher glaubt an die unbedingte Gesetzmässigkeit der Welt, ohne aber das Geringste über den ethischen oder intellectuellen Werth dieser Gesetze selbst auszusagen: in derartigen Aussagen würde er das höchst anthropomorphische Gebahren einer nicht in den Schranken des Erlaubten sich haltenden Vernunft erkennen. An eben dem Punkte aber, an welchem der ehrliche Naturforscher resignirt, "reagirt" Strauss, um uns mit seinen Federn zu schmücken, "religiös" und verfährt naturwissenschaftlich und wissentlich unehrlich; er nimmt ohne Weiteres an, dass alles Geschehene den höchsten intellectuellen Werth habe, also absolut vernünftig und zweckvoll geordnet sei, und sodann, dass es eine Offenbarung der ewigen Güte selbst enthalte. Er bedarf also einer vollständigen Kosmodicee und steht jetzt im Nachtheil gegen den, dem es nur um eine Theodicee zu thun ist, und der zum Beispiel das ganze Dasein des Menschen als einen Strafakt oder Läuterungs-Zustand auffassen darf. An diesem Punkte und in dieser Verlegenheit macht Strauss sogar einmal eine metaphysische Hypothese, die dürrste und gichtbrüchigste, die es giebt, und im Grunde nur die unfreiwillige Parodie eines Lessingischen Wortes. "Jenes andere Wort Lessing's (so heisst es p. 219): Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb darnach, obschon unter der Bedingung beständigen Irrens, ihm zur Wahl vorhielte, würde er demüthig Gott in seine Linke fallen und sich deren Inhalt für sich erbitten—dieses Lessing'sche Wort hat man von jeher zu den herrlichsten gerechnet, die er uns hinterlassen hat. Man hat darin den genialen Ausdruck seiner rastlosen Forschungs- und Thätigkeitslust gefunden. Auf mich hat das Wort immer deswegen einen so ganz besondern Eindruck gemacht, weil ich hinter seiner subjectiven Bedeutung noch eine objective von unendlicher Tragweite anklingen hörte. Denn liegt darin nicht die beste Antwort auf die grobe Schopenhauer'sche Rede von dem übelberathenen Gott, der nichts besseres zu thun gewusst, als in diese elende Welt einzugehen? Wenn nämlich der Schöpfer selbst auch der Meinung Lessing's gewesen wäre, das Ringen dem ruhigen Besitze vorzuziehen?" Also wahrhaftig ein Gott, der sich das beständige Irren, aber mit dem Streben nach Wahrheit, vorbehält und vielleicht sogar Strauss demüthig in die Linke fällt, um ihm zu sagen: nimm du die ganze Wahrheit. Wenn je ein Gott und ein Mensch übelberathen waren, so ist es doch dieser Straussische Gott, der die Liebhaberei zu irren und zu fehlen hat, und der Straussische Mensch, der diese Liebhaberei büssen muss—da hört man freilich "eine Bedeutung von unendlicher Tragweite anklingen," da fliesst das lindernde Universal-Öl Straussens, da ahnt man die Vernünftigkeit alles Werdens und aller Naturgesetze! Wirklich? Wäre dann nicht vielmehr unsere Welt, wie das Lichtenberg einmal ausgedrückt hat, das Werk eines untergeordneten Wesens, das die Sache noch nicht recht verstand, also ein Versuch? ein Probestück, an dem noch gearbeitet wird? Strauss selber müsste sich dann doch zugeben, dass unsere Welt eben nicht der Schauplatz der Vernunft, sondern des Irrens sei, und dass alle Gesetzmässigkeit nichts Tröstliches enthalte, weil alle Gesetze von einem irrenden und zwar aus Vergnügen irrenden Gott gegeben sind. Es ist wahrhaftig ein ergötzliches Schauspiel, Strauss als metaphysischen Baumeister einmal in die Wolken hineinbauen zu sehen. Aber für wen wird dies Schauspiel aufgeführt? Für die edlen und behäbigen "Wir," damit ihnen nur ja der Humor nicht verdorben werde: vielleicht sind sie inmitten des starren und erbarmungslosen Räderwerks der Weltmaschine in Angst gerathen und bitten zitternd ihren Führer um Hülfe. Deshalb lässt Strauss "linderndes Öl" fliessen, deshalb führt er einen aus Passion irrenden Gott am Seile herbei, deshalb spielt er einmal die gänzlich befremdende Rolle eines metaphysischen Architekten. Alles dieses thut er, weil jene sich fürchten und er selber sich fürchtet—und hier gerade ist die Grenze seines Muthes, selbst seinen "Wir" gegenüber. Er wagt es nämlich nicht, ihnen ehrlich zu sagen: von einem helfenden und sich erbarmenden Gott habe ich euch befreit, das "Universum" ist nur ein starres Räderwerk, seht zu, dass seine Räder euch nicht zermalmen! Er wagt es nicht: so muss denn doch die Hexe dran, nämlich die Metaphysik. Dem Philister aber ist selbst eine Straussische Metaphysik lieber als die christliche und die Vorstellung eines irrenden Gottes sympathischer als die eines wunderthätigen. Denn er selbst, der Philister, irrt, aber hat noch nie ein Wunder gethan.

Aus eben diesem Grunde ist dem Philister das Genie verhasst: denn gerade dieses steht mit Recht im Rufe, Wunder zu thun; und höchst belehrend ist es deshalb zu erkennen, weshalb an einer einzigen Stelle Strauss einmal sich zum kecken Vertheidiger des Genies und überhaupt der aristokratischen Natur des Geistes aufwirft. Weshalb doch? Aus Furcht, und zwar vor den Socialdemokraten. Er verweist auf die Bismarck, Moltke, "deren Grösse um so weniger zu verläugnen steht, als sie auf dem Gebiete der handgreiflichen äusseren Thatsachen hervortritt. Da müssen nun doch auch die steifnackigsten und borstigsten unter jenen Gesellen sich bequemen, ein wenig aufwärts zu blicken, um die erhabenen Gestalten wenigstens bis zum Knie in Sicht zu bekommen." Wollen Sie, Herr Magister, vielleicht den Social-Demokraten eine Anleitung geben, Fusstritte zu empfangen? Der gute Wille, solche zu ertheilen, ist ja überall vorhanden, und dass die Getretenen bei dieser Prozedur die erhabenen Gestalten "bis zum Knie" zu sehen bekommen, dürfen Sie schon verbürgen. "Auch auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft, fährt Strauss fort, wird es nie an bauenden Königen fehlen, die einer Masse von Kärrnern zu thun geben." Gut—aber wenn nun einmal die Kärmer bauen? Es kommt vor, Herr Metaphysicus, Sie wissen es—dann haben die Könige zu lachen.

In der That diese Vereinigung von Dreistigkeit und Schwäche, tollkühnen Worten und feigem Sich—Anbequemen, dieses feine Abwägen, wie und mit welchen Sätzen man einmal dem Philister imponiren, mit welchen man ihn streicheln kann, dieser Mangel an Charakter und Kraft bei dem Anschein von Kraft und Charakter, dieser Defekt an Weisheit bei aller Affectation der Ueberlegenheit und Reife der Erfahrung—das alles ist es, was ich an diesem Buche hasse. Wenn ich mir denke, dass junge Männer ein solches Buch ertragen, ja werthschätzen könnten, so würde ich mit Betrübniss meinen Hoffnungen für ihre Zukunft entsagen. Dieses Bekenntniss einer ärmlichen, hoffnungslosen und wahrhaft verächtlichen Philisterei sollte der Ausdruck jener vielen Tausende von "Wir" sein, von denen Strauss redet, und diese "Wir" wären wiederum die Väter der nachfolgenden Generation! Es sind grauenhafte Voraussetzungen für jeden, der dem kommenden Geschlechte zu dem verhelfen möchte, was die Gegenwart nicht hat—zu einer wahrhaft deutschen Kultur. Einem solchen scheint der Boden mit Asche überdeckt, alle Gestirne verdunkelt; jeder abgestorbene Baum, jedes verwüstete Feld ruft ihm zu: Unfruchtbar! Verloren! Hier giebt es keinen Frühling wieder! Ihm muss zu Muthe werden, wie dem jungen Goethe zu Muthe war, als er in die triste atheistische Halbnacht des Système de la nature hineinblickte: ihm kam das Buch so grau, so kimmerisch, so todtenhaft vor, dass er Mühe hatte, seine Gegenwart auszuhalten, dass er davor wie vor einem Gespenste schauderte.

8

Wir sind über den Himmel und den Muth des neuen Gläubigen hinlänglich belehrt, um uns nun auch die letzte Frage stellen zu können: Wie schreibt er seine Bücher? und welcher Art sind seine Religions-Urkunden?

Wer sich diese Frage streng und ohne Vorurtheil beantworten kann, für den wird die Thatsache, dass das Straussische Hand-Orakel des deutschen Philisters in sechs Auflagen begehrt worden ist, zum nachdenklichsten Probleme, besonders wenn er gar noch hört, dass es auch in den gelehrten Kreisen und selbst an den deutschen Universitäten als ein solches Hand-Orakel willkommen geheissen worden ist. Studenten sollen es wie einen Canon für starke Geister begrüsst, und Professoren sollen nicht widersprochen haben: hier und da hat man darin wirklich ein Religionsbuch für den Gelehrten finden wollen. Strauss selbst giebt zu verstehen, dass das Bekenntnissbuch nicht nur eine Auskunft für den Gelehrten und Gebildeten abgeben möge; aber wir halten uns hier daran, dass es sich zunächst an diese und zwar vornehmlich an die Gelehrten wendet, um ihnen den Spiegel eines Lebens vorzuhalten, wie sie es selbst leben. Denn dies ist das Kunststück: der Magister stellt sich, als ob er das Ideal einer neuen Weltbetrachtung entwerfe, und nun kommt ihm sein Lob aus jedem Munde zurück, weil Jeder meinen kann, gerade er betrachte Welt und Leben so, und gerade an ihm habe Strauss schon erfüllt sehen können, was er erst von der Zukunft fordere. Daraus erklärt sich auch zum Theil der ausserordentliche Erfolg jenes Buches: so, wie im Buche steht, leben wir, so wandeln wir beglückt! ruft der Gelehrte ihm entgegen und freut sich, dass andere sich daran freuen. Ob er über einzelne Dinge, zum Beispiel über Darwin oder die Todesstrafe, zufällig anders denkt als der Magister, hält er selbst für ziemlich gleichgültig, weil er so sicher fühlt, im Ganzen seine eigene Luft zu athmen, und den Widerklang seiner Stimme und seiner Bedürfnisse zu hören. So peinlich diese Einmüthigkeit jeden wahren Freund deutscher Kultur berühren mag, so unerbittlich streng muss er sich eine solche Thatsache erklären und selbst davor nicht zurückschrecken, seine Erklärung öffentlich abzugeben.

Wir kennen ja alle die unserem Zeitalter eigenthümliche Art, die Wissenschaften zu betreiben, wir kennen sie, weil wir sie leben: und eben deshalb stellt sich fast Niemand die Frage, was wohl bei einer solchen Beschäftigung mit den Wissenschaften für die Kultur herauskommen könne, selbst vorausgesetzt, dass überall die beste Befähigung und der ehrlichste Wille, für die Kultur zu wirken, vorhanden sei. Es liegt ja im Wesen des wissenschaftlichen Menschen (ganz abgesehen von seiner gegenwärtigen Gestalt) ein rechtes Paradoxon: er benimmt sich wie der stolzeste Müssiggänger des Glücks: als ob das Dasein nicht eine heillose und bedenkliche Sache sei, sondern ein fester, für ewige Dauer garantirter Besitz. Ihm scheint es erlaubt, ein Leben auf Fragen zu verschwenden, deren Beantwortung im Grunde nur dem, der einer Ewigkeit versichert wäre, wichtig sein könnte. Rings umstarren ihn, den Erben weniger Stunden, die schrecklichsten Abstürze, jeder Tritt sollte ihn erinnern: Wozu? Wohin? Woher? Aber seine Seele erglüht bei der Aufgabe, die Staubfäden einer Blume zu zählen oder die Gesteine am Wege zu zerklopfen, und er versenkt in diese Arbeit das ganze, volle Gewicht seiner Theilnahme, Lust, Kraft und Begierde. Dieses Paradoxon, der wissenschaftliche Mensch, ist nun neuerdings in Deutschland in eine Hast gerathen, als ob die Wissenschaft eine Fabrik sei, und jede Minuten-Versäumniss eine Strafe nach sich ziehe. Jetzt arbeitet er, so hart wie der vierte Stand, der Sclavenstand, arbeitet, sein Studium ist nicht mehr eine Beschäftigung, sondern eine Noth, er sieht weder rechts noch links und geht durch alle Geschäfte und ebenso durch alle Bedenklichkeiten, die das Leben im Schoosse trägt, mit jener halben Aufmerksamkeit oder mit jenem widrigen Erholungs-Bedürfnisse hindurch, welches dem erschöpften Arbeiter zu eigen ist.

So steht er nun auch zur Kultur. Er benimmt sich, als ob das Leben für ihn nur otium sei, aber sine dignitate: und selbst im Traume wirft er sein Joch nicht ab, wie ein Sclave, der selbst in der Freiheit von seiner Noth, seiner Hast und seinen Prügeln träumt. Unsere Gelehrten unterscheiden sich kaum und jedenfalls nicht zu ihren Gunsten von den Ackerbauern, die einen kleinen ererbten Besitz mehren wollen und emsig vom Tag bis in die Nacht hinein bemüht sind, den Acker zu bestellen, den Pflug zu führen und den Ochsen zuzurufen. Nun meint Pascal überhaupt, dass die Menschen so angelegentlich ihre Geschäfte und ihre Wissenschaften betrieben, um nur damit den wichtigsten Fragen zu entfliehen, die jede Einsamkeit, jede wirkliche Musse ihnen aufdringen würde, eben jenen Fragen nach dem Warum, Woher, Wohin. Unseren Gelehrten fällt sogar, wunderlicher Weise, die allernächste Frage nicht ein: wozu ihre Arbeit, ihre Hast, ihr schmerzlicher Taumel nütze sei. Doch nicht etwa, um Brot zu verdienen oder Ehrenstellen zu erjagen? Nein, wahrhaftig nicht. Aber doch mühet ihr euch in der Art der Darbenden und Brotbedürftigen, ja ihr reisst die Speisen mit einer Gier und ohne alle Wahl vom Tische der Wissenschaft, als ob ihr am Verhungern wäret. Wenn ihr aber, als wissenschaftliche Menschen, mit der Wissenschaft verfahrt, wie die Arbeiter mit den Aufgaben, die ihnen ihre Bedürftigkeit und Lebensnoth stellt, was soll da aus einer Kultur werden, die verurtheilt ist, gerade Angesichts einer solchen aufgeregten, athemlosen, hin—und herrennenden, ja zappelnden Wissenschaftlichkeit auf die Stunde ihrer Geburt und Erlösung zu warten? Für sie hat ja Niemand Zeit—und doch, was soll überhaupt die Wissenschaft, wenn sie nicht für die Kultur Zeit hat? So antwortet uns doch wenigstens hier: woher, wohin, wozu alle Wissenschaft, wenn sie nicht zur Kultur führen soll? Nun dann vielleicht zur Barbarei! Und in dieser Richtung sehen wir den Gelehrtenstand schon erschreckend vorgeschritten, wenn wir uns denken dürften, dass so oberflächliche Bücher, wie das Straussische, seinem jetzigen Kulturgrade genug thäten. Denn gerade in ihm finden wir jenes widrige Erholungs-Bedürfniss und jenes beiläufige mit halber Aufmerksamkeit hinhörende Sich-Abfinden mit der Philosophie und Kultur und überhaupt mit allem Ernste des Daseins. Man wird an die Gesellschaft der gelehrten Stände erinnert, die auch, wenn das Fachgespräch schweigt, nur von Ermüdung, von Zerstreuungslust um jeden Preis, von einem zerpflückten Gedächtniss und unzusammenhängender Lebenserfahrung Zeugniss ablegt. Wenn man Strauss über die Lebensfragen reden hört, sei es nun über die Probleme der Ehe oder über den Krieg oder die Todesstrafe, so erschreckt er uns durch den Mangel aller wirklichen Erfahrung, alles ursprünglichen Hineinsehens in die Menschen: alles Urtheilen ist so büchermässig uniform, ja im Grunde sogar nur zeitungsgemäss; litterarische Reminiscenzen vertreten die Stelle von wirklichen Einfällen und Einsichten, eine affectirte Mässigung und Altklugheit in der Ausdrucksweise soll uns für den Mangel an Weisheit und an Gereiftheit des Denkens schadlos halten. Wie genau entspricht dies Alles dem Geiste der umlärmten Hochsitze deutscher Wissenschaft in den grossen Städten. Wie sympathisch muss dieser Geist zu jenem Geiste reden: denn gerade an jenen Stätten ist die Kultur am meisten abhanden gekommen, gerade an ihnen ist selbst das Aufkeimen einer neuen unmöglich gemacht; so lärmend sind die Zurüstungen der hier betriebenen Wissenschaften, so heerdenartig werden dort die beliebtesten Disciplinen auf Unkosten der wichtigsten überfallen. Mit welcher Laterne würde man hier nach Menschen suchen müssen, die eines innigen Sich—Versenkens und einer reinen Hingabe an den Genius fähig wären, und die Muth und Kraft genug hätten, Dämonen zu citiren, die aus unserer Zeit geflohen sind! Aeusserlich betrachtet, findet man freilich an jenen Stätten den ganzen Pomp der Kultur, sie gleichen mit ihren imponirenden Apparaten den Zeughäusern mit ihren ungeheuren Geschützen und Kriegswerkzeugen: wir sehen Zurüstungen und eine emsige Betriebsamkeit, als ob der Himmel gestürmt und die Wahrheit aus dem tiefsten Brunnen herauf geholt werden sollte, und doch kann man im Kriege die grössten Maschinen am schlechtesten gebrauchen. Und ebenso lässt die wirkliche Kultur bei ihrem Kampfe jene Stätten bei Seite liegen und fühlt mit dem besten Instinkte heraus, dass dort für sie nichts zu hoffen und viel zu fürchten ist. Denn die einzige Form der Kultur, mit der sich das entzündete Auge und das abgestumpfte Denk-Organ des gelehrten Arbeiter-Standes abgeben mag, ist eben jene Philister-Kultur, deren Evangelium Strauss verkündet hat.

Betrachten wir einen Augenblick die hauptsächlichen Gründe jener Sympathie, die den gelehrten Arbeiterstand und die Philister-Kultur verknüpfen, so finden wir auch den Weg, der uns zu dem als klassisch anerkannten Schriftsteller Strauss und damit zu unserem letzten Hauptthema führt.

Jene Kultur hat erstens den Ausdruck der Zufriedenheit im Gesichte und will nichts Wesentliches an dem gegenwärtigen Stande der deutschen Gebildetheit geändert haben; vor allem ist sie ernstlich von der Singularität aller deutschen Erziehungs-Institutionen, namentlich der Gymnasien und Universitäten, überzeugt, hört nicht auf, diese dem Auslande anzuempfehlen, und zweifelt keinen Augenblick daran, dass man durch dieselben das gebildetste und urtheilsfähigste Volk der Welt geworden sei. Die Philister-Kultur glaubt an sich und darum auch an die ihr zu Gebote stehenden Methoden und Mittel. Zweitens aber legt sie das höchste Urtheil über alle Kultur- und Geschmacks-Fragen in die Hand des Gelehrten und betrachtet sich selbst als das immer anwachsende Compendium gelehrter Meinungen über Kunst, Litteratur und Philosophie; ihre Sorge ist, den Gelehrten zum Aussprechen seiner Meinungen zu nöthigen und diese dann vermischt, diluirt oder systematisirt dem deutschen Volke als Heiltrank einzugeben. Was ausserhalb dieser Kreise heranwächst, wird so lange mit zweifelnder Halbheit angehört oder nicht angehört, bemerkt oder nicht bemerkt, bis endlich einmal eine Stimme, gleichgültig von wem, wenn er nur recht streng den Gattungs-Charakter des Gelehrten an sich trägt, laut wird, heraus aus jenen Tempelräumen, in denen die traditionelle Geschmacks-Unfehlbarkeit herbergen soll: und von jetzt ab hat die öffentliche Meinung eine Meinung mehr und wiederholt mit hundertfachem Echo die Stimme jenes Einzelnen. In Wirklichkeit aber steht es um die ästhetische Unfehlbarkeit, die in diesen Räumen und bei jenen Einzelnen herbergen soll, sehr bedenklich und zwar so bedenklich, dass man so lange von dem Ungeschmack, der Gedankenlosigkeit und ästhetischen Rohheit eines Gelehrten überzeugt sein kann, als er nicht das Gegentheil erwiesen hat. Und nur Wenige werden das Gegentheil beweisen können. Denn wie Viele werden sich, nachdem sie sich an dem keuchenden und gehetzten Wettlauf der gegenwärtigen Wissenschaft betheiligt haben, überhaupt nur jenen muthigen und ruhenden Blick des kämpfenden Kultur-Menschen erhalten können, wenn sie ihn je besessen haben sollten, jenen Blick, der dieses Wettlaufen selbst als ein barbarisirendes Element verurtheilt? Deshalb müssen diese Wenigen fürderhin in einem Widerspruche leben: was vermöchten sie also gegen einen uniformen Glauben Unzähliger auszurichten, die allesammt die öffentliche Meinung zu ihrer Schutzpatronin gemacht haben und in diesem Glauben sich gegenseitig stützen und tragen? Was hilft es nun, wenn so ein Einzelner sich gegen Strauss erklärt, da doch die Vielen sich für ihn entschieden haben, und die von ihnen angeführte Masse sechs Mal hinter einander nach dem philiströsen Schlaftrunk des Magisters begehren gelernt hat.

Wenn wir hiermit ohne Weiteres angenommen haben, dass das Straussische Bekenntnissbuch bei der öffentlichen Meinung gesiegt habe und als Sieger willkommen geheissen sei, so würde sein Verfasser uns vielleicht aufmerksam machen, dass die mannichfachen Beurtheilungen seines Buches in öffentlichen Blättern einen durchaus nicht einmüthigen und am wenigsten einen unbedingt günstigen Charakter tragen, und dass er selbst gegen den bisweilen äusserst feindseligen Ton und die gar zu freche und herausfordernde Manier einiger dieser Zeitungskämpen in einem Nachwort sich habe verwahren müssen. Wie kann es, wird er uns zurufen, eine öffentliche Meinung über mein Buch geben, wenn trotzdem jeder Journalist mich als vogelfrei betrachten und nach Herzenslust schlecht behandeln darf! Dieser Widerspruch ist leicht zu heben, sobald man an dem Straussischen Buche zwei Seiten unterscheidet, eine theologische und eine schriftstellerische: nur mit der letzteren berührt jenes Buch die deutsche Kultur. Durch seine theologische Färbung steht es ausserhalb unserer deutschen Kultur und erweckt die Antipathien der verschiedenen theologischen Parteien, ja im Grunde jedes einzelnen Deutschen, insofern dieser ein theologischer Sektirer von Natur ist und seinen curiosen Privatglauben nur deshalb erfindet, um mit jedem anderen Glauben dissentiren zu können. Aber hört nur einmal alle diese theologischen Sektirer über Strauss reden, sobald von dem Schriftsteller Strauss gesprochen werden muss; sofort verklingt der theologische Dissonanzen-Lärm, und in reinem Einklang ertönt es wie aus dem Munde Einer Gemeinde: ein klassischer Schriftsteller bleibt er doch! Jeder, auch der verbissenste Orthodoxe, sagt dem Schriftsteller das Günstigste in's Gesicht, und sei es auch nur ein Wort über seine fast Lessingische Dialektik oder über die Feinheit, Schönheit und Gültigkeit seiner ästhetischen Ansichten. Als Buch, so scheint es, entspricht das Straussische Produkt geradezu dem Ideal eines Buches. Die theologischen Widersacher sind, obwohl sie am lautesten geredet haben, in diesem Falle nur ein kleiner Bruchtheil des grossen Publikums: und selbst ihnen gegenüber wird Strauss Recht haben, wenn er sagt: "Gegen die Tausende meiner Leser sind die paar Dutzende meiner öffentlichen Tadler eine verschwindende Minderheit, und sie werden schwerlich beweisen können, dass sie durchaus die treuen Dollmetscher der ersteren sind. Wenn in einer Sache, wie diese, meistens die Nicht-Einverstandenen das Wort genommen, die Einverstandenen sich mit stiller Zustimmung begnügt haben, so liegt das in der Natur der Verhältnisse, die wir ja alle kennen." Also abgesehen von dem Aergerniss des theologischen Bekenntnisses, das Strauss hier und da erregt haben mag, über den Schriftsteller Strauss herrscht, selbst bei den fanatischen Widersachern, denen seine Stimme wie die Stimme des Thieres aus dem Abgrunde klingt, Einmüthigkeit. Und deshalb beweist die Behandlung, die Strauss durch die litterarischen Lohndiener der theologischen Parteien erfahren hat, nichts gegen unseren Satz, dass die Philister-Kultur in diesem Buche einen Triumph gefeiert hat.

Es ist zuzugeben, dass der gebildete Philister im Durchschnitt um einen Grad weniger freimüthig ist als Strauss, oder wenigstens bei öffentlichen Kundgebungen sich mehr zurückhält: um so erbaulicher ist ihm aber dieser Freimuth bei einem Anderen; zu Hause und unter seines Gleichen klatscht er sogar lärmend Beifall und nur gerade schriftlich mag er nicht bekennen, wie sehr ihm das alles von Strauss nach dem Herzen gesagt ist. Denn etwas feige ist nun einmal, wie wir bereits wissen, unser Bildungs-Philister, selbst bei den stärksten Sympathien: und gerade dass Strauss um einen Grad weniger feige ist, das macht ihn zum Führer, während es andererseits auch für seinen Muth eine sehr bestimmte Grenzlinie giebt. Wenn er diese überschritte, wie dies zum Beispiel Schopenhauer fast in jedem Satze thut, dann würde er nicht mehr wie ein Häuptling vor den Philistern herziehen, und man liefe ebenso hurtig davon, als man jetzt hinter ihm drein läuft. Wer dieses wenn nicht weise, so doch jedenfalls kluge Maasshalten und diese mediocritas des Muthes eine aristotelische Tugend nennen wollte, würde freilich im Irrthum sein: denn jener Muth ist nicht die Mitte zwischen zwei Fehlern, sondern zwischen einer Tugend und einem Fehler—und in dieser Mitte, zwischen Tugend und Fehler, liegen alle Eigenschaften des Philisters.

9

"Aber ein klassischer Schriftsteller bleibt er doch!" Nun wir werden sehen.

Es wäre jetzt vielleicht erlaubt, sofort von dem Stilisten und Sprachkünstler Strauss zu reden, aber zuvor lasst uns doch einmal in Erwägung ziehen, ob er im Stande ist, sein Haus als Schriftsteller zu bauen und ob er wirklich die Architektur des Buches versteht. Daraus wird sich bestimmen, ob er ein ordentlicher, besonnener und geübter Buchmacher ist; und sollten wir mit Nein antworten müssen, so bliebe ihm immer noch als letztes refugium seines Ruhmes der Anspruch, ein "klassischer Prosaschreiber" zu sein. Die letzte Fähigkeit ohne die erste würde freilich nicht ausreichen, ihn zum Rang der klassischen Schriftsteller zu erheben: sondern höchstens zu dem der klassischen Improvisatoren oder der Virtuosen des Stils, die aber bei allem Geschick des Ausdruckes im Ganzen und bei dem eigentlichen Hinstellen des Baus die unbeholfene Hand und das befangene Auge des Stümpers zeigen. Wir fragen also, ob Strauss die künstlerische Kraft hat, ein Ganzes hinzusetzen, totum ponere.

Gewöhnlich lässt sich schon nach dem ersten schriftlichen Entwurf erkennen, ob der Verfasser ein Ganzes geschaut und diesem Geschauten gemäss den allgemeinen Gang und die richtigen Maasse gefunden hat. Ist diese wichtigste Aufgabe gelöst und das Gebäude selbst in glücklichen Proportionen aufgerichtet, so bleibt doch noch genug zu thun übrig: wie viel kleinere Fehler sind zu berichtigen, wie viel Lücken auszufüllen, hier und da musste bisher ein vorläufiger Bretterverschlag oder ein Fehlboden genügen, überall liegt Staub und Schutt, und wohin du blickst, gewahrst du die Spuren der Noth und Arbeit; das Haus ist immer noch als Ganzes unwohnlich und unheimlich: alle Wände sind nackt und der Wind saust durch die offenen Fenster. Ob nun die jetzt noch nöthige, grosse und mühsame Arbeit von Strauss gethan ist, geht uns so lange nichts an, als wir fragen, ob er das Gebäude selbst in guten Proportionen und überall als Ganzes hingestellt hat. Das Gegentheil hiervon ist bekanntlich, ein Buch aus Stücken zusammenzusetzen, wie dies die Art der Gelehrten ist. Sie vertrauen darauf, dass diese Stücke einen Zusammenhang unter sich haben und verwechseln hierbei den logischen Zusammenhang und den künstlerischen. Logisch ist nun jedenfalls das Verhältniss der vier Hauptfragen, welche die Abschnitte des Straussischen Buches bezeichnen, nicht: "Sind wir noch Christen? Haben wir noch Religion? Wie begreifen wir die Welt? Wie ordnen wir unser Leben?" und zwar deshalb nicht, weil die dritte Frage nichts mit der zweiten, die vierte nichts mit der dritten und alle drei nichts mit der ersten zu thun haben. Der Naturforscher zum Beispiel, der die dritte Frage aufwirft, zeigt gerade darin seinen unbefleckten Wahrheitssinn, dass er an der zweiten stillschweigend vorübergeht; und dass die Themata des vierten Abschnittes: Ehe, Republik, Todesstrafe durch die Einmischung Darwinistischer Theorien aus dem dritten Abschnitte nur verwirrt und verdunkelt werden würden, scheint Strauss selbst zu begreifen, wenn er thatsächlich auf diese Theorien keine weitere Rücksicht nimmt. Die Frage aber: sind wir noch Christen? verdirbt sofort die Freiheit der philosophischen Betrachtung und färbt sie in unangenehmer Weise theologisch; überdies hat er dabei ganz vergessen, dass der grössere Theil der Menschheit auch heute noch buddhaistisch und nicht christlich ist. Wie darf man bei dem Worte "alter Glaube" ohne Weiteres allein an das Christenthum denken! Zeigt sich hierin, dass Strauss nie aufgehört hat, christlicher Theologe zu sein und deshalb nie gelernt hat, Philosoph zu werden, so überrascht er uns wieder dadurch, dass er nicht zwischen Glauben und Wissen zu unterscheiden vermag und fortwährend seinen sogenannten "neuen Glauben" und die neuere Wissenschaft in Einem Athem nennt. Oder sollte neuer Glaube nur eine ironische Accommodation an den Sprachgebrauch sein? So scheint es fast, wenn wir sehen, dass er hier und da neuen Glauben und neuere Wissenschaft harmlos sich einander vertreten lässt, zum Beispiel auf pag. II, wo er fragt, auf welcher Seite, ob auf der des alten Glaubens oder der neueren Wissenschaft "der in menschlichen Dingen nicht zu vermeidenden Dunkelheiten und Unzulänglichkeiten mehrere sind." Zudem will er nach dem Schema der Einleitung die Beweise angeben, auf welche die moderne Weltbetrachtung sich stützt: alle diese Beweise entlehnt er aber aus der Wissenschaft und gebärdet sich auch hier durchaus als ein Wissender, nicht als Gläubiger.

Im Grunde ist also die neue Religion nicht ein neuer Glaube, sondern fällt mit der modernen Wissenschaft zusammen, ist also als solche gar nicht Religion. Behauptet nun Strauss, dennoch Religion zu haben, so liegen die Gründe dafür abseits von der neueren Wissenschaft. Nur der kleinste Theil des Straussischen Buches, das heisst wenige zerstreute Seiten überhaupt, betreffen das, was Strauss mit Recht einen Glauben nennen dürfte: nämlich jene Empfindung für das All, für welches Strauss dieselbe Pietät fordert, die der Fromme alten Stils für seinen Gott hat. Auf diesen Seiten geht es wenigstens durchaus nicht wissenschaftlich zu; wenn es aber nur ein wenig kräftiger, natürlicher und derber und überhaupt gläubiger zugienge! Gerade das ist höchst auffallend, durch was für künstliche Prozeduren unser Autor erst zum Gefühl kommt, dass er überhaupt noch einen Glauben und eine Religion hat: durch Stechen und Schlagen, wie wir gesehen haben. Er zieht arm und schwächlich daher, dieser exstimulirte Glaube: uns fröstelt ihn anzusehen.

Wenn Strauss in dem Schema der Einleitung versprochen hat, eine Vergleichung anzustellen, ob dieser neue Glaube auch dieselben Dienste leiste, wie der Glaube alten Stils den Alt-Gläubigen, so fühlt er zuletzt selbst, dass er zuviel versprochen habe. Denn die letzte Frage, nach dem gleichen Dienste und dem Besser und Schlechter, wird von ihm schliesslich ganz nebenbei und mit scheuer Eile auf einem Paar Seiten (p. 366 ff.) abgethan, sogar einmal mit dem Verlegenheitstrumpfe: "wer hier sich nicht selbst zu helfen weiss, dem ist überhaupt nicht zu helfen, der ist für unseren Standpunkt noch nicht reif" (p. 366). Mit welcher Wucht der Ueberzeugung glaubte dagegen der antike Stoiker an das All und an die Vernünftigkeit des Alls! Und in welchem Lichte, so betrachtet, erscheint gar der Anspruch auf Originalität seines Glaubens, den Strauss macht? Aber, wie gesagt, ob neu oder alt, original oder nachgemacht, das möchte gleichgültig sein, wenn es nur kräftig, gesund und natürlich zugienge. Strauss selbst lässt diesen herausdestillirten Nothglauben, so oft es geht, im Stich, um uns und sich mit seinem Wissen schadlos zu halten, und um seine neu erlernten naturwissenschaftlichen Kenntnisse mit ruhigerem Gewissen seinen "Wir" zu präsentiren. So scheu er ist, wenn er vom Glauben redet, so rund und voll wird sein Mund, wenn der grösste Wohlthäter der allerneuesten Menschheit, Darwin, citirt wird: dann verlangt er nicht nur Glauben für den neuen Messias, sondern auch für sich, den neuen Apostel, zum Beispiel, wenn er einmal bei dem intricatesten Thema der Naturwissenschaft mit wahrhaft antikem Stolze verkündet: "man wird mir sagen, ich rede da von Dingen, die ich nicht verstehe. Gut; aber es werden Andere kommen, die sie verstehen und die auch mich verstanden haben." Hiernach scheint es fast, als ob die berühmten "Wir" nicht nur auf den Glauben an das All, sondern auch auf den Glauben an den Naturforscher Strauss verpflichtet werden sollen; in diesem Falle würden wir nur wünschen, dass, um diesen letzteren Glauben sich zum Gefühl zu bringen, nicht eben so peinliche und grausame Prozeduren nöthig sind, wie in Betreff des ersteren. Oder genügt es vielleicht gar, dass hier einmal der Gegenstand des Glaubens und nicht der Gläubige gezwickt und gestochen wird, um die Gläubigen zu jener "religiösen Reaction" zu bringen, die das Merkmal des "neuen Glaubens" ist? Welches Verdienst würden wir uns dann um die Religiosität jener "Wir" erwerben!

Es ist nämlich sonst fast zu fürchten, dass die modernen Menschen fortkommen werden, ohne sich sonderlich um die religiöse Glaubens-Zuthat des Apostels zu kümmern: wie sie thatsächlich ohne den Satz von der Vernünftigkeit des Alls bisher fortgekommen sind. Die ganze moderne Natur- und Geschichts-Forschung hat mit dem Straussischen Glauben an das All nichts zu thun, und dass der moderne Philister diesen Glauben nicht braucht, zeigt gerade die Schilderung seines Lebens, die Strauss in dem Abschnitte "wie ordnen wir unser Leben?" macht. Er ist also im Rechte zu zweifeln, ob der "Wagen," dem sich seine "werthen Leser anvertrauen mussten, allen Anforderungen entspräche." Er entspricht ihnen gewiss nicht: denn der moderne Mensch kommt schneller vorwärts, wenn er sich nicht in diesen Straussen-Wagen setzt—oder richtiger: er kam schneller vorwärts, längst bevor dieser Straussen-Wagen existirte. Wenn es nun wahr wäre, dass die berühmte, "nicht zu übersehende Minderheit," von der und in deren Namen Strauss spricht, "grosse Stücke auf Consequenz hält," so müsste sie doch mit dem Wagenbauer Strauss eben so wenig zufrieden sein, als wir mit dem Logiker.

Aber geben wir immerhin den Logiker preis: vielleicht hat das ganze Buch, künstlerisch betrachtet, eine gut erfundene Form und entspricht den Gesetzen der Schönheit, wenn es auch einem gut gearbeiteten Gedankenschema nicht entspricht. Und hier erst kommen wir zu der Frage, ob Strauss ein guter Schriftsteller sei, nachdem wir erkannt haben, dass er sich nicht als wissenschaftlicher, streng ordnender und systematisirender Gelehrter benommen hat.

Vielleicht hat er sich nur dies zur Aufgabe gestellt, nicht sowohl von dem "alten Glauben" fortzuscheuchen, als durch ein anmuthiges und farbenreiches Gemälde eines in der neuen Weltbetrachtung heimischen Lebens anzulocken. Gerade wenn er an Gelehrte und Gebildete, als an seine nächsten Leser dachte, so musste er wohl aus Erfahrung wissen, dass man diese durch das schwere Geschütz wissenschaftlicher Beweise zwar niederschiessen, nie aber zur Uebergabe nöthigen kann, dass aber eben dieselben um so schneller leichtgeschürzten Verführungs-Künsten erliegen. "Leicht geschürzt" und zwar "mit Absicht," nennt aber Strauss sein Buch selbst; als "leicht geschürzt" empfinden und schildern es seine öffentlichen Lobredner, von denen zum Beispiel einer, und zwar ein recht beliebiger, diese Empfindungen folgendermaassen umschreibt: "In anmuthigem Ebenmaasse schreitet die Rede fort, und gleichsam spielend handhabt sie die Kunst der Beweisführung, wo sie kritisch gegen das Alte sich wendet, wie nicht minder da, wo sie das Neue, das sie bringt, verführerisch zubereitet und anspruchslosem wie verwöhntem Geschmacke präsentirt. Fein erdacht ist die Anordnung eines so mannichfaltigen, ungleichartigen Stoffes, wo Alles zu berühren und doch nichts in die Breite zu führen war; zumal die Uebergänge, die von der einen Materie zur anderen überleiten, sind kunstreich gefügt, wenn man nicht etwa noch mehr die Geschicklichkeit bewundern will, mit der unbequeme Dinge bei Seite geschoben oder verschwiegen sind." Die Sinne solcher Lobredner sind, wie sich auch hier ergiebt, nicht gerade fein hinsichtlich dessen, was einer als Autor kann, aber um so feiner für das, was einer will. Was aber Strauss will, verräth uns am deutlichsten seine emphatische und nicht ganz harmlose Anempfehlung Voltaire'scher Grazien, in deren Dienst er gerade jene "leichtgeschürzten" Künste, von denen sein Lobredner spricht, lernen konnte—falls nämlich die Tugend lehrbar ist, und ein Magister je ein Tänzer werden kann.

Wer hat nicht hierüber seine Nebengedanken, wenn er zum Beispiel folgendes Wort Straussens über Voltaire liest (p.219 Volt.): "originell ist Voltaire als Philosoph allerdings nicht, sondern in der Hauptsache Verarbeiter englischer Forschungen: dabei erweist er sich aber durchaus als freier Meister des Stoffes, den er mit unvergleichlicher Gewandtheit von allen Seiten zu zeigen, in alle möglichen Beleuchtungen zu stellen versteht und dadurch, ohne streng methodisch zu sein, auch den Forderungen der Gründlichkeit zu genügen weiss." Alle negativen Züge treffen zu: Niemand wird behaupten, dass Strauss als Philosoph originell, oder dass er streng methodisch sei, aber die Frage wäre, ob wir ihn auch als "freien Meister des Stoffes" gelten lassen und ihm die "unvergleichliche Gewandtheit" zugeben. Das Bekenntniss, dass die Schrift "mit Absicht leicht geschürzt" sei, lässt errathen, dass es auf eine unvergleichliche Gewandtheit mindestens abgesehen war.

Nicht einen Tempel, nicht ein Wohnhaus, sondern ein Gartenhaus inmitten aller Gartenkünste hinzustellen, war der Traum unseres Architekten. Ja es scheint fast, dass selbst jene mysteriöse Empfindung für das All, hauptsächlich als ästhetisches Effectmittel berechnet war, gleichsam als ein Ausblick auf ein irrationales Element, etwa das Meer, mitten heraus aus dem zierlichsten und rationellsten Terrassenwerk. Der Gang durch die ersten Abschnitte, nämlich durch die theologischen Katakomben mit ihrem Dunkel und ihrer krausen und barocken Ornamentik, war wiederum nur ein ästhetisches Mittel, die Reinlichkeit, Helle und Vernünftigkeit des Abschnittes mit der Ueberschrift: "wie begreifen wir die Welt?" durch Kontrast zu heben: denn sofort nach jenem Gang im Düsteren und dem Blick in die irrationale Weite treten wir in eine Halle mit Oberlicht; nüchtern und hell empfängt sie uns, mit Himmelskarten und mathematischen Figuren an den Wänden, gefüllt mit wissenschaftlichen Geräthen, in den Schränken Skelette, ausgestopfte Affen und anatomische Präparate. Von hier aus aber wandeln wir, erst recht beglückt, mitten hinein in die volle Gemächlichkeit unserer Gartenhaus-Bewohner; wir finden sie bei ihren Frauen und Kindern unter ihren Zeitungen und politischen Alltagsgesprächen, wir hören sie eine Zeit lang reden über Ehe und allgemeines Stimmrecht, Todesstrafe und Arbeiterstrikes, und es scheint uns nicht möglich, den Rosenkranz öffentlicher Meinungen schneller abzubeten. Endlich sollen wir auch noch von dem klassischen Geschmacke der hier Hausenden überzeugt werden: ein kurzer Aufenthalt in der Bibliothek und im Musik-Zimmer giebt uns den erwarteten Aufschluss, dass die besten Bücher auf den Regalen und die berühmtesten Musikstücke auf den Notenpulten liegen; man spielt uns sogar etwas vor, und wenn es Haydn'sche Musik sein sollte, so war Haydn jedenfalls nicht Schuld daran, dass es wie Riehl'sche Hausmusik klang. Der Hausherr hat inzwischen Gelegenheit gehabt, sich mit Lessing ganz einverstanden zu erklären, mit Goethe auch, jedoch nur bis auf den zweiten Theil des Faust. Zuletzt preist sich unser Gartenhaus-Besitzer selbst und meint, wem es bei ihm nicht gefiele, dem sei nicht zu helfen, der sei für seinen Standpunkt nicht reif; worauf er uns noch seinen Wagen anbietet, doch mit der artigen Einschränkung, er wolle nicht behaupten, dass derselbe allen Anforderungen entspräche; auch seien die Steine auf seinen Wegen frisch aufgeschüttet und wir würden übel zerstossen werden. Darauf empfiehlt sich unser epikureischer Garten-Gott mit der unvergleichlichen Gewandtheit, die er an Voltaire zu rühmen wusste.

Wer könnte auch jetzt noch an dieser unvergleichlichen Gewandtheit zweifeln? Der freie Meister des Stoffs ist erkannt, der leicht geschürzte Gartenkünstler entpuppt; und immer hören wir die Stimme des Klassikers: als Schriftsteller will ich nun einmal kein Philister sein, will nicht! will nicht! Sondern durchaus Voltaire, der deutsche Voltaire! und höchstens noch der französische Lessing!

Wir verrathen ein Geheimniss: unser Magister weiss nicht immer, was er lieber sein will, Voltaire oder Lessing, aber um keinen Preis ein Philister, womöglich Beides, Lessing und Voltaire—auf dass erfüllet werde, was da geschrieben stehet: "er hatte gar keinen Charakter, sondern wenn er einen haben wollte, so musste er immer erst einen annehmen."

10

Wenn wir Strauss, den Bekenner, recht verstanden haben, so ist er selbst ein wirklicher Philister mit eingeengter, trockener Seele und mit gelehrten und nüchternen Bedürfnissen; und trotzdem würde Niemand mehr erzürnt sein, ein Philister genannt zu werden, als David Strauss, der Schriftsteller. Es würde ihm recht sein, wenn man ihn muthwillig, verwegen, boshaft, tollkühn nennte; sein höchstes Glück wäre aber, mit Lessing oder Voltaire verglichen zu werden, weil diese gewiss keine Philister waren. In der Sucht nach diesem Glück schwankt er öfter, ob er es dem tapferen dialektischen Ungestüm Lessings gleichthun solle, oder ob es ihm besser anstehe, sich als faunischen, freigeisterischen Alten in der Art Voltaires zu gebärden. Beständig macht er, wenn er sich zum Schreiben niedersetzt, ein Gesicht, wie wenn er sich malen lassen wollte, und zwar bald ein Lessingisches, bald ein Voltaire'sches Gesicht. Wenn wir sein Lob der Voltaire'schen Darstellung lesen (p. 217 Volt.), so scheint er der Gegenwart nachdrücklich in's Gewissen zu reden, weshalb sie nicht längst wisse, was sie an dem modernen Voltaire habe: "auch sind die Vorzüge," sagt er, "überall dieselben: einfache Natürlichkeit, durchsichtige Klarheit, lebendige Beweglichkeit, gefällige Anmuth. Wärme und Nachdruck fehlen, wo sie hingehören, nicht; gegen Schwulst und Affectation kam der Widerwille aus Voltaires innerster Natur; wie andererseits, wenn zuweilen Muthwille oder Leidenschaften seinen Ausdruck in's Gemeine herabzogen, die Schuld nicht am Stilisten, sondern am Menschen in ihm lag." Strauss scheint demnach recht wohl zu wissen, was es mit der Simplicität des Stiles auf sich hat: sie ist immer das Merkmal des Genies gewesen, als welches allein das Vorrecht hat, sich einfach, natürlich und mit Naivetät auszusprechen. Es verräth sich also nicht der gemeinste Ehrgeiz, wenn ein Autor eine simple Manier wählt: denn obgleich mancher merkt, für was ein solcher Autor gehalten werden möchte, so ist doch mancher auch so gefällig, ihn eben dafür zu halten. Der geniale Autor verräth sich aber nicht nur in der Schlichtheit und Bestimmtheit des Ausdruckes: seine übergrosse Kraft spielt mit dem Stoffe, selbst wenn er gefährlich und schwierig ist. Niemand geht mit steifem Schritte auf unbekanntem und von tausend Abgründen unterbrochenem Wege: aber das Genie läuft behend und mit verwegenen oder zierlichen Sprüngen auf einem solchen Pfade und verhöhnt das sorgfältige und furchtsame Abmessen der Schritte.

Dass die Probleme, an denen Strauss vorüberläuft, ernst und schrecklich sind und als solche von den Weisen aller Jahrtausende behandelt wurden, weiss Strauss selbst, und trotzdem nennt er sein Buch leicht geschürzt. Von allen diesen Schrecken, von dem finsteren Ernste des Nachdenkens, in den man sonst bei den Fragen über den Werth des Daseins und die Pflichten des Menschen von selbst verfällt, ahnt man nichts mehr, wenn der genialische Magister an uns vorübergaukelt, "leicht geschürzt und mit Absicht," ja leichter geschürzt als sein Rousseau, von dem er uns zu erzählen weiss, dass er sich von unten entblösste und nach oben zu drapirte, während Goethe sich unten drapirt und oben entblösst haben soll. Ganz naive Genies, scheint es, drapiren sich gar nicht, und vielleicht ist das Wort "leicht geschürzt" überhaupt nur ein Euphemismus für nackt. Von der Göttin Wahrheit behaupten ja die Wenigen, die sie gesehen haben, dass sie nackt gewesen sei: und vielleicht ist im Auge solcher, die sie nicht gesehen haben, aber jenen Wenigen glauben, Nacktheit oder Leicht-Geschürztheit schon ein Beweis, mindestens ein Indicium der Wahrheit. Schon der Verdacht ist hier von Vortheil für den Ehrgeiz des Autors: Jemand sieht etwas Nacktes: wie, wenn es die Wahrheit wäre! sagt er sich und nimmt eine feierlichere Miene an, als ihm sonst gewöhnlich ist. Damit hat aber der Autor schon viel gewonnen, wenn er seine Leser zwingt, ihn feierlicher anzusehen, als einen beliebigen fester geschürzten Autor. Es ist der Weg dazu, einmal ein "Klassiker" zu werden: und Strauss erzählt uns selbst, "dass man ihm die ungesuchte Ehre erwiesen habe, ihn als eine Art von klassischem Prosaschreiber anzusehen," dass er also am Ziele seines Weges angekommen sei. Das Genie Strauss läuft in der Kleidung leicht geschürzter Göttinnen als "Klassiker" auf den Strassen herum, und der Philister Strauss soll durchaus, um uns einer Originalwendung dieses Genies zu bedienen, "in Abgang dekretirt" oder "auf Nimmerwiederkehr hinausgeworfen werden."

Ach, der Philister kehrt aber trotz aller Abgangs-Dekrete und alles Hinauswerfens doch wieder und oft wieder! Ach das Gesicht, in Voltaire'sche und Lessingische Falten gezwängt, schnellt doch von Zeit zu Zeit in seine alten ehrlichen, originalen Formen zurück! Ach die Genielarve fällt zu oft herab, und nie war der Blick des Magisters verdrossener, nie waren seine Bewegungen steifer, als wenn er eben den Sprung des Genies nachzuspringen und mit dem Feuerblick des Genies zu blicken versucht hatte. Gerade dadurch, dass er sich in unserer kalten Zone so leicht schürzt, setzt er sich der Gefahr aus, sich öfter und schwerer zu erkälten, als ein Anderer; dass dies Alles dann auch die Anderen merken, mag recht peinlich sein, aber es muss ihm, wenn er je Heilung finden will, auch öffentlich folgende Diagnose gestellt werden. Es gab einen Strauss, einen wackeren, strengen und straffgeschürzten Gelehrten, der uns eben so sympathisch war, wie jeder, der in Deutschland mit Ernst und Nachdruck der Wahrheit dient und innerhalb seiner Grenzen zu herrschen versteht; der, welcher jetzt in der öffentlichen Meinung als David Strauss berühmt ist, ist ein Anderer geworden: die Theologen mögen es verschuldet haben, dass er dieser Andere geworden ist; genug, sein jetziges Spiel mit der Genie-Maske ist uns eben so verhasst oder lächerlich, als uns sein früherer Ernst zum Ernste und zur Sympathie zwang. Wenn er uns neuerdings erklärt: "es wäre auch Undank gegen meinen Genius, wollte ich mich nicht freuen, dass mir neben der Gabe der schonungslos zersetzenden Kritik zugleich die harmlose Freude am künstlerischen Gestalten verliehen ward," so mag es ihn überraschen, dass es trotz diesem Selbstzeugniss Menschen giebt, welche das Umgekehrte behaupten; einmal, dass er die Gabe künstlerischen Gestaltens nie gehabt habe, und sodann, dass die von ihm "harmlos" genannte Freude nichts weniger als harmlos sei, sofern sie eine im Grunde kräftig und tief angelegte Gelehrten- und Kritiker-Natur, das heisst den eigentlichen Straussischen Genius allmählich untergraben und zuletzt zerstört hat. In einer Anwandlung von unbegrenzter Ehrlichkeit fügt zwar Strauss selbst hinzu, er habe immer "den Merck in sich getragen, der ihm zurief: solchen Quark musst du nicht mehr machen, das können die Anderen auch"! Das war die Stimme des ächten Straussischen Genius: diese selbst sagt ihm auch, wie viel oder wie wenig sein neuestes, harmlos leicht geschürztes Testament des modernen Philisters werth sei. Das können die Anderen auch! Und viele könnten es besser! Und die es am besten könnten, begabtere und reichere Geister als Strauss, würden immer nur—Quark gemacht haben.

Ich glaube, dass man wohl verstanden hat, wie sehr ich den Schriftsteller Strauss schätze: nämlich wie einen Schauspieler, der das naive Genie und den Klassiker spielt. Wenn Lichtenberg einmal sagt: "Die simple Schreibart ist schon deshalb zu empfehlen, weil kein rechtschaffener Mann an seinen Ausdrücken künstelt und klügelt," so ist deshalb die simple Manier doch noch lange nicht ein Beweis für schriftstellerische Rechtschaffenheit. Ich wünschte, der Schriftsteller Strauss wäre ehrlicher, dann würde er besser schreiben und weniger berühmt sein. Oder—wenn er durchaus Schauspieler sein will—so wünschte ich, er wäre ein guter Schauspieler und machte es dem naiven Genie und dem Klassiker besser nach, wie man klassisch und genial schreibt. Es bleibt nämlich übrig zu sagen, dass Strauss ein schlechter Schauspieler und sogar ein ganz nichtswürdiger Stilist ist.

11

Der Tadel, ein sehr schlechter Schriftsteller zu sein, schwächt sich freilich dadurch ab, dass es in Deutschland sehr schwer ist, ein mässiger und leidlicher, und ganz erstaunlich unwahrscheinlich, ein guter Schriftsteller zu werden. Es fehlt hier an einem natürlichen Boden, an der künstlerischen Werthschätzung, Behandlung und Ausbildung der mündlichen Rede. Da diese es in allen öffentlichen Aeusserungen, wie schon die Worte Salon-Unterhaltung, Predigt, Parlaments-Rede ausdrücken, noch nicht zu einem nationalen Stile, ja noch nicht einmal zum Bedürfniss eines Stils überhaupt gebracht hat, und alles, was spricht, in Deutschland aus dem naivsten Experimentiren mit der Sprache nicht herausgekommen ist, so hat der Schriftsteller keine einheitliche Norm und hat ein gewisses Recht, es auf eigene Faust einmal mit der Sprache aufzunehmen: was dann, in seinen Folgen, jene grenzenlose Dilapidation der deutschen Sprache der "Jetztzeit" hervorbringen muss, die am nachdrücklichsten Schopenhauer geschildert hat. "Wenn dies so fortgeht," sagt er einmal, "so wird man anno 1900 die deutschen Klassiker nicht mehr recht verstehen, indem man keine andere Sprache mehr kennen wird, als den Lumpen-Jargon der noblen "Jetztzeit"—deren Grundcharakter Impotenz ist." Wirklich lassen sich bereits jetzt deutsche Sprachrichter und Grammatiker in den allerneuesten Zeitschriften dahin vernehmen, dass für unseren Stil unsere Klassiker nicht mehr mustergültig sein könnten, weil sie eine grosse Menge von Worten, Wendungen und syntaktischen Fügungen haben, die uns abhanden gekommen sind: wesshalb es sich geziemen möchte, die sprachlichen Kunststücke im Wort- und Satzgebrauch bei den gegenwärtigen Schrift-Berühmtheiten zu sammeln und zur Nachahmung hinzustellen, wie dies zum Beispiel auch wirklich in dem kurz gefassten Hand- und Schand-Wörterbuch von Sanders geschehen ist. Hier erscheint das widrige Stil-Monstrum Gutzkow als Klassiker: und überhaupt müssen wir uns, wie es scheint, an eine ganz neue und überraschende Schaar von "Klassikern" gewöhnen, unter denen der erste oder mindestens einer der ersten, David Strauss ist, derselbe, welchen wir nicht anders bezeichnen können, als wir ihn bezeichnet haben: nämlich als einen nichtswürdigen Stilisten.

Es ist nun höchst bezeichnend für jene Pseudo-Kultur des Bildungs-Philisters, wie er sich gar noch den Begriff des Klassikers und Musterschriftstellers gewinnt—er, der nur im Abwehren eines eigentlich künstlerisch strengen Kulturstils seine Kraft zeigt und durch die Beharrlichkeit im Abwehren zu einer Gleichartigkeit der Aeusserungen kommt, die fast wieder wie eine Einheit des Stiles aussieht. Wie ist es nur möglich, dass bei dem unbeschränkten Experimentiren, das man mit der Sprache Jedermann gestattet, doch einzelne Autoren einen allgemein ansprechenden Ton finden? Was spricht hier eigentlich so allgemein an? Vor allem eine negative Eigenschaft: der Mangel alles Anstössigen,—anstössig aber ist alles wahrhaft Produktive.— Das Uebergewicht nämlich bei dem, was der Deutsche jetzt jeden Tag liest, liegt ohne Zweifel auf Seiten der Zeitungen nebst dazu gehörigen Zeitschriften: deren Deutsch prägt sich, in dem unaufhörlichen Tropfenfall gleicher Wendungen und gleicher Wörter, seinem Ohre ein, und da er meistens Stunden zu dieser Leserei benutzt, in denen sein ermüdeter Geist ohnehin zum Widerstehen nicht aufgelegt ist, so wird allmählich sein Sprachgehör in diesem Alltags-Deutsch heimisch und vermisst seine Abwesenheit nöthigenfalls mit Schmerz. Die Fabrikanten jener Zeitungen sind aber, ihrer ganzen Beschäftigung gemäss, am allerstärksten an den Schleim dieser Zeitungs-Sprache gewöhnt: sie haben im eigentlichsten Sinne allen Geschmack verloren, und ihre Zunge empfindet höchstens das ganz und gar Corrupte und Willkürliche mit einer Art von Vergnügen. Daraus erklärt sich das tutti unisono, mit welchem, trotz jener allgemeinen Erschlaffung und Erkrankung, in jeden neu erfundenen Sprachschnitzer sofort eingestimmt wird: man rächt sich mit solchen frechen Corruptionen an der Sprache wegen der unglaublichen Langeweile, die sie allmählich ihren Lohnarbeitern verursacht. Ich erinnere mich, einen Aufruf von Berthold Auerbach "an das deutsche Volk" gelesen zu haben, in dem jede Wendung undeutsch verschroben und erlogen war, und der als Ganzes einem seelenlosen Wörtermosaik mit internationaler Syntax glich; um von dem schamlosen Sudeldeutsch zu schweigen, mit dem Eduard Devrient das Andenken Mendelssohn's feierte. Der Sprachfehler also—das ist das Merkwürdige—gilt unserem Philister nicht als anstössig, sondern als reizvolle Erquickung in der gras- und baumlosen Wüste des Alltags-Deutsches. Aber anstössig bleibt ihm das wahrhaft Produktive. Dem allermodernsten Muster-Schriftsteller wird seine gänzlich verdrehte, verstiegene oder zerfaserte Syntax, sein lächerlicher Neologismus nicht etwa nachgesehen, sondern als Verdienst, als Pikanterie angerechnet: aber wehe dem charaktervollen Stilisten, welcher der Alltags-Wendung eben so ernst und beharrlich aus dem Wege geht als den "in letzter Nacht ausgeheckten Monstra der Jetztzeit-Schreiberei," wie Schopenhauer sagt. Wenn das Platte, Ausgenutzte, Kraftlose, Gemeine als Regel, das Schlechte und Corrupte als reizvolle Ausnahme hingenommen wird, dann ist das Kräftige, Ungemeine und Schöne in Verruf: so dass sich in Deutschland fortwährend die Geschichte jenes wohlgebildeten Reisenden wiederholt, der in's Land der Bucklichten kommt, dort überall wegen seiner angeblichen Ungestalt und seines Defektes an Rundung auf das schmählichste verhöhnt wird, bis endlich ein Priester sich seiner annimmt und dem Volke also zuredet: beklagt doch lieber den armen Fremden und bringt dankbaren Sinnes den Göttern ein Opfer, dass sie euch mit diesem stattlichen Fleischberg geschmückt haben.

Wenn jetzt Jemand eine positive Sprachlehre des heutigen deutschen Allerweltstils machen wollte und den Regeln nachspürte, die, als ungeschriebene, ungesprochene und doch befolgte Imperative, auf dem Schreibepulte Jedermanns ihre Herrschaft ausüben, so würde er wunderliche Vorstellungen über Stil und Rhetorik antreffen, die vielleicht noch aus einigen Schul-Reminiscenzen und der einstmaligen Nöthigung zu lateinischen Stilübungen, vielleicht aus der Lektüre französischer Schriftsteller, entnommen sind, und über deren unglaubliche Rohheit jeder regelmässig erzogene Franzose zu spotten ein Recht hat. Ueber diese wunderlichen Vorstellungen, unter deren Regiment so ziemlich jeder Deutsche lebt und schreibt, hat, wie es scheint, noch keiner der gründlichen Deutschen nachgedacht.

Da finden wir die Forderung, dass von Zeit zu Zeit ein Bild oder ein Gleichniss kommen, dass das Gleichniss aber neu sein müsse: neu und modern ist aber für das dürftige Schreiber-Gehirn identisch, und nun quält es sich, von der Eisenbahn, dem Telegraphen, der Dampfmaschine, der Börse seine Gleichnisse abzuziehen und fühlt sich stolz darin, dass diese Bilder neu sein müssen, weil sie modern sind. In dem Bekenntnissbuche Straussens finden wir auch den Tribut an das moderne Gleichniss ehrlich ausgezahlt: er entlässt uns mit dem anderthalb Seiten langen Bilde einer modernen Strassen-Correceion, er vergleicht die Welt ein paar Seiten früher mit der Maschine, ihren Rädern, Stampfen, Hämmern und ihrem "lindernden Oel." (S. 362): Eine Mahlzeit, die mit Champagner beginnt.—(S. 325) Kant als Kaltwasseranstalt.—(S. 265): "Die schweizerische Bundesverfassung verhält sich zur englischen wie eine Bachmühle zu einer Dampfmaschine, wie ein Walzer oder ein Lied zu einer Fuge oder Symphonie."—(S. 258): "Bei jeder Appellation muss der Instanzenzug eingehalten werden. Die mittlere Instanz zwischen dem Einzelnen und der Menschheit aber ist die Nation."—(S. 141): "Wenn wir zu erfahren wünschen, ob in einem Organismus, der uns erstorben scheint, noch Leben sei, pflegen wir es durch einen starken, wohl auch schmerzlichen Reiz, etwa einen Stich, zu versuchen."—(S. 138): "Das religiöse Gebiet in der menschlichen Seele gleicht dem Gebiet der Rothhäute in Amerika."—(S. 137): "Virtuosen der Frömmigkeit in den Klöstern."—(S. 90): "Das Facit aus allem Bisherigen mit vollen Ziffern unter die Rechnung setzen."—(S. 176): "Die Darwinische Theorie gleicht einer nur erst abgesteckten Eisenbahn— — — wo die Fähnlein lustig im Winde flattern." Auf diese Weise, nämlich hoch modern, hat sich Strauss mit der Philister—Forderung abgefunden, dass von Zeit zu Zeit ein neues Gleichniss auftreten müsse.

Sehr verbreitet ist auch eine zweite rhetorische Forderung, dass das Didaktische sich in langen Sätzen, dazu in weiten Abstractionen ausbreiten müsse, dass dagegen das Ueberredende kurze Sätzchen und hintereinander herhüpfende Kontraste des Ausdrucks liebe. Ein Mustersatz für das Didaktische und Gelehrtenhafte, zu voller Schleiermacherischer Zerblasenheit auseinander gezogen und in wahrer Schildkröten-Behendigkeit daherschleichend, steht bei Strauss S. 132: "Dass auf den früheren Stufen der Religion statt Eines solchen Woher mehrere, statt Eines Gottes eine Vielheit von Göttern erscheint, kommt nach dieser Ableitung der Religion daher, dass die verschiedenen Naturkräfte oder Lebensbeziehungen, welche im Menschen das Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit erregen, Anfangs noch in ihrer ganzen Verschiedenartigkeit auf ihn wirken, er sich noch nicht bewusst geworden ist, wie in Betreff der schlechthinigen Abhängigkeit zwischen denselben kein Unterschied, mithin auch das Woher dieser Abhängigkeit oder das Wesen, worauf sie in letzter Beziehung zurückgeht, nur Eines sein kann." Ein entgegengesetztes Beispiel für die kurzen Sätzchen und die affectirte Lebendigkeit, welche einige Leser so aufgeregt hat, dass sie Strauss nur noch mit Lessing zusammen nennen, findet sich Seite 8: "Was ich im Folgenden auszuführen gedenke, davon bin ich mir wohl bewusst, dass es Unzählige eben so gut, Manche sogar viel besser wissen. Einige haben auch bereits gesprochen. Soll ich darum schweigen? Ich glaube nicht. Wir ergänzen uns ja alle gegenseitig. Weiss ein Anderer Vieles besser, so ich doch vielleicht Einiges; und Manches weiss ich anders, sehe ich anders an als die Uebrigen. Also frischweg gesprochen, heraus mit der Farbe, damit man erkenne, ob sie eine ächte sei." Zwischen diesem burschikosen Geschwindmarsch und jener Leichenträger-Saumseligkeit hält allerdings für gewöhnlich der Straussische Stil die Mitte, aber zwischen zwei Lastern wohnt nicht immer die Tugend, sondern zu oft nur die Schwäche, die lahme Ohnmacht, die Impotenz. In der That, ich bin sehr enttäuscht worden, als ich das Straussische Buch nach feineren und geistvolleren Zügen und Wendungen durchsuchte und mir eigens eine Rubrik gemacht hatte, um wenigstens an dem Schriftsteller Strauss hier und da etwas loben zu können, da ich an dem Bekenner nichts Lobenswerthes fand. Ich suchte und suchte, und meine Rubrik blieb leer. Dagegen füllte sich eine andere, mit der Aufschrift: Sprachfehler, verwirrte Bilder, unklare Verkürzungen, Geschmacklosigkeiten und Geschraubtheiten, derart, dass ich es nachher nur wagen kann, eine bescheidene Auswahl aus meiner übergrossen Sammlung von Probestücken mitzutheilen. Vielleicht gelingt es mir, unter dieser Rubrik gerade das zusammenzustellen, was bei den gegenwärtigen Deutschen den Glauben an den grossen und reizvoller Stilisten Strauss hervorbringt: es sind Curiositäten des Ausdrucks die in der austrocknenden Oede und Verstaubtheit des gesammten Buches, wenn nicht angenehm, so doch schmerzlich reizvoll über raschen: wir merken, um uns Straussischer Gleichnisse zu bedienen, an solchen Stellen doch wenigstens, dass wir noch nicht abgestorben sind, und reagiren noch auf solche Stiche. Denn alles Uebrige zeigt jenen Mangel alles Anstössigen, soll heissen alles Productiven, der jetzt dem klassischen Prosaschreiber als positive Eigenschaft angerechnet wird. Die äusserste Nüchternheit und Trockenheit, eine wahrhaft angehungerte Nüchternheit erweckt, jetzt bei der gebildeten Masse die unnatürliche Empfindung, als ob eben diese das Zeichen der Gesundheit wäre, so dass hier gerade gilt, was der Autor des dialogus de oratoribus [Tacitus.] sagt: "illam ipsam quam iactant sanitatem non firmitate sed ieiunio consequuntur." Darum hassen sie mit instinktiver Einmüthigkeit alle firmitas, weil sie von einer ganz anderen Gesundheit Zeugniss ablegt, als die ihrige ist, und suchen die firmitas, die straffe Gedrungenheit, die feurige Kraft der Bewegungen, die Fülle und Zartheit des Muskelspiels zu verdächtigen. Sie haben sich verabredet, Natur und Namen der Dinge umzukehren und fürderhin von Gesundheit zu sprechen, wo wir Schwäche sehen, von Krankheit und Ueberspanntheit, wo uns wirkliche Gesundheit entgegentritt. So gilt denn nun auch David Strauss als "Klassiker."

Wäre nur diese Nüchternheit wenigstens eine streng logische Nüchternheit: aber gerade Einfachheit und Straffheit im Denken ist diesen "Schwachen" abhanden gekommen, und unter ihren Händen ist die Sprache selbst unlogisch zerfasert. Man versuche nur, diesen Straussen-Stil in's Lateinische zu übersetzen: was doch selbst bei Kant angeht und bei Schopenhauer bequem und reizvoll ist. Die Ursache, dass es mit dem Straussischen Deutsch durchaus nicht gehen will, liegt wahrscheinlich nicht daran, dass dies Deutsch deutscher ist als bei jenen, sondern dass es bei ihm verworren und unlogisch, bei jenen voll Einfachheit und Grösse ist. Wer dagegen weiss, wie die Alten sich mühten, um sprechen und schreiben zu lernen, und wie die Neueren sich nicht mühen, der fühlt, wie dies Schopenhauer einmal gesagt hat, eine wahre Erleichterung, wenn er so ein deutsches Buch nothgedrungen abgethan hat, um sich nun wieder zu den anderen alten wie neuen Sprachen wenden zu können; "denn bei diesen," sagt er, "habe ich doch eine regelrecht fixirte Sprache mit durchweg festgestellter und treulich beobachteter Grammatik und Orthographie vor mir und bin ganz dem Gedanken hingegeben, während ich im Deutschen jeden Augenblick gestört werde durch die Naseweisheit des Schreibers, der seine grammatischen und orthographischen Grillen und knolligen Einfälle durchsetzen will: wobei die sich frech spreizende Narrheit mich anwidert. Es ist wahrlich eine rechte Pein, eine schöne, alte, klassische Schriften besitzende Sprache von Ignoranten und Eseln misshandeln zu sehen."

Das ruft euch der heilige Zorn Schopenhauers zu, und ihr dürft nicht sagen, dass ihr ungewarnt geblieben wärt. Wer aber durchaus auf keine Warnung hören und sich den Glauben an den Klassiker Strauss schlechterdings nicht verkümmern lassen will, dem sei als letztes Recept anempfohlen, ihn nachzuahmen. Versucht es immerhin auf eigene Gefahr: ihr werdet es zu büssen haben mit eurem Stile sowohl als zuletzt selbst mit eurem eigenen Kopfe, auf dass das Wort indischer Weisheit auch an euch in Erfüllung gehe: "An einem Kuhhorn zu nagen, ist unnütz und verkürzt das Leben: man reibt die Zähne ab und erhält doch keinen Saft." —

12

Zum Schluss wollen wir doch unserem klassischen Prosaschreiber die versprochene Sammlung von Stilproben vorlegen; vielleicht würde sie Schopenhauer ganz allgemein betiteln: "Neue Belege für den Lumpen-Jargon der Jetztzeit"; denn das mag David Strauss zum Troste gesagt werden, wenn es ihm ein Trost sein kann, dass jetzt alle Welt so schreibt wie er, zum Theil noch miserabler, und dass unter den Blinden jeder Einäugige König ist. Wahrlich, wir gestehen ihm viel zu, wenn wir ihm Ein Auge zugestehen, dies aber thun wir, weil Strauss nicht so schreibt, wie die verruchtesten aller Deutsch-Verderber, die Hegelianer, und ihr verkrüppelter Nachwuchs. Strauss will wenigstens aus diesem Sumpfe wieder heraus und ist zum Theil wieder heraus, doch noch lange nicht auf festem Lande; man merkt es ihm noch an, dass er einmal in seiner Jugend Hegelisch gestottert hat: damals hat sich etwas in ihm ausgerenkt, irgend ein Muskel hat sich gedehnt; damals ist sein Ohr, wie das Ohr eines unter Trommeln aufgewachsenen Knaben, abgestumpft worden, um nie wieder jene künstlerisch zarten und kräftigen Gesetze des Klanges nachzufühlen, unter deren Herrschaft der an guten Mustern und in strenger Zucht herangebildete Schriftsteller lebt. Damit hat er als Stilist sein bestes Hab und Gut verloren und ist verurtheilt, Zeitlebens auf dem unfruchtbaren und gefährlichen Triebsande des Zeitungsstiles sitzen zu bleiben—wenn er nicht in den Hegelschen Schlamm wieder hinunter will. Trotzdem hat er es für ein Paar Stunden der Gegenwart zur Berühmtheit gebracht, und vielleicht weiss man noch ein Paar spätere Stunden, dass er eine Berühmtheit war; dann aber kommt die Nacht und mit ihr die Vergessenheit: und schon mit diesem Augenblicke, in dem wir seine stilistischen Sünden in's schwarze Buch schreiben, beginnt die Dämmerung seines Ruhmes. Denn wer sich an der deutschen Sprache versündigt hat, der hat das Mysterium aller unserer Deutschheit entweiht: sie allein hat durch alle die Mischung und den Wechsel von Nationalitäten und Sitten hindurch sich selbst und damit den deutschen Geist wie durch einen metaphysischen Zauber gerettet. Sie allein verbürgt auch diesen Geist für die Zukunft, falls sie nicht selbst unter den ruchlosen Händen der Gegenwart zu Grunde geht. "Aber Di meliora! Fort Pachydermata, fort! Dies ist die deutsche Sprache, in der Menschen sich ausgedrückt, ja, in der grosse Dichter gesungen und grosse Denker geschrieben haben. Zurück mit den Tatzen!" —

Nehmen wir zum Beispiel gleich einen Satz der ersten Seite des Straussischen Buches: "Schon in dem Machtzuwachse— — — hat der römische Katholicismus eine Aufforderung erkannt, seine ganze geistliche und weltliche Macht in der Hand des für unfehlbar erklärten Papstes diktatorisch zusammenzufassen." Unter diesem schlotterichten Gewande sind verschiedene Sätze, die durchaus nicht zusammenpassen und nicht zu gleicher Zeit möglich sind, versteckt; Jemand kann irgendwie eine Aufforderung erkennen, seine Macht zusammenzufassen oder sie in die Hände eines Diktators zu legen, aber er kann sie nicht in der Hand eines Anderen diktatorisch zusammenfassen. Wird dem Katholicismus gesagt, dass er seine Macht diktatorisch zusammenfasst, so ist er selbst mit einem Diktator verglichen: offenbar soll aber hier der unfehlbare Papst mit dem Diktator verglichen werden, und nur durch unklares Denken und Mangel an Sprachgefühl kommt das Adverbium an die unrechte Stelle. Um aber das Ungereimte der anderen Wendung nachzufühlen, so empfehle ich, dieselbe in folgender Simplification sich vorzusagen: der Herr fasst die Zügel in der Hand seines Kutschers zusammen.—(S. 4): "Dem Gegensatze zwischen dem alten Consistorialregiment und den auf eine Synodalverfassung gerichteten Bestrebungen liegt hinter dem hierarchischen Zuge auf der einen, dem demokratischen auf der anderen Seite, doch eine dogmatisch-religiöse Differenz zu Grunde." Man kann sich nicht ungeschickter ausdrücken: erstens bekommen wir einen Gegensatz zwischen einem Regiment und gewissen Bestrebungen, diesem Gegensatz liegt sodann eine dogmatisch-religiöse Differenz zu Grunde, und diese zu Grunde liegende Differenz befindet sich hinter einem hierarchischen Zuge auf der einen und einem demokratischen auf der anderen Seite. Räthsel: welches Ding liegt hinter zwei Dingen einem dritten Dinge zu Grunde?—(S. 18): "und die Tage, obwohl von dem Erzähler unmissverstehbar zwischen Abend und Morgen eingerahmt" u.s.w. Ich beschwöre Sie, das in's Lateinische zu übersetzen, um zu erkennen, welchen schamlosen Missbrauch Sie mit der Sprache treiben. Tage, die eingerahmt werden! Von einem Erzähler! Unmissverstehbar! Und eingerahme zwischen etwas!—(S. 19): "Von irrigen und widersprechenden Berichten, von falschen Meinungen und Urtheilen kann in der Bibel keine Rede sein." Höchst lüderlich ausgedrückt! Sie verwechseln "in der Bibel" und "bei der Bibel": das erstere hätte seine Stelle vor "kann" haben müssen, das zweite nach "kann." Ich meine, Sie haben sagen wollen: von irrigen und widersprechenden Berichten, von falschen Meinungen und Urtheilen in der Bibel kann keine Rede sein; warum nicht? Weil sie gerade die Bibel ist—also: "kann bei der Bibel nicht die Rede sein." Um nun nicht "in der Bibel" und "bei der Bibel" hintereinander folgen zu lassen, haben Sie sich entschlossen, Lumpen-Jargon zu schreiben und die Präpositionen zu verwechseln. Dasselbe Verbrechen begehen Sie auf S. 20: "Compilationen, in die ältere Stücke zusammengearbeitet sind." Sie meinen, "in die ältere Stücke hineingearbeitet oder in denen ältere Stücke zusammengearbeitet sind."— Auf derselben Seite reden Sie mit studentischer Wendung von einem "Lehrgedicht, das in die unangenehme Lage versetzt wird, zunächst vielfach missdeutet" (besser: missgedeutet), "dann angefeindet und bestritten zu werden," S. 24 sogar von Spitzfindigkeiten, durch die man ihre Härte zu mildern suchte"! Ich bin in der unangenehmen Lage, etwas Hartes, dessen Härte man durch etwas Spitzes mildert, nicht zu kennen; Strauss freilich erzählt (S. 367) sogar von einer "durch Zusammenrütteln gemilderten Schärfe."—(S. 35): "einem Voltaire dort stand hier ein Samuel Hermann Reimarus durchaus typisch für beide Nationen gegenüber." Ein Mann kann immer nur typisch für Eine Nation, aber nicht einem Anderen typisch für beide Nationen gegenüber stehen. Eine schändliche Gewaltthätigkeit, an der Sprache begangen, um einen Satz zu sparen oder zu eskrokiren.—(S. 46): "Nun stand es aber nur wenige Jahre an nach Schleiermachers Tode, dass— —." Solchem Sudler-Gesindel macht freilich die Stellung der Worte keine Umstände; dass hier die Worte: "nach Schleiermachers Tode" falsch stehen, nämlich nach "an," während sie vor "an" stehen sollten, ist Ihren Trommelschlag-Ohren gerade so gleichgültig, als nachher "dass" zu sagen, wo es "bis" heissen muss.—(S. 13): "auch von allen den verschiedenen Schattirungen, in denen das heutige Christenthum schillert, kann es sich bei uns nur etwa um die äusserste, abgeklärteste handeln, ob wir uns zu ihr noch zu bekennen vermögen." Die Frage, worum handelt es sich? kann einmal beantwortet werden: "um das und das," oder zweitens durch einen Satz mit: "ob wir uns" u.s.w.; beide Constructionen durcheinander zu werfen, zeigt den lüderlichen Gesellen. Er wollte vielmehr sagen: "kann es sich bei uns etwa nur bei der äussersten darum handeln, ob wir uns noch zu ihr bekennen": aber die Präpositionen der deutschen Sprache sind, wie es scheint, nur noch da, um jede gerade so anzuwenden, dass die Anwendung überrascht. S. 358 Z. B. verwechselt der "Klassiker," um uns diese Ueberraschung zu machen, die Wendungen: "ein Buch handelt von etwas" und: "es handelt sich um etwas," und nun müssen wir einen Satz anhören, wie diesen: "dabei wird es unbestimmt bleiben, ob es sich von äusserem oder innerem Heldenthum, von Kämpfen auf offenem Felde oder in den Tiefen der Menschenbrust handelt."—(S. 343): "für unsere nervös überreizte Zeit, die namentlich in ihren musikalischen Neigungen diese Krankheit zu Tage legt." Schmähliche Verwechselung von "zu Tage liegen" und "an den Tag legen." Solche Sprachverbesserer sollten doch ohne Unterschied der Person gezüchtigt werden wie die Schuljungen.—(S.70): "wir sehen hier einen der Gedankengänge, wodurch sich die Jünger zur Produktion der Vorstellung der Wiederbelebung ihres getödteten Meisters emporgearbeitet haben." Welches Bild! Eine wahre Essenkehrer-Phantasie! Man arbeitet sich durch einen Gang zu einer Produktion empor!— Wenn S. 72 dieser grosse Held in Worten, Strauss, die Geschichte von der Auferstehung Jesu als "welthistorischen Humbug" bezeichnet, so wollen wir hier, unter dem Gesichtspunkte des Grammatikers, ihn nur fragen, wen er eigentlich bezichtigt, diesen "welthistorischen Humbug," das heisst einen auf Betrug Anderer und auf persönlichen Gewinn abzielenden Schwindel auf dem Gewissen zu haben. Wer schwindelt, wer betrügt? Denn einen "Humbug" vermögen wir uns gar nicht ohne ein Subject vorzustellen, das seinen Vortheil dabei sucht. Da uns auf diese Frage Strauss gar keine Antwort geben kann,—falls er sich scheuen sollte, seinen Gott, das heisst den aus nobler Passion irrenden Gott als diesen Schwindler zu prostituiren—so bleiben wir zunächst dabei, den Ausdruck für ebenso ungereimt als geschmacklos zu halten.— Auf derselben Seite heisst es: "seine Lehren würden wie einzelne Blätter im Winde verweht und zerstreut worden sein, wären diese Blätter nicht von dem Wahnglauben an seine Auferstehung als von einem derben handfesten Einband zusammengefasst und dadurch erhalten worden." Wer von Blättern im Winde redet, führt die Phantasie des Lesers irre, sofern er nachher darunter Papierblätter versteht, die durch Buchbinderarbeit zusammengefasst werden können. Der sorgsame Schriftsteller wird nichts mehr scheuen, als bei einem Bilde den Leser zweifelhaft zu lassen oder irre zu führen: denn das Bild soll etwas deutlicher machen; wenn aber das Bild selbst undeutlich ausgedrückt ist und irre führt, so macht es die Sache dunkler, als sie ohne Bild war. Aber freilich sorgsam ist unser "Klassiker" nicht: er redet muthig von der "Hand unserer Quellen" (S. 76), von dem "Mangel jeder Handhabe in den Quellen" (S. 77) und von der "Hand eines Bedürfnisses" (S. 215).—(S. 73): "Der Glaube an seine Auferstehung kommt auf Rechnung Jesu selbst." Wer sich so gemein merkantilisch bei so wenig gemeinen Dingen auszudrücken liebt, giebt zu verstehen, dass er sein Lebelang recht schlechte Bücher gelesen hat. Von schlechter Lektüre zeugt der Straussische Stil überall. Vielleicht hat er zuviel die Schriften seiner theologischen Gegner gelesen. Woher aber lernt man es, den alten Juden- und Christengott mit so kleinbürgerlichen Bildern zu behelligen, wie sie Strauss zum Beispiel S. 105 zum Besten giebt, wo eben jenem "alten Juden—und Christengott der Stuhl unter dem Leibe weggezogen wird" oder S. 105, wo "an den alten persönlichen Gott gleichsam die Wohnungsnoth herantritt," oder S. 115, wo ebenderselbe in ein "Ausdingstübchen" versetzt wird, "worin er übrigens noch anständig untergebracht und beschäftigt werden soll."—(S. 111): "mit dem erhörlichen Gebet ist abermals ein wesentliches Attribut des persönlichen Gottes dahingefallen." Denkt doch erst, ihr Tintenklexer, ehe ihr klext! Ich sollte meinen, die Tinte müsste erröthen, wenn mit ihr etwas über ein Gebet, das ein "Attribut" sein soll, noch dazu ein "dahingefallenes Attribut," hingeschmiert wird.— Aber was steht auf S. 134! "Manches von den Wunschattributen, die der Mensch früherer Zeiten seinen Göttern beilegte—ich will nur das Vermögen schnellster Raumdurchmessung als Beispiel anführen—hat er jetzt, in Folge rationeller Naturbeherrschung, selbst an sich genommen." Wer wickelt uns diesen Knäuel auf! Gut, der Mensch früherer Zeiten legt den Göttern Attribute bei; "Wunschattribute" ist bereits recht bedenklich! Strauss meint ungefähr, der Mensch habe angenommen, dass die Götter alles das, was er zu haben wünscht, aber nicht hat, wirklich besitzen, und so hat ein Gott Attribute, die den Wünschen der Menschen entsprechen, also ungefähr "Wunschattribute." Aber nun nimmt, nach Straussens Belehrung, der Mensch manches von diesen "Wunschattributen" an sich—ein dunkler Vorgang, ebenso dunkel wie der auf S. 135 geschilderte: Wer wickelt uns diesen Knäuel auf! Gut, der Mensch früherer Zeiten legt den Göttern Attribute bei; "Wunschattribute" ist bereits recht bedenklich! Strauss meint ungefähr, der Mensch habe angenommen, dass die Götter alles das, was er zu haben wünscht, aber nicht hat, wirklich besitzen, und so hat ein Gott Attribute, die den Wünschen der Menschen entsprechen, also ungefähr "Wunschattribute." Aber nun nimmt, nach Straussens Belehrung, der Mensch manches von diesen "Wunschattributen" an sich—ein dunkler Vorgang, ebenso dunkel wie der auf S. 135 geschilderte: "der Wunsch muss hinzutreten, dieser Abhängigkeit auf dem kürzesten Wege eine für den Menschen vortheilhafte Wendung zu geben." Abhängigkeit—Wendung—kürzester Weg, ein Wunsch, der hinzutritt—wehe jedem, der einen solchen Vorgang wirklich sehen wollte! Es ist eine Scene aus dem Bilderbuch für Blinde. Man muss tasten.— Ein neues Beispiel (S. 222): "Die aufsteigende und mit ihrem Aufsteigen selbst über den einzelnen Niedergang übergreifende Richtung dieser Bewegung," ein noch stärkeres (S. 120): Die letzte Kantische Wendung sah sich, wie wir fanden, um ans Ziel zu kommen, genöthigt, ihren Weg eine Strecke weit über das Feld eines zukünftigen Lebens zu nehmen." Wer kein Maulthier ist, findet in diesen Nebeln keinen Weg. Wendungen, die sich genöthigt sehen! Ueber den Niedergang übergreifende Richtungen! Wendungen, die auf dem kürzesten Wege vortheilhaft sind, Wendungen, die ihren Weg eine Strecke weit über ein Feld nehmen! Ueber welches Feld? Ueber das Feld des zukünftigen Lebens! Zum Teufel alle Topographie: Lichter! Lichter! Wo ist der Faden der Ariadne in diesem Labyrinthe? Nein, so darf Niemand sich erlauben zu schreiben, und wenn es der berühmteste Prosaschreiber wäre, noch weniger aber ein Mensch, mit "vollkommen ausgewachsener religiöser und sittlicher Anlage" (S. 50). Ich meine, ein älterer Mann müsste doch wissen, dass die Sprache ein von den Vorfahren überkommenes und den Nachkommen zu hinterlassendes Erbstück ist, vor dem man Ehrfurcht haben soll als vor etwas Heiligem und Unschätzbarem und Unverletzlichem. Sind eure Ohren stumpf geworden, nun so fragt, schlagt Wörterbücher nach, gebraucht gute Grammatiken, aber wagt es nicht, so in den Tag hinein fortzusündigen! Strauss sagt zum Beispiel (S. 136): "ein Wahn, den sich und der Menschheit abzuthun, das Bestreben jedes zur Einsicht Gekommenen sein müsste." Diese Construction ist falsch, und wenn das ausgewachsene Ohr des Scriblers dies nicht merkt, so will ich es ihm in's Ohr schreien: man "thut entweder etwas von Jemandem ab" oder "man thut Jemanden einer Sache ab"; Strauss hätte also sagen müssen: "ein Wahn, dessen sich und die Menschheit abzuthun" oder "den von sich und der Menschheit abzuthun." Was er aber geschrieben hat, ist Lumpen-Jargon. Wie muss es uns nun vorkommen, wenn ein solches stilistisches Pachyderma gar noch in neu gebildeten oder umgeformten alten Worten sich umherwälzt, wenn es von dem "einebnenden Sinne der Socialdemokratie" (S. 279) redet, als ob es Sebastian Frank wäre, oder wenn es eine Wendung des Hans Sachs nachmacht (S. 259): "die Völker sind die gottgewollten, das heisst die naturgemässen Formen, in denen die Menschheit sich zum Dasein bringt, von denen kein Verständiger absehen, kein Braver sich abziehen darf."—(S.252): "Nach einem Gesetze besondert sich die menschliche Gattung in Racen;" (S. 282): "Widerstand zu befahren." Strauss merkt nicht, warum so ein alterthümliches Läppchen mitten in der modernen Fadenscheinigkeit seines Ausdrucks so auffällt. Jedermann nämlich merkt solchen Wendungen und solchen Läppchen an, dass sie gestohlen sind. Aber hier und da ist unser Flickschneider auch schöpferisch und macht sich ein neues Wort zurecht: S. 221 redet er von einem "sich entwickelnden aus—und emporringenden Leben": aber "ausringen" wird entweder von der Wäscherin gesagt oder vom Helden, der den Kampf vollendet hat und stirbt; "ausringen" im Sinne von "sich entwickeln" ist Straussendeutsch, ebenso wie (S. 223): "alle Stufen und Stadien der Ein—und Auswickelung" Wickelkinderdeutsch!—(S. 252): "in Anschliessung" für "im Anschluss."—(S. 137): "im täglichen Treiben des mittelalterlichen Christen kam das religiöse Element viel häufiger und ununterbrochener zur Ansprache." "Viel ununterbrochener," ein musterhafter Comparativ, wenn nämlich Strauss ein prosaischer Musterschreiber ist: freilich gebraucht er auch das unmögliche "vollkommener" (S. 223 und 214). Aber "zur Ansprache kommen"! Woher in aller Welt stammt dies, Sie verwegener Sprachkünstler? denn hier vermag ich mir gar nicht zu helfen, keine Analogie fällt mir ein, die Gebrüder Grimm bleiben, auf diese Art von "Ansprache" angesprochen, stumm wie das Grab. Sie meinen doch wohl nur dies: "das religiöse Element spricht sich häufiger aus," das heisst, Sie verwechseln wieder einmal aus haarsträubender Ignoranz die Präpositionen; aussprechen mit ansprechen zu verwechseln, trägt den Stempel der Gemeinheit an sich, wenn es Sie gleich nicht ansprechen sollte, dass ich das öffentlich ausspreche.—(S. 220): "weil ich hinter seiner subjectiven Bedeutung noch eine objective von unendlicher Tragweite anklingen hörte." Es steht, wie gesagt, schlecht oder seltsam mit Ihrem Gehör: Sie hören "Bedeutungen anklingen," und gar "hinter" anderen Bedeutungen anklingen, und solche gehörte Bedeutungen sollen "von unendlicher Tragweite" sein! Das ist entweder Unsinn oder ein fachmännisches Kanonier-Gleichniss.—(S. 183): "die äusseren Umrisse der Theorie sind hiermit bereits gegeben; auch von den Springfedern, welche die Bewegung innerhalb derselben bestimmen, bereits etliche eingesetzt." Das ist wiederum entweder Unsinn oder ein fachmännisches, uns unzugängliches Posamentirer-Gleichniss. Was wäre aber eine Matratze, die aus Umrissen und eingesetzten Springfedern bestände, werth? Und was sind das für Springfedern, welche die Bewegung innerhalb der Matratze bestimmen! Wir zweifeln an der Straussischen Theorie, wenn er sie uns in der Gestalt vorlegt, und würden von ihr sagen müssen, was Strauss selbst so schön sagt (S. 175): "es fehlen ihr zur rechten Lebensfähigkeit noch wesentliche Mittelglieder." Also heran mit den Mittelgliedern! Umrisse und Springfedern sind da, Haut und Muskeln sind präparirt; so lange man freilich nur diese hat, fehlt noch viel zur rechten Lebensfähigkeit oder, um uns "unvorgreiflicher" mit Strauss auszudrücken: "wenn man zwei so werthverschiedene Gebilde mit Nichtbeachtung der Zwischenstufen und Mittelzustände unmittelbar an einander stösst."—(S. 5): "Aber man kann ohne Stellung sein und doch nicht am Boden liegen." Wir verstehen Sie wohl, Sie leicht geschürzter Magister! Denn wer nicht steht und auch nicht liegt, der fliegt, schwebt vielleicht, gaukelt oder flattert. Lag es Ihnen aber daran, etwas Anderes als Ihre Flatterhaftigkeit auszudrücken, wie der Zusammenhang fast errathen lässt, so würde ich an Ihrer Stelle ein anderes Gleichniss gewählt haben; das drückt dann auch etwas Anderes aus.—(S. 5): "die notorisch dürr gewordenen Zweige des alten Baumes"; welcher notorisch dürr gewordene Stil!—(S. 6): "der könne auch einem unfehlbaren Papste, als von jenem Bedürfniss gefordert, seine Anerkennung nicht versagen." Man soll den Dativ um keinen Preis mit dem Accusativ verwechseln: das giebt sonst bei Knaben einen Schnitzer, bei prosaischen Musterschreibern ein Verbrechen.—(S. 8) finden wir "Neubildung einer neuen Organisirung der idealen Elemente im Völkerleben." Nehmen wir an, dass ein solcher tautologischer Unsinn sich wirklich einmal aus dem Tintenfass auf das Papier geschlichen hat, muss man ihn dann auch drucken lassen? Ist es erlaubt, so etwas bei der Correctur nicht zu sehen? Bei der Correctur von sechs Auflagen! Beiläufig zu S. 9: wenn man einmal Schiller'sche Worte citirt, dann etwas genauer und nicht nur so beinahe! Das gebietet der schuldige Respect. Also muss es heissen: "ohne Jemandes Abgunst zu fürchten."—(S. 16): "denn da wird sie alsbald zum Riegel, zur hemmenden Mauer, gegen die sich nun der ganze Andrang der fortschreitenden Vernunft, alle Mauerbrecher der Kritik, mit leidenschaftlichem Widerwillen richten." Hier sollen wir uns etwas denken, das erst zum Riegel, dann zur Mauer wird, wogegen endlich "sich Mauerbrecher mit leidenschaftlichem Widerwillen" oder gar ein "Andrang" mit leidenschaftlichem Widerwillen richtet. Herr, reden Sie doch wie ein Mensch aus dieser Welt! Mauerbrecher werden von Jemandem gerichtet und richten sich nicht selbst, und nur der, welcher sie richtet, nicht der Mauerbrecher selbst, kann leidenschaftlichen Widerwillen haben, obwohl selten einmal Jemand gerade gegen eine Mauer einen solchen Widerwillen haben wird, wie Sie uns vorreden.—(S. 266): "weswegen derlei Redensarten auch jederzeit den beliebten Tummelplatz demokratischer Plattheiten gebildet haben." Unklar gedacht! Redensarten können keinen Tummelplatz bilden! sondern sich nur selbst auf einem solchen tummeln. Strauss wollte vielleicht sagen: "weshalb derlei Gesichtspunkte auch jederzeit den beliebten Tummelplatz demokratischer Redensarten und Plattheiten gebildet haben."—(S. 320): "das Innere eines- zart- und reichbesaiteten Dichtergemüths, dem bei seiner weitausgreifenden Thätigkeit auf den Gebieten der Poesie und Naturforschung, der Geselligkeit und Staatsgeschäfte, die Rückkehr zu dem milden Herdfeuer einer edlen Liebe stetiges Bedürfniss blieb." Ich bemühe mich, ein Gemüth zu imaginiren, das harfenartig mit Saiten bezogen ist, und welches sodann eine "weitausgreifende Thätigkeit" hat, das heisst ein galoppirendes Gemüth, welches wie ein Rappe weitausgreift, und das endlich wieder zum stillen Herdfeuer zurückkehrt. Habe ich nicht Recht, wenn ich diese galoppirende und zum Herdfeuer zurückkehrende überhaupt auch mit Politik sich abgebende Gemüthsharfe recht originell finde, so wenig originell, so abgebraucht, ja so unerlaubt "das zartbesaitete Dichtergemüth" selbst ist? An solchen geistreichen Neubildungen des Gemeinen oder Absurden erkennt man den "klassischen Prosaschreiber."—(S. 74): "wenn wir die Augen aufthun, und den Erfund dieses Augenaufthuns uns ehrlich eingestehen wollten." In dieser prächtigen und feierlich nichtssagenden Wendung imponirt nichts mehr als die Zusammenstellung des "Erfundes" mit dem Worte "ehrlich": wer etwas findet und nicht herausgiebt, den "Erfund" nicht eingesteht, ist unehrlich. Strauss thut das Gegentheil und hält es für nöthig, dies öffentlich zu loben und zu bekennen. Aber wer hat ihn denn getadelt? fragte ein Spartaner.—(S. 43): "nur in einem Glaubensartikel zog er die Fäden kräftiger an, der allerdings auch der Mittelpunkt der christlichen Dogmatik ist." Es bleibt dunkel, was er eigentlich gemacht hat: wann zieht man denn Fäden an? Sollten diese Fäden vielleicht Zügel und der kräftiger Anziehende ein Kutscher gewesen sein? Nur mit dieser Correctur verstehe ich das Gleichniss.—(S. 226): "In den Pelzröcken liegt eine richtigere Ahnung." Unzweifelhaft! So weit war "der vom Uraffen abgezweigte Urmensch noch lange nicht" (p. 226), zu wissen, dass er es einmal bis zur Straussischen Theorie bringen werde. Aber jetzt wissen wir es "dahin wird und muss es gehen, wo die Fähnlein lustig im Winde flattern. Ja lustig und zwar im Sinne der reinsten, erhabensten Geistesfreude" (p. 176). Strauss ist so kindlich über seine Theorie vergnügt, dass sogar die "Fähnlein" lustig werden, sonderbarer Weise sogar lustig "im Sinne der reinsten und erhabensten Geistesfreude." Und nun wird es auch immer lustiger! Plötzlich sehen wir "drei Meister, davon jeder folgende sich auf des Vorgängers Schultern stellt" (S. 361), ein rechtes Kunstreiterstückchen, das uns Haydn, Mozart und Beethoven zum Besten geben; wir sehen Beethoven wie ein Pferd (S. 356) "über den Strang schlagen"; eine "frisch beschlagene Strasse" (S. 367) präsentirt sich uns, (während wir bisher nur von frisch beschlagenen Pferden wussten), ebenfalls "ein üppiges Mistbeet für den Raubmord" (S. 287); trotz diesen so ersichtlichen Wundern wird "das Wunder in Abgang decretirt" (S. 176).Plötzlich erscheinen die Kometen(S. 164); aber Strauss beruhigt uns: "bei dem lockeren Völkchen der Kometen kann von Bewohnern nicht die Rede sein": wahre Trostworte, da man sonst bei einem lockeren Völkchen, auch in Hinsicht auf Bewohner, nichts verschwören sollte. Inzwischen ein neues Schauspiel: Strauss selber "rankt sich" an einem "Nationalgefühl zum Menschheitsgefühle empor" (S. 258), während ein Anderer "zu immer roherer Demokratie heruntergleitet" (S. 264). Herunter! Ja nicht hinunter! gebietet unser Sprachmeister, der (S. 269) recht nachdrücklich falsch sagt, "in den organischen Bau gehört ein tüchtiger Adel herein." In einer höheren Sphäre bewegen sich, unfassbar hoch über uns, bedenkliche Phänomene, zum Beispiel "das Aufgeben der spiritualistischen Herausnahme der Menschen aus der Natur" (S. 201), oder (S. 210) "die Widerlegung des Sprödethuns"; ein gefährliches Schauspiel auf S. 241, wo "der Kampf um's Dasein im Thierreich sattsam losgelassen wird."—S. 359 "springt" sogar wunderbarer Weise "eine menschliche Stimme der Instrumentalmusik bei," aber eine Thür wird aufgemacht, durch welche das Wunder (S. 177) "auf Nimmerwiederkehr hinausgeworfen wird"—S. 123 "sieht der Augenschein im Tode den ganzen Menschen, wie er war, zu Grunde gehen"; noch nie bis auf den Sprachbändiger Strauss hat der "Augenschein gesehen": nun haben wir es in seinem Sprach-Guckkasten erlebt und wollen ihn preisen. Auch das haben wir von ihm zuerst gelernt, was es heisst: "unser Gefühl für das All reagirt, wenn es verletzt wird, religiös," und erinnern uns der dazu gehörigen Procedur. Wir wissen bereits, welcher Reiz darin liegt (S. 280), "erhabene Gestalten wenigstens bis zum Knie in Sicht zu bekommen" und schätzen uns darum glücklich, den "klassischen Prosaschreiber," zwar mit dieser Beschränkung der Aussicht, aber doch immerhin wahrgenommen zu haben. Ehrlich gesagt: was wir gesehen haben, waren thönerne Beine, und was wie gesunde Fleischfarbe erschien, war nur aufgemalte Tünche. Freilich wird die Philister-Kultur in Deutschland entrüstet sein, wenn man von bemalten Götzenbildern spricht, wo sie einen lebendigen Gott sieht. Wer es aber wagt, ihre Bilder umzuwerfen, der wird sich schwerlich scheuen, ihr, aller Entrüstung zum Trotz, in's Gesicht zu sagen, dass sie selbst verlernt habe, zwischen lebendig und todt, ächt und unächt, original und nachgemacht, Gott und Götze zu unterscheiden, und dass ihr der gesunde, männliche Instinkt für das Wirkliche und Rechte verloren gegangen sei. Sie selbst verdient den Untergang: und jetzt bereits sinken die Zeichen ihrer Herrschaft, jetzt bereits fällt ihr Purpur; wenn aber der Purpur fällt, muss auch der Herzog nach. —

Damit habe ich mein Bekenntniss abgelegt. Es ist das Bekenntniss eines Einzelnen; und was vermöchte so ein Einzelner gegen alle Welt, selbst wenn seine Stimme überall gehört würde! Sein Urtheil würde doch nur, um Euch zu guterletzt mit einer ächten und kostbaren Straussenfeder zu schmücken, "von eben so viel subjectiver Wahrheit als ohne jede objective Beweiskraft sein" —nicht wahr, meine Guten? Seid deshalb immerhin getrosten Muthes! Einstweilen wenigstens wird es bei Eurem "von eben so viel—als ohne" sein Bewenden haben. Einstweilen! So lange nämlich das noch als unzeitgemäss gilt, was immer an der Zeit war und jetzt mehr als je an der Zeit ist und Noth thut—die Wahrheit zu sagen. —

Zweites Stück

Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben.

Vorwort

"Uebrigens ist mir Alles verhasst, was mich bloss belehrt, ohne meine Thätigkeit zu vermehren, oder unmittelbar zu beleben." Dies sind Worte Goethes, mit denen, als mit einem herzhaft ausgedrückten Ceterum censeo, unsere Betrachtung über den Werth und den Unwerth der Historie beginnen mag. In derselben soll nämlich dargestellt werden, warum Belehrung ohne Belebung, warum Wissen, bei dem die Thätigkeit erschlafft, warum Historie als kostbarer Erkenntniss-Ueberfluss und Luxus uns ernstlich, nach Goethes Wort, verhasst sein muss—deshalb, weil es uns noch am Nothwendigsten fehlt, und weil das Ueberflüssige der Feind des Nothwendigen ist. Gewiss, wir brauchen die Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müssiggänger im Garten des Wissens braucht, mag derselbe auch vornehm auf unsere derben und anmuthlosen Bedürfnisse und Nöthe herabsehen. Das heisst, wir brauchen sie zum Leben und zur That, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der That oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten That. Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es giebt einen Grad, Historie zu treiben und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet: ein Phänomen, welches an merkwürdigen Symptomen unserer Zeit sich zur Erfahrung zu bringen jetzt eben so nothwendig ist als es schmerzlich sein mag.

Ich habe mich bestrebt eine Empfindung zu schildern, die mich oft genug gequält hat; ich räche mich an ihr, indem ich sie der Oeffentlichkeit preisgebe. Vielleicht wird irgend Jemand durch eine solche Schilderung veranlasst, mir zu erklären, dass er diese Empfindung zwar auch kenne, aber dass ich sie nicht rein und ursprünglich genug empfunden und durchaus nicht mit der gebührenden Sicherheit und Reife der Erfahrung ausgesprochen habe. So vielleicht der Eine oder der Andere; die Meisten aber werden mir sagen, dass es eine ganz verkehrte, unnatürliche, abscheuliche und schlechterdings unerlaubte Empfindung sei, ja dass ich mich mit derselben der so mächtigen historischen Zeitrichtung unwürdig gezeigt habe, wie sie bekanntlich seit zwei Menschenaltern unter den Deutschen namentlich zu bemerken ist. Nun wird jedenfalls dadurch, dass ich mich mit der Naturbeschreibung meiner Empfindung hervorwage, die allgemeine Wohlanständigkeit eher gefördert als beschädigt, dadurch dass ich Vielen Gelegenheit gebe, einer solchen Zeitrichtung, wie der eben erwähnten, Artigkeiten zu sagen. Für mich aber gewinne ich etwas, was mir noch mehr werth ist als die Wohlanständigkeit—öffentlich über unsere Zeit belehrt und zurecht gewiesen zu werden.

Are sens