Aber es giebt Augenblicke, wo wir dies begreifen: dann zerreissen die Wolken, und wir sehen, wie wir sammt aller Natur uns zum Menschen hindrängen, als zu einem Etwas, das hoch über uns steht. Schaudernd blicken wir, in jener plötzlichen Helle, um uns und rückwärts: da laufen die verfeinerten Raubthiere und wir mitten unter ihnen. Die ungeheure Bewegtheit der Menschen auf der grossen Erdwüste, ihr Städte- und Staatengründen, ihr Kriegeführen, ihr rastloses Sammeln und Auseinanderstreuen, ihr Durcheinander-Rennen, von einander Ablernen, ihr gegenseitiges Überlisten und Niedertreten, ihr Geschrei in, Noth, ihr Lustgeheul im Siege—alles ist Fortsetzung der Thierheit: als ob der Mensch absichtlich zurückgebildet und um seine metaphysische Anlage betrogen werden sollte, ja als ob die Natur, nachdem sie so lange den Menschen ersehnt und erarbeitet hat, nun vor ihm zurückbebte und lieber wieder zurück in die Unbewusstheit des Triebes wollte. Ach, sie braucht Erkenntniss, und ihr graut vor der Erkenntniss, die ihr eigentlich Noth thut; und so flackert die Flamme unruhig und gleichsam vor sich selbst erschreckt hin und her und ergreift tausend Dinge zuerst, bevor sie das ergreift, dessentwegen die Natur überhaupt der Erkenntniss bedarf. Wir wissen es Alle in einzelnen Augenblicken, wie die weitläuftigsten Anstalten unseres Lebens nur gemacht werden, um vor unserer eigentlichen Aufgabe zu fliehen, wie wir gerne irgendwo unser Haupt verstecken möchten, als ob uns dort unser hundertäugiges Gewissen nicht erhaschen könnte, wie wir unser Herz an den Staat, den Geldgewinn, die Geselligkeit oder die Wissenschaft hastig wegschenken, bloss um es nicht mehr zu besitzen, wie wir selbst der schweren Tagesarbeit hitziger und besinnungsloser fröhnen, als nöthig wäre um zu leben: weil es uns nöthiger scheint, nicht zur Besinnung zu kommen. Allgemein ist die Hast, weil jeder auf der Flucht vor sich selbst ist, allgemein auch das scheue Verbergen dieser Hast, weil man zufrieden scheinen will und die scharfsichtigeren Zuschauer über sein Elend täuschen möchte, allgemein das Bedürfniss nach neuen klingenden Wort-Schellen, mit denen behängt das Leben etwas Lärmend-Festliches bekommen soll. Jeder kennt den sonderbaren Zustand, wenn sich plötzlich unangenehme Erinnerungen aufdrängen und wir dann durch heftige Gebärden und Laute bemüht sind, sie uns aus dem Sinne zu schlagen: aber die Gebärden und Laute des allgemeinen Lebens lassen errathen, dass wir uns Alle und immerdar in einem solchen Zustande befinden, in Furcht vor der Erinnerung und Verinnerlichung. Was ist es doch, was uns so häufig anficht, welche Mücke lässt uns nicht schlafen? Es geht geisterhaft um uns zu, jeder Augenblick des Lebens will uns etwas sagen, aber wir wollen diese Geisterstimme nicht hören. Wir fürchten uns, wenn wir allein und stille sind, dass uns etwas in das Ohr geraunt werde, und so hassen wir die Stille und betäuben uns durch Geselligkeit.
Dies Alles begreifen wir, wie gesagt, dann und wann einmal und wundern uns sehr über alle die schwindelnde Angst und Hast und über den ganzen traumartigen Zustand unseres Lebens, dem vor dem Erwachen zu grauen scheint und das um so lebhafter und unruhiger träumt, je näher es diesem Erwachen ist. Aber wir fühlen zugleich, wie wir zu schwach sind, jene Augenblicke der tiefsten Einkehr lange zu ertragen und wie nicht wir die Menschen sind, nach denen die gesammte Natur sich zu ihrer Erlösung hindrängt: viel schon dass wir überhaupt einmal ein wenig mit dem Kopfe heraustauchen und es merken, in welchen Strom wir tief versenkt sind. Und auch dies gelingt uns nicht mit eigner Kraft, dieses Auftauchen und Wachwerden für einen verschwindenden Augenblick, wir müssen gehoben werden—und wer sind die, welche uns heben?
Das sind jene wahrhaften Menschen, jene Nichtmehr-Thiere, die Philosophen, Künstler und Heiligen; bei ihrem Erscheinen und durch ihr Erscheinen macht die Natur, die nie springt, ihren einzigen Sprung und zwar einen Freudesprung, denn sie fühlt sich zum ersten Male am Ziele, dort nämlich, wo sie begreift, dass sie verlernen müsse, Ziele zu haben und dass sie das Spiel des Lebens und Werdens zu hoch gespielt habe. Sie verklärt sich bei dieser Erkenntniss, und eine milde Abendmüdigkeit, das, was die Menschen "die Schönheit" nennen, ruht auf ihrem Gesichte. Was sie jetzt, mit diesen verklärten Mienen ausspricht, das ist die grosse Aufklärung über das Dasein; und der höchste Wunsch, den Sterbliche wünschen können, ist, andauernd und offnen Ohr's an dieser Aufklärung theilzunehmen. Wenn einer darüber nachdenkt, was zum Beispiel Schopenhauer im Verlaufe seines Lebens alles gehört haben muss, so mag er wohl hinterdrein zu sich sagen: "ach deine tauben Ohren, dein dumpfer Kopf, dein flackernder Verstand, dein verschrumpftes Herz, ach alles was ich mein nenne! wie verachte ich das! Nicht fliegen zu können, sondern nur flattern! Über sich hinauf zu sehen und nicht hinauf zu können! Den Weg zu kennen und fast zu betreten, der zu jenem unermesslichen Freiblick des Philosophen führt, und nach wenigen Schritten zurück zu taumeln! Und wenn es nur Ein Tag wäre, wo jener grösste Wunsch sich erfüllte, wie bereitwillig böte man das übrige Leben zum Entgelt an! So hoch zu steigen, wie je ein Denker stieg, in die reine Alpen- und Eisluft hinein, dorthin wo es kein Vernebeln und Verschleiern mehr giebt und wo die Grundbeschaffenheit der Dinge sich rauh und starr, aber mit unvermeidlicher Verständlichkeit ausdrückt! Nur daran denkend wird die Seele einsam und unendlich; erfüllte sich aber ihr Wunsch, fiele einmal der Blick steil und leuchtend wie ein Lichtstrahl auf die Dinge nieder, erstürbe die Scham, die Ängstlichkeit und die Begierde—mit welchem Wort wäre ihr Zustand zu benennen, jene neue und räthselhafte Regung ohne Erregtheit, mit der sie dann, gleich Schopenhauers Seele, auf der ungeheuren Bilderschrift des Daseins, auf der steingewordnen Lehre vom Werden ausgebreitet liegen bliebe, nicht als Nacht, sondern als glühendes, rothgefärbtes, die Welt überströmendes Licht. Und welches Loos hinwiederum, genug von der eigenthümlichen Bestimmung und Seligkeit des Philosophen zu ahnen, um die ganze Unbestimmtheit und Unseligkeit des Nichtphilosophen, des Begehrenden ohne Hoffnung, zu empfinden! Sich als Frucht am Baume zu wissen, die vor zu vielem Schatten nie reif werden kann und dicht vor sich den Sonnenschein liegen zu sehen, der einem fehlt!"
Es wäre Qual genug, um einen solchermaassen Missbegabten neidisch und boshaft zu machen, wenn er überhaupt neidisch und boshaft werden könnte; wahrscheinlich wird er aber endlich seine Seele herumwenden, dass sie sich nicht in eitler Sehnsucht verzehre, und jetzt wird er einen neuen Kreis von Pflichten entdecken.
Hier bin ich bei der Beantwortung der Frage angelangt, ob es möglich ist, sich mit dem grossen Ideale des Schopenhauerischen Menschen durch eine regelmässige Selbstthätigkeit zu verbinden. Vor allen Dingen steht dies fest: jene neuen Pflichten sind nicht die Pflichten eines Vereinsamten, man gehört vielmehr mit ihnen in eine mächtige Gemeinsamkeit hinein, welche zwar nicht durch äusserliche Formen und Gesetze, aber wohl durch einen Grundgedanken zusammengehalten wird. Es ist dies der Grundgedanke der Kultur, in sofern diese jedem Einzelnen von uns nur Eine Aufgabe zu stellen weiss: die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und ausser uns zu fördern und dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten. Denn wie die Natur des Philosophen bedarf, so bedarf sie des Künstlers, zu einem metaphysischen Zwecke, nämlich zu ihrer eignen Aufklärung über sich selbst, damit ihr endlich einmal als reines und fertiges Gebilde entgegengestellt werde, was sie in der Unruhe ihres Werdens nie deutlich zu sehen bekommt—also zu ihrer Selbsterkenntniss. Goethe war es, der mit einem übermüthig tiefsinnigen Worte es merken liess, wie der Natur alle ihre Versuche nur soviel gelten, damit endlich der Künstler ihr Stammeln erräth, ihr auf halbem Wege entgegenkommt und ausspricht, was sie mit ihren Versuchen eigentlich will. "Ich habe es oft gesagt, ruft er einmal aus, und werde es noch oft wiederholen, die causa finalis der Welt—und Menschenhändel ist die dramatische Dichtkunst. Denn das Zeug ist sonst absolut zu nichts zu brauchen." Und so bedarf die Natur zuletzt des Heiligen, an dem das Ich ganz zusammengeschmolzen ist und dessen leidendes Leben nicht oder fast nicht mehr individuell empfunden wird, sondern als tiefstes Gleich- Mit- und Eins-Gefühl in allem Lebendigen: des Heiligen, an dem jenes Wunder der Verwandlung eintritt, auf welches das Spiel des Werdens nie verfällt, jene endliche und höchste Menschwerdung, nach welcher alle Natur hindrängt und—treibt, zu ihrer Erlösung von sich selbst. Es ist kein Zweifel, wir Alle sind mit ihm verwandt und verbunden, wie wir mit dem Philosophen und dem Künstler verwandt sind; es giebt Augenblicke und gleichsam Funken des hellsten liebevollsten Feuers, in deren Lichte wir nicht mehr das Wort "ich" verstehen; es liegt jenseits unseres Wesens etwas, was in jenen Augenblicken zu einem Diesseits wird, und deshalb begehren wir aus tiefstem Herzen nach den Brücken zwischen hier und dort. In unserer gewöhnlichen Verfassung können wir freilich nichts zur Erzeugung des erlösenden Menschen beitragen, deshalb hassen wir uns in dieser Verfassung, ein Hass, welcher die Wurzel jenes Pessimismus ist, den Schopenhauer unser Zeitalter erst wieder lehren musste, welcher aber so alt ist als es je Sehnsucht nach Kultur gab. Seine Wurzel, aber nicht seine Blüthe, sein unterstes Geschoss gleichsam, aber nicht sein Giebel, der Anfang seiner Bahn, aber nicht sein Ziel: denn irgendwann müssen wir noch lernen, etwas Anderes zu hassen und Allgemeineres, nicht mehr unser Individuum und seine elende Begrenztheit, seinen Wechsel und seine Unruhe, in jenem erhöhten Zustande, in dem wir auch etwas Anderes lieben werden als wir jetzt lieben können. Erst wenn wir, in der jetzigen oder einer kommenden Geburt, selber in jenen erhabensten Orden der Philosophen, der Künstler und der Heiligen aufgenommen sind, wird uns auch ein neues Ziel unserer Liebe und unseres Hasses gesteckt sein,—einstweilen haben wir unsre Aufgabe und unsern Kreis von Pflichten, unsern Hass und unsre Liebe. Denn wir wissen, was die Kultur ist. Sie will, um die Nutzanwendung auf den Schopenhauerischen Menschen zu machen, dass wir seine immer neue Erzeugung vorbereiten und fördern, indem wir das ihr Feindselige kennen lernen und aus dem Wege räumen—kurz dass wir gegen Alles unermüdlich ankämpfen, was uns um die höchste Erfüllung unsrer Existenz brachte, indem es uns hinderte, solche Schopenhauerische Menschen selber zu werden. —
6
Mitunter ist es schwerer, eine Sache zuzugeben als sie einzusehen; und so gerade mag es den Meisten ergehen, wenn sie den Satz überlegen: "die Menschheit soll fortwährend daran arbeiten, einzelne grosse Menschen zu erzeugen—und dies und nichts Anderes sonst ist ihre Aufgabe." Wie gerne möchte man eine Belehrung auf die Gesellschaft und ihre Zwecke anwenden, welche man aus der Betrachtung einer jeden Art des Thier- und Pflanzenreichs gewinnen kann, dass es bei ihr allein auf das einzelne höhere Exemplar ankommt, auf das ungewöhnlichere, mächtigere, complicirtere, fruchtbarere—wie gerne, wenn nicht anerzogne Einbildungen über den Zweck der Gesellschaft zähen Widerstand leisteten! Eigentlich ist es leicht zu begreifen, dass dort, wo eine Art an ihre Grenze und an ihren Übergang in eine höhere Art gelangt, das Ziel ihrer Entwicklung liegt, nicht aber in der Masse der Exemplare und deren Wohlbefinden, oder gar in den Exemplaren, welche der Zeit nach die allerletzten sind, vielmehr gerade in den scheinbar zerstreuten und zufälligen Existenzen, welche hier und da einmal unter günstigen Bedingungen zu Stande kommen; und ebenso leicht sollte doch wohl die Forderung zu begreifen sein, dass die Menschheit, weil sie zum Bewusstsein über ihren Zweck kommen kann, jene günstigen Bedingungen aufzusuchen und herzustellen hat, unter denen jene grossen erlösenden Menschen entstehen können. Aber es widerstrebt ich weiss nicht was Alles: da soll jener letzte Zweck in dem Glück Aller oder der Meisten, da soll er in der Entfaltung grosser Gemeinwesen gefunden werden; und so schnell sich einer entschliesst, sein Leben etwa einem Staate zu opfern, so langsam und bedenklich würde er sich benehmen, wenn nicht ein Staat, sondern ein Einzelner dies Opfer forderte. Es scheint eine Ungereimtheit, dass der Mensch eines andern Menschen wegen da sein sollte; "vielmehr aller Andren wegen, oder wenigstens möglichst Vieler! " O Biedermann, als ob das gereimter wäre, die Zahl entscheiden zu lassen, wo es sich um Werth und Bedeutung handelt! Denn die Frage lautet doch so: wie erhält dein, des Einzelnen Leben den höchsten Werth, die tiefste Bedeutung? Wie ist es am wenigsten verschwendet? Gewiss nur dadurch, dass du zum Vortheile der seltensten und werthvollsten Exemplare lebst, nicht aber zum Vortheile der Meisten, das heisst, der, einzeln genommen, werthlosesten Exemplare. Und gerade diese Gesinnung sollte in einem jungen Menschen gepflanzt und angebaut werden, dass er sich selbst gleichsam als ein misslungenes Werk der Natur versteht, aber zugleich als ein Zeugniss der grössten und wunderbarsten Absichten dieser Künstlerin; es gerieth ihr schlecht, soll er sich sagen, aber ich will ihre grosse Absicht dadurch ehren, dass ich ihr zu Diensten bin, damit es ihr einmal besser gelinge.
Mit diesem Vorhaben stellt er sich in den Kreis der Kultur; denn sie ist das Kind der Selbsterkenntniss jedes Einzelnen und des Ungenügens an sich. Jeder, der sich zu ihr bekennt, spricht damit aus: "ich sehe etwas Höheres und Menschlicheres über mir, als ich selber bin, helft mir alle, es zu erreichen, wie ich jedem helfen will, der Gleiches erkennt und am Gleichen leidet: damit endlich wieder der Mensch entstehe, welcher sich voll und unendlich fühlt im Erkennen und Lieben, im Schauen und Können, und mit aller seiner Ganzheit an und in der Natur hängt, als Richter und Werthmesser der Dinge." Es ist schwer, Jemanden in diesen Zustand einer unverzagten Selbsterkenntniss zu versetzen, weil es unmöglich ist, Liebe zu lehren: denn in der Liebe allein gewinnt die Seele nicht nur den klaren, zertheilenden und verachtenden Blick für sich selbst, sondern auch jene Begierde, über sich hinaus zu schauen und nach einem irgendwo noch verborgnen höheren Selbst mit allen Kräften zu suchen. Also nur der, welcher sein Herz an irgend einen grossen Menschen gehängt hat, empfängt damit die erste Weihe der Kultur; ihr Zeichen ist Selbstbeschämung ohne Verdrossenheit, Hass gegen die eigne Enge und Verschrumpftheit, Mitleiden mit dem Genius, der aus dieser unsrer Dumpf- und Trockenheit immer wieder sich emporriss, Vorgefühl für alle Werdenden und Kämpfenden und die innerste Überzeugung, fast überall der Natur in ihrer Noth zu begegnen, wie sie sich zum Menschen hindrängt, wie sie schmerzlich das Werk wieder missrathen fühlt, wie ihr dennoch überall die wundervollsten Ansätze, Züge und Formen gelingen: so dass die Menschen, mit denen wir leben, einem Trümmerfelde der kostbarsten bildnerischen Entwürfe gleichen, wo alles uns entgegenruft: kommt, helft, vollendet, bringt zusammen, was zusammengehört, wir sehnen uns unermesslich, ganz zu werden.
Diese Summe von inneren Zuständen nannte ich die erste Weihe der Kultur; jetzt aber liegt mir ob, die Wirkungen der zweiten Weihe zu schildern, und ich weiss wohl, dass hier meine Aufgabe schwieriger ist. Denn jetzt soll der Uebergang vom innerlichen Geschehen zur Beurtheilung des äusserlichen Geschehens gemacht werden, der Blick soll sich hinauswenden, um jene Begierde nach Kultur, wie er sie aus jenen ersten Erfahrungen kennt, in der grossen bewegten Welt wiederzufinden, der Einzelne soll sein Ringen und Sehnen als das Alphabet benutzen, mit welchem er jetzt die Bestrebungen der Menschen ablesen kann. Aber auch hier darf er nicht stehen bleiben, von dieser Stufe muss er hinauf zu der noch höheren, die Kultur verlangt von ihm nicht nur jenes innerliche Erlebniss, nicht nur die Beurtheilung der ihn umströmenden äusseren Welt, sondern zuletzt und hauptsächlich die That, das heisst den Kampf für die Kultur und die Feindseligkeit gegen Einflüsse, Gewohnheiten, Gesetze, Einrichtungen, in welchen er nicht sein Ziel wiedererkennt: die Erzeugung des Genius.
Dem, welcher sich nun auf die zweite Stufe zu stellen vermag, fällt zuerst auf, wie ausserordentlich gering und selten das Wissen um jenes Ziel ist, wie allgemein dagegen das Bemühen um Kultur und wie unsäglich gross die Masse von Kräften, welche in ihrem Dienste verbraucht wird. Man fragt sich erstaunt: ist ein solches Wissen vielleicht gar nicht nöthig? Erreicht die Natur ihr Ziel auch so, wenn die Meisten den Zweck ihrer eignen Bemühung falsch bestimmen? Wer sich gewöhnt hat, viel von der unbewussten Zweckmässigkeit der Natur zu halten, wird vielleicht keine Mühe haben zu antworten: "Ja, so ist es! Lasst die Menschen über ihr letztes Ziel denken und reden was sie wollen, sie sind doch in ihrem dunklen Drange des rechten Wegs sich wohl bewusst." Man muss, um hier widersprechen zu können, Einiges erlebt haben; wer aber wirklich von jenem Ziele der Kultur überzeugt ist, dass sie die Entstehung der wahren Menschen zu fördern habe und nichts sonst und nun vergleicht, wie auch jetzt noch, bei allem Aufwande und Prunk der Kultur, die Entstehung jener Menschen sich nicht viel von einer fortgesetzten Thierquälerei unterscheidet: der wird es sehr nöthig befinden, dass an Stelle jenes "dunklen Drangs" endlich einmal ein bewusstes Wollen gesetzt werde. Und das namentlich auch aus dem zweiten Grunde: damit es nämlich nicht mehr möglich ist, jenen über sein Ziel unklaren Trieb, den gerühmten dunklen Drang zu ganz andersartigen Zwecken zu gebrauchen und auf Wege zu führen, wo jenes höchste Ziel, die Erzeugung des Genius, nimmermehr erreicht werden kann. Denn es giebt eine Art von missbrauchter und in Dienste genommener Kultur—man sehe sich nur um! Und gerade die Gewalten, welche jetzt am thätigsten die Kultur fördern, haben dabei Nebengedanken und verkehren mit ihr nicht in reiner und uneigennütziger Gesinnung.
Da ist erstens die Selbstsucht der Erwerbenden, welche der Beihülfe der Kultur bedarf, und ihr zum Danke dafür wieder hilft, aber dabei freilich zugleich Ziel und Maass vorschreiben möchte. Von dieser Seite kommt jener beliebte Satz und Kettenschluss her, der ungefähr so lautet: möglichst viel Erkenntniss und Bildung, daher möglichst viel Bedürfniss, daher möglichst viel Produktion, daher möglichst viel Gewinn und Glück—so klingt die verführerische Formel. Bildung würde von den Anhängern derselben als die Einsicht definirt werden, mit der man, in Bedürfnissen und deren Befriedigung, durch und durch zeitgemäss wird, mit der man aber zugleich am besten über alle Mittel und Wege gebietet, um so leicht wie möglich Geld zu gewinnen. Möglichst viele courante Menschen zu bilden, in der Art dessen, was man an einer Münze courant nennt, das wäre also das Ziel; und ein Volk wird, nach dieser Auffassung, um so glücklicher sein, je mehr es solche courante Menschen besitzt. Deshalb soll es durchaus die Absicht der modernen Bildungsanstalten sein, Jeden soweit zu fördern als es in seiner Natur liegt, courant zu werden, Jeden dermaassen auszubilden, dass er von dem ihm eigenen Grade von Erkenntniss und Wissen das grösstmögliche Maass von Glück und Gewinn habe. Der Einzelne müsse, so fordert man hier, durch die Hülfe einer solchen allgemeinen Bildung sich selber genau taxiren können, um zu wissen, was er vom Leben zu fordern habe; und zuletzt wird behauptet, dass ein natürlicher und nothwendiger Bund von "Intelligenz und Besitz," von "Reichthum und Kultur" bestehe, noch mehr, dass dieser Bund eine sittliche Nothwendigkeit sei. Jede Bildung ist hier verhasst, die einsam macht, die über Geld und Erwerb hinaus Ziele steckt, die viel Zeit verbraucht; man pflegt wohl solche ernstere Arten der Bildung als "feineren Egoismus," als "unsittlichen Bildungs—Epikureismus" zu verunglimpfen. Freilich, nach der hier geltenden Sittlichkeit steht gerade das Umgekehrte im Preise, nämlich eine rasche Bildung, um bald ein geldverdienendes Wesen zu werden, und doch eine so gründliche Bildung, um ein sehr viel Geld verdienendes Wesen werden zu können. Dem Menschen wird nur soviel Kultur gestattet, als im Interesse des allgemeinen Erwerbs und des Weltverkehrs ist, aber soviel wird auch von ihm gefordert. Kurz: "der Mensch hat einen nothwendigen Anspruch auf Erdenglück, darum ist die Bildung nothwendig, aber auch nur darum!"
Da ist zweitens die Selbstsucht des Staates, welcher ebenfalls nach möglichster Ausbreitung und Verallgemeinerung der Kultur begehrt und die wirksamsten Werkzeuge in den Händen hat, um seine Wünsche zu befriedigen. Vorausgesetzt, dass er sich stark genug weiss, um nicht nur entfesseln, sondern zur rechten Zeit in's Joch spannen zu können, vorausgesetzt, dass sein Fundament sicher und breit genug ist, um das ganze Bildungsgewölbe tragen zu können, so kommt die Ausbreitung der Bildung unter seinen Bürgern immer nur ihm selbst, im Wetteifer mit andern Staaten zu Gute. Ueberall, wo man jetzt vom "Kulturstaat" redet, sieht man ihm die Aufgabe gestellt, die geistigen Kräfte einer Generation so weit zu entbinden, dass sie damit den bestehenden Institutionen dienen und nützen können: aber auch nur soweit; wie ein Waldbach durch Dämme und auf Gerüsten theilweise abgeleitet wird, um mit der kleinern Kraft Mühlen zu treiben—während seine volle Kraft der Mühle eher gefährlich als nützlich wäre. Jenes Entbinden ist zugleich und noch viel mehr ein in Fesseln Schlagen. Man bringe sich nur in's Gedächtniss, was allmählich aus dem Christenthum unter der Selbstsucht des Staates geworden ist. Das Christenthum ist gewiss eine der reinsten Offenbarungen jenes Dranges nach Kultur und gerade nach der immer erneuten Erzeugung des Heiligen; da es aber hundertfältig benutzt wurde, um die Mühlen der staatlichen Gewalten zu treiben, ist es allmählich bis in das Mark hinein krank geworden, verheuchelt und verlogen und bis zum Widerspruche mit seinem ursprünglichen Ziele abgeartet. Selbst sein letztes Ereigniss, die deutsche Reformation, wäre nichts als ein plötzliches Aufflackern und Verlöschen gewesen, wenn sie nicht aus dem Kampfe und Brande der Staaten neue Kräfte und Flammen gestohlen hätte.
Da wird drittens die Kultur von allen denen gefördert, welche sich eines hässlichen oder langweiligen Inhaltes bewusst sind und über ihn durch die sogenannte "schöne Form" täuschen wollen. Mit dem Aeusserlichen, mit Wort, Gebärde, Verzierung, Gepränge, Manierlichkeit soll der Beschauer zu einem falschen Schlusse über den Inhalt genöthigt werden: in der Voraussetzung, dass man für gewöhnlich das Innere nach der Aussenseite beurtheilt. Mir scheint es bisweilen, dass die modernen Menschen sich grenzenlos an einander langweilen und dass sie es endlich nöthig finden, sich mit Hülfe aller Künste interessant zu machen. Da lassen sie sich selbst durch ihre Künstler als prickelnde und beizende Speise auftischen, da übergiessen sie sich mit dem Gewürze des ganzen Orients und Occidents, und gewiss! jetzt riechen sie freilich sehr interessant, nach dem ganzen Orient und Occident. Da richten sie sich ein, jeden Geschmack zu befriedigen; und jeder soll bedient werden, ob ihm nun nach Wohl- oder Uebelriechendem, nach Sublimirtem oder Bäurisch-Grobem, nach Griechischem oder Chinesischem, nach Trauerspielen oder dramatisirten Unfläthereien gelüstet. Die berühmtesten Küchenmeister dieser modernen Menschen, die um jeden Preis interessant und interessirt sein wollen, finden sich bekanntlich bei den Franzosen, die schlechtesten bei den Deutschen. Dies ist für die letzteren im Grunde tröstlicher als für die ersteren, und wir wollen es am wenigsten den Franzosen verargen, wenn sie uns gerade ob des Mangels an Interessantem und Elegantem verspotten und wenn sie bei dem Verlangen einzelner Deutschen nach Eleganz und Manieren sich an den Indianer erinnert fühlen, welcher sich einen Ring durch die Nase wünscht und darnach schreit, tätowirt zu werden.
— Und hier hält mich nichts von einer Abschweifung zurück. Seit dem letzten Kriege mit Frankreich hat sich manches in Deutschland verändert und verschoben, und es ist ersichtlich, dass man auch einige neue Wünsche in Betreff der deutschen Kultur mit heimgebracht hat. Jener Krieg war für viele die erste Reise in die elegantere Hälfte der Welt; wie herrlich nimmt sich nun die Unbefangenheit des Siegers aus, wenn er es nicht verschmäht, bei dem Besiegten etwas Kultur zu lernen! Besonders das Kunsthandwerk wird immer von Neuem auf den Wetteifer mit dem gebildeteren Nachbar hingewiesen, die Einrichtung des deutschen Hauses soll der des französischen angeähnlicht werden, selbst die deutsche Sprache soll, vermittelst einer nach französischem Muster gegründeten Akademie, sich "gesunden Geschmack" aneignen und den bedenklichen Einfluss abthun, welchen Goethe auf sie ausgeübt habe—wie ganz neuerdings der Berliner Akademiker Dubois-Reymond urtheilt. Unsre Theater haben schon längst in aller Stille und Ehrbarkeit nach dem gleichen Ziele getrachtet, selbst der elegante deutsche Gelehrte ist schon erfunden—nun, da ist ja zu erwarten, dass Alles, was sich bis jetzt jenem Gesetze der Eleganz nicht recht fügen wollte, deutsche Musik, Tragödie und Philosophie, nunmehr als undeutsch bei Seite geschafft wird.—Aber wahrhaftig, es wäre auch kein Finger mehr für die deutsche Kultur zu rühren, wenn der Deutsche unter der Kultur, welche ihm noch fehlt und nach der er jetzt zu trachten hätte, nichts verstünde, als Künste und Artigkeiten, mit denen das Leben verhübscht wird, eingeschlossen die gesammte Tanzmeister- und Tapezirer-Erfindsamkeit, wenn er sich auch in der Sprache nur noch um akademisch gut geheissene Regeln und eine gewisse allgemeine Manierlichkeit bemühen wollte. Höhere Ansprüche scheint aber der letzte Krieg und die persönliche Vergleichung mit den Franzosen kaum hervorgerufen zu haben, vielmehr überkommt mich öfter der Verdacht, als ob der Deutsche sich jenen alten Verpflichtungen jetzt gewaltsam entziehen wollte, welche seine wunderbare Begabung, der eigenthümliche Schwer- und Tiefsinn seiner Natur, ihm auflegt. Lieber möchte er einmal gaukeln, Affe sein, lieber lernte er Manieren und Künste, wodurch das Leben unterhaltend wird. Man kann aber den deutschen Geist gar nicht mehr beschimpfen, als wenn man ihn behandelt als ob er von Wachs wäre, so dass man ihm eines Tages auch die Eleganz ankneten könnte. Und wenn es leider wahr ist, dass ein guter Theil der Deutschen sich gern derartig kneten und zurechtformen lassen will, so soll doch dagegen so oft gesagt werden, bis man es hört: bei euch wohnt sie gar nicht mehr, jene alte deutsche Art, die zwar hart, herbe und voller Widerstand ist, aber als der köstlichste Stoff, an welchem nur die grössten Bildner arbeiten dürfen, weil sie allein seiner werth sind. Was ihr dagegen in euch habt, ist ein weichliches breiiges Material; macht damit was ihr wollt, formt elegante Puppen und interessante Götzenbilder daraus—es wird auch hierin bei Richard Wagners Wort verbleiben: "der Deutsche ist eckig und ungelenk, wenn er sich manierlich geben will; aber er ist erhaben und allen überlegen, wenn er in das Feuer geräth." Und vor diesem deutschen Feuer haben die Eleganten allen Grund sich in Acht zu nehmen, es möchte sie sonst eines Tages fressen, sammt allen ihren Puppen und Götzenbildern aus Wachs.—Man könnte nun freilich jene in Deutschland überhandnehmende Neigung zur "schönen Form" noch anders und tiefer ableiten: aus jener Hast, jenem athemlosen Erfassen des Augenblicks, jener Uebereile, die alle Dinge zu grün vom Zweige bricht, aus jenem Rennen und Jagen, das den Menschen jetzt Furchen in's Gesicht gräbt und alles, was sie thun, gleichsam tätowirt. Als ob ein Trank in ihnen wirkte, der sie nicht mehr ruhig athmen liesse, stürmen sie fort in unanständiger Sorglichkeit, als die geplagten Sklaven der drei M, des Moments, der Meinungen und der Moden: so dass freilich der Mangel an Würde und Schicklichkeit allzu peinlich in die Augen springt und nun wieder eine lügnerische Eleganz nöthig wird, mit welcher die Krankheit der würdelosen Hast maskirt werden soll. Denn so hängt die modische Gier nach der schönen Form mit dem hässlichen Inhalt des jetzigen Menschen zusammen: jene soll verstecken, dieser soll versteckt werden. Gebildetsein heisst nun: sich nicht merken lassen, wie elend und schlecht man ist, wie raubthierhaft im Streben, wie unersättlich im Sammeln, wie eigensüchtig und schamlos im Geniessen. Mehrmals ist mir schon, wenn ich Jemandem die Abwesenheit einer deutschen Kultur vor Augen stellte, eingewendet worden: "aber diese Abwesenheit ist ja ganz natürlich, denn die Deutschen sind bisher zu arm und bescheiden gewesen. Lassen Sie unsre Landsleute nur erst reich und selbstbewusst werden, dann werden sie auch eine Kultur haben!" Mag der Glaube immerhin selig machen, diese Art des Glaubens macht mich unselig, weil ich fühle, dass jene deutsche Kultur, an deren Zukunft hier geglaubt wird—die des Reichthums, der Politur und der manierlichen Verstellung—das feindseligste Gegenbild der deutschen Kultur ist, an welche ich glaube. Gewiss, wer unter Deutschen zu leben hat, leidet sehr an der berüchtigten Grauheit ihres Lebens und ihrer Sinne, an der Formlosigkeit, dem Stumpf- und Dumpfsinne, an der Plumpheit im zarteren Verkehre, noch mehr an der Scheelsucht und einer gewissen Verstecktheit und Unreinlichkeit des Charakters; es schmerzt und beleidigt ihn die eingewurzelte Lust am Falschen und Unächten, am Uebel Nachgemachten, an der Uebersetzung des guten Ausländischen in ein schlechtes Einheimisches: jetzt aber, wo nun noch jene fieberhafte Unruhe, jene Sucht nach Erfolg und Gewinn, jene Ueberschätzung des Augenblicks als schlimmstes Leiden hinzugekommen ist, empört es ganz und gar zu denken, dass alle diese Krankheiten und Schwächen grundsätzlich nie geheilt, sondern immer nur überschminkt werden sollen—durch eine solche "Kultur der interessanten Form!" Und dies bei einem Volke, welches Schopenhauer und Wagner hervorgebracht hat! Und noch oft hervorbringen soll! Oder täuschen wir uns auf das Trostloseste? Sollten die Genannten vielleicht gar nicht mehr dafür Bürgschaft leisten, dass solche Kräfte, wie die ihrigen, wirklich noch in dem deutschen Geiste und Sinne vorhanden sind? Sollten sie selber Ausnahmen sein, gleichsam die letzten Ausläufer und Absenker von Eigenschaften, welche man ehemals für deutsch nahm? Ich weiss mir hier nicht recht zu helfen und kehre deshalb auf meine Bahn der allgemeinen Betrachtung zurück, von der mich sorgenvolle Zweifel oft genug ablenken wollen. Noch waren nicht alle jene Mächte aufgezählt, von denen zwar die Kultur gefördert wird, ohne dass man doch ihr Ziel, die Erzeugung des Genius, anerkennt; drei sind genannt, die Selbstsucht der Erwerbenden, die Selbstsucht des Staates und die Selbstsucht aller derer, welche Grund haben sich zu verstellen und durch die Form zu verstecken. Ich nenne viertens die Selbstsucht der Wissenschaft und das eigenthümliche Wesen ihrer Diener, der Gelehrten.
Die Wissenschaft verhält sich zur Weisheit, wie die Tugendhaftigkeit zur Heiligung: sie ist kalt und trocken, sie hat keine Liebe und weiss nichts von einem tiefen Gefühle des Ungenügens und der Sehnsucht. Sie ist sich selber eben so nützlich, als sie ihren Dienern schädlich ist, insofern sie auf dieselben ihren eignen Charakter überträgt und damit ihre Menschlichkeit gleichsam verknöchert. So lange unter Kultur wesentlich Förderung der Wissenschaft verstanden wird, geht sie an dem grossen leidenden Menschen mit unbarmherziger Kälte vorüber, weil die Wissenschaft überall nur Probleme der Erkenntniss sieht, und weil das Leiden eigentlich innerhalb ihrer Welt etwas Ungehöriges und Unverständliches, also höchstens wieder ein Problem ist.
Man gewöhne sich aber nur erst daran, jede Erfahrung in ein dialektisches Frage- und Antwortspiel und in eine reine Kopfangelegenheit zu übersetzen: es ist erstaunlich, in wie kurzer Zeit der Mensch bei einer solchen Thätigkeit ausdorrt, wie bald er fast nur noch mit den Knochen klappert. Jeder weiss und sieht dies: wie ist es also nur möglich, dass trotzdem die Jünglinge keineswegs vor solchen Knochenmenschen zurückschrecken und immer von Neuem wieder sich blindlings und wahl- und maasslos den Wissenschaften übergeben? Dies kann doch nicht vom angeblichen "Trieb zur Wahrheit" herkommen: denn wie sollte es überhaupt einen Trieb nach der kalten, reinen, folgenlosen Erkenntniss geben können! Was vielmehr die eigentlichen treibenden Kräfte in den Dienern der Wissenschaft sind, giebt sich dem unbefangnen Blick nur zu deutlich zu verstehen: und es ist sehr anzurathen, auch einmal die Gelehrten zu untersuchen und zu seciren, nachdem sie selbst sich gewöhnt haben, alles in der Welt, auch das Ehrwürdigste, dreist zu betasten und zu zerlegen. Soll ich heraussagen, was ich denke, so lautet mein Satz: der Gelehrte besteht aus einem verwickelten Geflecht sehr verschiedener Antriebe und Reize, er ist durchaus ein unreines Metall. Man nehme zuvörderst eine starke und immer höher gesteigerte Neubegier, die Sucht nach Abenteuern der Erkenntniss, die fortwährend anreizende Gewalt des Neuen und Seltnen im Gegensatze zum Alten und Langweiligen. Dazu füge man einen gewissen dialektischen Spür- und Spieltrieb, die jägerische Lust an verschmitzten Fuchsgängen des Gedankens, so dass nicht eigentlich die Wahrheit gesucht, sondern das Suchen gesucht wird und der Hauptgenuss im listigen Herumschleichen, Umzingeln, kunstmässigen Abtödten besteht. Nun tritt noch der Trieb zum Widerspruch hinzu, die Persönlichkeit will, allen anderen entgegen, sich fühlen und fühlen lassen; der Kampf wird zur Lust und der persönliche Sieg ist das Ziel, während der Kampf um die Wahrheit nur der Vorwand ist. Zu einem guten Theile ist sodann dem Gelehrten der Trieb beigemischt, gewisse "Wahrheiten" zu finden, nämlich aus Unterthänigkeit gegen gewisse herrschende Personen, Kasten, Meinungen, Kirchen, Regierungen, weil er fühlt, dass er sich nützt, indem er die "Wahrheit" auf ihre Seite bringt. Weniger regelmässig, aber doch noch häufig genug treten am Gelehrten folgende Eigenschaften hervor. Erstens Biederkeit und Sinn für das Einfache, sehr hoch zu schätzen, wenn sie mehr sind als Ungelenkigkeit und Ungeübtheit in der Verstellung, zu welcher ja einiger Witz gehört. In der That kann man überall, wo der Witz und die Gelenkigkeit sehr in die Augen fallen, ein wenig auf der Hut sein und die Geradheit des Charakters in Zweifel ziehn. Andererseits ist meisthin jene Biederkeit wenig werth und auch für die Wissenschaft nur selten fruchtbar, da sie am Gewohnten hängt und die Wahrheit nur bei einfachen Dingen oder in adiaphoris zu sagen pflegt; denn hier entspricht es der Trägheit mehr, die Wahrheit zu sagen als sie zu verschweigen. Und weil alles Neue ein Umlernen nöthig macht, so verehrt die Biederkeit, wenn es irgend angeht, die alte Meinung und wirft dem Verkündiger des Neuen vor, es fehle ihm der sensus recti. Gegen die Lehre des Kopernikus erhob sie gewiss deshalb Widerstand, weil sie hier den Augenschein und die Gewohnheit für sich hatte. Der bei Gelehrten nicht gar seltne Hass gegen die Philosophie ist vor allem Hass gegen die langen Schlussketten und die Künstlichkeit der Beweise. Ja im Grunde hat jede Gelehrten-Generation ein unwillkürliches Maass für den erlaubten Scharfsinn; was darüber hinaus ist, wird angezweifelt und beinahe als Verdachtgrund gegen die Biederkeit benutzt.— Zweitens Scharfsichtigkeit in der Nähe, verbunden mit grosser Myopie für die Ferne und das Allgemeine. Sein Gesichtsfeld ist gewöhnlich sehr klein, und die Augen müssen dicht an den Gegenstand herangehalten werden. Will der Gelehrte von einem eben durchforschten Punkte zu einem andern, so rückt er den ganzen Seh-Apparat nach jenem Punkte hin. Er zerlegt ein Bild in lauter Flecke, wie einer, der das Opernglas anwendet, um die Bühne zu sehen und jetzt bald einen Kopf, bald ein Stück Kleid, aber nichts Ganzes in's Auge fasst. Jene einzelnen Flecke sieht er nie verbunden, sondern er erschliesst nur ihren Zusammenhang; deshalb hat er von allem Allgemeinen keinen starken Eindruck. Er beurtheilt zum Beispiel eine Schrift, weil er sie im Ganzen nicht zu übersehen vermag, nach einigen Stücken oder Sätzen oder Fehlern; er würde verführt sein zu behaupten, ein Oelgemälde sei ein wilder Haufen von Klexen.— Drittens Nüchternheit und Gewöhnlichkeit seiner Natur in Neigungen und Abneigungen. Mit dieser Eigenschaft hat er besonders in der Historie Glück, insofern er die Motive vergangener Menschen gemäss den ihm bekannten Motiven aufspürt. In einem Maulwurfsloche findet sich ein Maulwurf am besten zurecht. Er ist gehütet vor allen künstlichen und ausschweifenden Hypothesen; er gräbt, wenn er beharrlich ist, alle gemeinen Motive der Vergangenheit auf, weil er sich von gleicher Art fühlt. Freilich ist er meistens gerade deshalb unfähig, das Seltne, Grosse und Ungemeine, also das Wichtige und Wesentliche, zu verstehen und zu schätzen.— Viertens Armuth an Gefühl und Trockenheit. Sie befähigt ihn selbst zu Vivisectionen. Er ahnt das Leiden nicht, das manche Erkenntniss mit sich führt, und fürchtet sich deshalb auf Gebieten nicht, wo Andern das Herz schaudert. Er ist kalt und erscheint deshalb leicht grausam. Auch für verwegen hält man ihn, aber er ist es nicht, ebensowenig wie das Maulthier, welches den Schwindel nicht kennt.— Fünftens geringe Selbstschätzung, ja Bescheidenheit. Sie fühlen, obwohl in einen elenden Winkel gebannt, nichts von Aufopferung, von Vergeudung, sie scheinen es oft im tiefsten Innern zu wissen, dass sie nicht fliegendes, sondern kriechendes Gethier sind. Mit dieser Eigenschaft erscheinen sie selbst rührend.— Sechstens Treue gegen ihre Lehrer und Führer. Diesen wollen sie recht von Herzen helfen, und sie wissen wohl, dass sie ihnen am besten mit der Wahrheit helfen. Denn sie sind dankbar gestimmt, weil sie nur durch sie Einlass in die würdigen Hallen der Wissenschaft erlangt haben, in welche sie auf eignem Wege niemals hineingekommen wären. Wer gegenwärtig als Lehrer ein Gebiet zu erschliessen weiss, auf dem auch die geringen Köpfe mit einigem Erfolge arbeiten können, der ist in kürzester Zeit ein berühmter Mann: so gross ist sofort der Schwarm, der sich hinzudrängt. Freilich ist ein Jeder von diesen Treuen und Dankbaren zugleich auch ein Missgeschick für den Meister, weil jene Alle ihn nachahmen, und nun gerade seine Gebreste unmässig gross und übertrieben erscheinen, weil sie an so kleinen Individuen hervortreten, während die Tugenden des Meisters umgekehrt, nämlich im gleichen Verhältnisse verkleinert, sich an demselben Individuum darstellen.— Siebentens gewohnheitsmässiges Fortlaufen auf der Bahn, auf welche man den Gelehrten gestossen hat, Wahrheitssinn aus Gedankenlosigkeit, gemäss der einmal angenommnen Gewöhnung. Solche Naturen sind Sammler, Erklärer, Verfertiger von Indices, Herbarien; sie lernen und suchen auf einem Gebiete herum, bloss weil sie niemals daran denken, dass es auch andre Gebiete giebt. Ihr Fleiss hat etwas von der ungeheuerlichen Dummheit der Schwerkraft: weshalb sie oft viel zu Stande bringen.— Achtens Flucht vor der Langeweile. Während der wirkliche Denker nichts mehr ersehnt als Musse, flieht der gewöhnliche Gelehrte vor ihr, weil er mit ihr nichts anzufangen weiss. Seine Tröster sind die Bücher: das heisst, er hört zu, wie jemand Anderes denkt und lässt sich auf diese Art über den langen Tag hinweg unterhalten. Besonders wählt er Bücher, bei welchen seine persönliche Theilnahme irgendwie angeregt wird, wo er ein wenig, durch Neigung oder Abneigung, in Affect gerathen kann: also Bücher, wo er selbst in Betrachtung gezogen wird oder sein Stand, seine politische oder aesthetische oder auch nur grammatische Lehrmeinung; hat er gar eine eigne Wissenschaft, so fehlt es ihm nie an Mitteln der Unterhaltung und an Fliegenklappen gegen die Langeweile.— Neuntens das Motiv des Broderwerbs, also im Grunde die berühmten "Borborygmen eines leidenden Magens." Der Wahrheit wird gedient, wenn sie im Stande ist, zu Gehalten und höheren Stellungen direkt zu befördern, oder wenigstens die Gunst derer zu gewinnen, welche Brod und Ehren zu verleihen haben. Aber auch nur dieser Wahrheit wird gedient: weshalb sich eine Grenze zwischen den erspriesslichen Wahrheiten, denen Viele dienen, und den unerspriesslichen Wahrheiten ziehen lässt: welchen letzteren nur die Wenigsten sich hingeben, bei denen es nicht heisst: ingenii largitor venter.— Zehntens Achtung vor den Mitgelehrten, Furcht vor ihrer Missachtung, seltneres, aber höheres Motiv als das vorige, doch noch sehr häufig. Alle die Mitglieder der Zunft überwachen sich unter einander auf das eifersüchtigste, damit die Wahrheit, an welcher so viel hängt, Brod, Amt, Ehre, wirklich auf den Namen ihres Finders getauft werde. Man zollt streng dem Andern seine Achtung für die Wahrheit, welche er gefunden, um den Zoll wieder zurück zu fordern, wenn man selber einmal eine Wahrheit finden sollte. Die Unwahrheit, der Irrthum wird schallend explodirt, damit die Zahl der Mitbewerber nicht zu gross werde; doch wird hier und da auch einmal die wirkliche Wahrheit explodirt, damit wenigstens für eine kurze Zeit Platz für hartnäckige und kecke Irrthümer geschafft werde; wie es denn nirgends wo und auch hier nicht an "moralischen Idiotismen" fehlt, die man sonst Schelmenstreiche nennt.— Elftens der Gelehrte aus Eitelkeit, schon eine seltnere Spielart. Er will womöglich ein Gebiet ganz für sich haben und wählt deshalb Kuriositäten, besonders wenn sie ungewöhnlichen Kostenaufwand, Reisen, Ausgrabungen, zahlreiche Verbindungen in verschiedenen Ländern nöthig machen. Er begnügt sich meistens mit der Ehre, selber als Kuriosität angestaunt zu werden und denkt nicht daran, sein Brod vermittelst seiner gelehrten Studien zu gewinnen.— Zwölftens der Gelehrte aus Spieltrieb. Seine Ergötzlichkeit besteht darin, Knötchen in den Wissenschaften zu suchen und sie zu lösen; wobei er sich nicht zu sehr anstrengen mag, um das Gefühl des Spiels nicht zu verlieren. Deshalb dringt er nicht gerade in die Tiefe, doch nimmt er oft etwas wahr, was der Brodgelehrte mit dem mühsam kriechenden Auge nie sieht.— Wenn ich endlich dreizehntens noch als Motiv des Gelehrten den Trieb nach Gerechtigkeit bezeichne, so könnte man mir entgegenhalten, dieser edle, ja bereits metaphysisch zu verstehende Trieb sei gar zu schwer von anderen zu unterscheiden und für ein menschliches Auge im Grunde unfasslich und unbestimmbar; weshalb ich die letzte Nummer mit dem frommen Wunsche beifüge, es möge jener Trieb unter Gelehrten häufiger und wirksamer sein als er sichtbar wird. Denn ein Funke von dem Feuer der Gerechtigkeit, in die Seele eines Gelehrten gefallen, genügt, um sein Leben und Streben zu durchglühen und läuternd zu verzehren, so dass er keine Ruhe mehr hat und für immer aus der lauen oder frostigen Stimmung herausgetrieben ist, in welcher die gewöhnlichen Gelehrten ihr Tagewerk thun.
Alle diese Elemente oder mehrere oder einzelne denke man nun kräftig gemischt und durcheinander geschüttelt: so hat man das Entstehen des Dieners der Wahrheit. Es ist sehr wunderlich, wie hier, zum Vortheile eines im Grunde ausser- und übermenschlichen Geschäftes, des reinen und folgelosen, daher auch trieblosen Erkennens, eine Menge kleiner sehr menschlicher Triebe und Triebchen zusammengegossen wird, um eine chemische Verbindung einzugehen, und wie das Resultat, der Gelehrte, sich nun im Lichte jenes überirdischen, hohen und durchaus reinen Geschäftes so verklärt ausnimmt, dass man das Mengen und Mischen, was zu seiner Erzeugung nöthig war, ganz vergisst. Doch giebt es Augenblicke, wo man gerade daran denken und erinnern muss: nämlich gerade dann, wenn der Gelehrte in seiner Bedeutung für die Kultur in Frage kommt. Wer nämlich zu beobachten weiss, bemerkt, dass der Gelehrte seinem Wesen nach unfruchtbar ist—eine Folge seiner Entstehung!—und dass er einen gewissen natürlichen Hass gegen den fruchtbaren Menschen hat; weshalb sich zu allen Zeiten die Genie's und die Gelehrten befehdet haben. Die letzteren wollen nämlich die Natur tödten, zerlegen und verstehen, die ersteren wollen die Natur durch neue lebendige Natur vermehren; und so giebt es einen Widerstreit der Gesinnungen und Thätigkeiten. Ganz beglückte Zeiten brauchten den Gelehrten nicht und kannten ihn nicht, ganz erkrankte und verdrossene Zeiten schätzten ihn als den höchsten und würdigsten Menschen und gaben ihm den ersten Rang.
Wie es nun mit unserer Zeit in Hinsicht auf Gesund- und Kranksein steht, wer wäre Arzt genug, das zu wissen! Gewiss, dass auch jetzt noch in sehr vielen Dingen die Schätzung des Gelehrten zu hoch ist und deshalb schädlich wirkt, zumal in allen Anliegenheiten des werdenden Genius. Für dessen Noth hat der Gelehrte kein Herz, er redet mit scharfer kalter Stimme über ihn weg, und gar zu schnell zuckt er die Achsel, als über etwas Wunderliches und Verdrehtes, für das er weder Zeit noch Lust habe. Auch bei ihm findet sich das Wissen um das Ziel der Kultur nicht. —
Aber überhaupt: was ist uns durch alle diese Betrachtungen aufgegangen? Dass überall, wo jetzt die Kultur am lebhaftesten gefördert erscheint, von jenem Ziel nichts gewusst wird. Mag der Staat noch so laut sein Verdienst um die Kultur geltend machen, er fördert sie, um sich zu fördern und begreift ein Ziel nicht, welches höher steht als sein Wohl und seine Existenz. Was die Erwerbenden wollen, wenn sie unablässig nach Unterricht und Bildung verlangen, ist zuletzt eben Erwerb. Wenn die Formenbedürftigen das eigentliche Arbeiten für die Kultur sich zuschreiben und zum Beispiel vermeinen, alle Kunst gehöre ihnen und müsse ihrem Bedürfnisse zu Diensten sein, so ist eben nur das deutlich, dass sie sich selbst bejahen, indem sie die Kultur bejahen: dass also auch sie nicht über ein Missverständniss hinausgekommen sind. Vom Gelehrten wurde genug gesprochen. So eifrig also alle vier Mächte mit einander darüber nachdenken, wie sie sich mit Hülfe der Kultur nützen, so matt und gedankenlos sind sie, wenn dieses ihr Interesse nicht dabei erregt wird. Und deshalb haben sich die Bedingungen für die Entstehung des Genius in der neueren Zeit nicht verbessert, und der Widerwille gegen originale Menschen hat in dem Grade zugenommen, dass Sokrates bei uns nicht hätte leben können und jedenfalls nicht siebenzig Jahre alt geworden wäre.
Nun erinnre ich an das, was ich im dritten Abschnitt ausführte: wie unsre ganze moderne Welt gar nicht so festgefügt und dauerhaft aussieht, dass man auch dem Begriff ihrer Kultur einen ewigen Bestand prophezeien könnte. Man muss es sogar für wahrscheinlich halten, dass das nächste Jahrtausend auf ein paar neue Einfälle kommt, über welche einstweilen die Haare jedes Jetzt lebenden zu Berge stehen möchten. Der Glaube an eine metaphysische Bedeutung der Kultur wäre am Ende noch gar nicht so erschreckend: vielleicht aber einige Folgerungen, welche man daraus für die Erziehung und das Schulwesen ziehen könnte.
Es erfordert ein freilich ganz ungewohntes Nachdenken, einmal von den gegenwärtigen Anstalten der Erziehung weg und hinüber nach durchaus fremd- und andersartigen Institutionen zu sehen, welche vielleicht schon die zweite oder dritte Generation für nöthig befinden wird. Während nämlich durch die Bemühungen der jetzigen höheren Erzieher entweder der Gelehrte oder der Staatsbeamte oder der Erwerbende oder der Bildungsphilister oder endlich und gewöhnlich ein Mischprodukt von allen zu Stande gebracht wird: hätten jene noch zu erfindenden Anstalten freilich eine schwerere Aufgabe—zwar nicht an sich schwerer, da es jedenfalls die natürlichere und insofern auch leichtere Aufgabe wäre; und kann zum Beispiel etwas schwerer sein, als, wider die Natur, wie es jetzt geschieht, einen Jüngling zum Gelehrten abrichten? Aber die Schwierigkeit liegt für die Menschen darin, umzulernen und ein neues Ziel sich zu stecken; und es wird unsägliche Mühe kosten, die Grundgedanken unseres jetzigen Erziehungswesens, das seine Wurzeln im Mittelalter hat, und dem eigentlich der mittelalterliche Gelehrte als Ziel der vollendeten Bildung vorschwebt, mit einem neuen Grundgedanken zu vertauschen. Jetzt schon ist es Zeit, sich diese Gegensätze vor die Augen zu stellen; denn irgend eine Generation muss den Kampf beginnen, in welchem eine spätere siegen soll. Jetzt schon wird der Einzelne, welcher jenen neuen Grundgedanken der Kultur verstanden hat, vor einen Kreuzweg gestellt; auf dem einen Wege gehend ist er seiner Zeit willkommen, sie wird es an Kränzen und Belohnungen nicht fehlen lassen, mächtige Parteien werden ihn tragen, hinter seinem Rücken werden eben so viele Gleichgesinnte, wie vor ihm stehen, und wenn der Vordermann das Losungswort ausspricht, so hallt es in allen Reihen wieder. Hier heisst die erste Pflicht: "in Reih, und Glied kämpfen," die zweite, alle die als Feinde zu behandeln, welche sich nicht in Reih' und Glied stellen wollen. Der andre Weg führt ihn mit seltneren Wanderschaftsgenossen zusammen, er ist schwieriger, verschlungener, steiler; die welche auf dem ersten gehen, verspotten ihn, weil er dort mühsamer schreitet und öfter in Gefahr kommt, sie versuchen es, ihn zu sich herüber zu locken. Wenn einmal beide Wege sich kreuzen, so wird er gemisshandelt, bei Seite geworfen oder mit scheuem Beiseitetreten isolirt. Was bedeutet nun für diese verschiedenartigen Wandrer beider Wege eine Institution der Kultur? Jener ungeheure Schwarm, welcher sich auf dem ersten Wege zu seinem Ziele drängt, versteht darunter Einrichtungen und Gesetze, vermöge deren er selbst in Ordnung aufgestellt wird und vorwärts geht, und durch welche alle Widerspänstigen und Einsamen, alle nach höheren und entlegneren Zielen Ausschauenden in Bann gethan werden. Dieser anderen kleineren Schaar würde eine Institution freilich einen ganz andern Zweck zu erfüllen haben; sie selber will, an der Schutzwehr einer festen Organisation, verhüten, dass sie durch jenen Schwarm weggeschwemmt und auseinander getrieben werde, dass ihre Einzelnen in allzufrüher Erschöpfung hinschwinden oder gar von ihrer grossen Aufgabe abspänstig gemacht werden. Diese Einzelnen sollen ihr Werk vollenden—das ist der Sinn ihres Zusammenhaltens; und alle, die an der Institution theilnehmen, sollen bemüht sein, durch eine fortgesetzte Läuterung und gegenseitige Fürsorge, die Geburt des Genius und das Reifwerden seines Werks in sich und um sich vorzubereiten. Nicht Wenige, auch aus der Reihe der zweiten und dritten Begabungen, sind zu diesem Mithelfen bestimmt und kommen nur in der Unterwerfung unter eine solche Bestimmung zu dem Gefühl, einer Pflicht zu leben und mit Ziel und Bedeutung zu leben. Jetzt aber werden gerade diese Begabungen von den verführerischen Stimmen jener modischen "Kultur" aus ihrer Bahn abgelenkt und ihrem Instinkte entfremdet; an ihre eigensüchtigen Regungen, an ihre Schwächen und Eitelkeiten richtet sich diese Versuchung, ihnen gerade flüstert der Zeitgeist mit einschmeichelnder Beflissenheit zu: "Folgt mir und geht nicht dorthin! Denn dort seid ihr nur Diener, Gehülfen, Werkzeuge, von höheren Naturen überstrahlt, eurer Eigenart niemals froh, an Fäden gezogen, an Ketten gelegt, als Sklaven, ja als Automaten: hier bei mir geniesst ihr, als Herren, eure freie Persönlichkeit, eure Begabungen dürfen für sich glänzen, ihr selber sollt in den vordersten Reihen stehen, ungeheures Gefolge wird euch umschwärmen, und der Zuruf der öffentlichen Meinung dürfte euch doch wohl mehr ergötzen als eine vornehme, von oben herab gespendete Zustimmung aus der kalten Aetherhöhe des Genius." Solchen Verlockungen unterliegen wohl die Besten: und im Grunde entscheidet hier kaum die Seltenheit und Kraft der Begabung, sondern der Einfluss einer gewissen heroischen Grundstimmung und der Grad einer innerlichen Verwandtschaft und Verwachsenheit mit dem Genius. Denn es giebt Menschen, welche es als ihre Noth empfinden, wenn sie diesen mühselig ringen und in Gefahr, sich selbst zu zerstören, sehen, oder wenn seine Werke von der kurzsichtigen Selbstsucht des Staates, dem Flachsinne der Erwerbenden, der trocknen Genügsamkeit der Gelehrten gleichgültig bei Seite gestellt werden: und so hoffe ich auch, dass es Einige gebe, welche verstehen, was ich mit der Vorführung von Schopenhauers Schicksal sagen will und wozu, nach meiner Vorstellung, Schopenhauer als Erzieher eigentlich erziehen soll. —
7
Aber um einmal alle Gedanken an eine ferne Zukunft und eine mögliche Umwälzung des Erziehungswesens bei Seite zu lassen: was müsste man einem werdenden Philosophen gegenwärtig wünschen und nöthigenfalls verschaffen, damit er überhaupt Athem schöpfen könne und es im günstigsten Falle zu der, gewiss nicht leichten, aber wenigstens möglichen Existenz Schopenhauers bringe? Was wäre ausserdem zu erfinden, um seiner Einwirkung auf die Zeitgenossen mehr Wahrscheinlichkeit zu geben? Und welche Hindernisse müssten weggeräumt werden, damit vor allem sein Vorbild zur vollen Wirkung komme, damit der Philosoph wieder Philosophen erziehe? Hier verläuft sich unsre Betrachtung in das Praktische und Anstössige.
Die Natur will immer gemeinnützig sein, aber sie versteht es nicht zu diesem Zwecke die besten und geschicktesten Mittel und Handhaben zu finden: das ist ihr grosses Leiden, deshalb ist sie melancholisch. Dass sie den Menschen durch die Erzeugung des Philosophen und des Künstlers das Dasein deutsam und bedeutsam machen wollte, das ist bei ihrem eignen erlösungsbedürftigen Drange gewiss; aber wie ungewiss, wie schwach und matt ist die Wirkung, welche sie meisthin mit den Philosophen und Künstlern erreicht! Wie selten bringt sie es überhaupt zu einer Wirkung! Besonders in Hinsicht des Philosophen ist ihre Verlegenheit gross, ihn gemeinnützig anzuwenden; ihre Mittel scheinen nur Tastversuche, zufällige Einfälle zu sein, so dass es ihr mit ihrer Absicht unzählige Male misslingt und die meisten Philosophen nicht gemeinnützig werden. Das Verfahren der Natur sieht wie Verschwendung aus; doch ist es nicht die Verschwendung einer frevelhaften Uppigkeit, sondern der Unerfahrenheit; es ist anzunehmen, dass sie, wenn sie ein Mensch wäre, aus dem Ärger über sich und ihr Ungeschick gar nicht herauskommen würde. Die Natur schiesst den Philosophen wie einen Pfeil in die Menschen hinein, sie zielt nicht, aber sie hofft, dass der Pfeil irgendwo hängen bleiben wird. Dabei aber irrt sie sich unzählige Male und hat Verdruss. Sie geht im Bereiche der Kultur ebenso vergeuderisch um, wie bei dem Pflanzen und Säen. Ihre Zwecke erfüllt sie auf eine allgemeine und schwerfällige Manier: wobei sie viel zu viel Kräfte aufopfert. Der Künstler und andererseits die Kenner und Liebhaber seiner Kunst verhalten sich zu einander wie ein grobes Geschütz und eine Anzahl Sperlinge. Es ist das Werk der Einfalt, eine grosse Lawine zu wälzen, um ein wenig Schnee wegzuschieben, einen Menschen zu erschlagen, um die Fliege auf seiner Nase zu treffen. Der Künstler und der Philosoph sind Beweise gegen die Zweckmässigkeit der Natur in ihren Mitteln, ob sie schon den vortrefflichsten Beweis für die Weisheit ihrer Zwecke abgeben. Sie treffen immer nur wenige und sollten Alle treffen—und auch diese Wenigen werden nicht mit der Stärke getroffen, mit welcher Philosoph und Künstler ihr Geschoss absenden. Es ist traurig, die Kunst als Ursache und die Kunst als Wirkung so verschiedenartig abschätzen zu müssen: wie ungeheuer ist sie als Ursache, wie gelähmt, wie nachklingend ist sie als Wirkung! Der Künstler macht sein Werk nach dem Willen der Natur zum Wohle der anderen Menschen, darüber ist kein Zweifel: trotzdem weiss er dass niemals wieder jemand von diesen andern Menschen sein Werk so verstehen und lieben wird wie er es selbst versteht und liebt. Jener hohe und einzige Grad von Liebe und Verständniss ist also nach der ungeschickten Verfügung der Natur nöthig, damit ein niedrigerer Grad entstehe; das Grössere und Edlere ist zum Mittel für die Entstehung des Geringeren und Unedlen verwendet. Die Natur wirthschaftet nicht klug, ihre Ausgaben sind viel grösser als der Ertrag, den sie erzielt; sie muss sich bei alle ihrem Reichthum irgendwann einmal zu Grunde richten. Vernünftiger hätte sie es eingerichtet, wenn ihre Hausregel wäre: wenig Kosten und hundertfältiger Ertrag, wenn es zum Beispiel nur wenige Künstler und diese von schwächeren Kräften gäbe, dafür aber zahlreiche Aufnehmende und Empfangende und gerade diese von stärkerer und gewaltigerer Art als die Art der Künstler selber ist: so dass die Wirkung des Kunstwerks im Verhältniss zur Ursache ein hundertfach verstärkter Wiederhall wäre. Oder sollte man nicht mindestens erwarten, dass Ursache und Wirkung gleich stark wären; aber wie weit bleibt die Natur hinter dieser Erwartung zurück! Es sieht oft so aus als ob ein Künstler und zumal ein Philosoph zufällig in seiner Zeit sei, als Einsiedler oder als versprengter und zurückgebliebener Wanderer. Man fühle nur einmal recht herzlich nach, wie gross, durch und durch und in Allem, Schopenhauer ist—und wie klein, wie absurd seine Wirkung! Nichts kann gerade für einen ehrlichen Menschen dieser Zeit beschämender sein als einzusehen, wie zufällig sich Schopenhauer in ihr ausnimmt und an welchen Mächten und Unmächten es bisher gehangen hat, dass seine Wirkung so verkümmert wurde. Zuerst und lange war ihm der Mangel an Lesern feindlich, zum dauernden Hohne auf unser litterarisches Zeitalter, sodann, als die Leser kamen, die Ungemässheit seiner ersten öffentlichen Zeugen: noch mehr freilich, wie mir scheint, die Abstumpfung aller modernen Menschen gegen Bücher, welche sie eben durchaus nicht mehr ernst nehmen wollen; allmählich ist noch eine neue Gefahr hinzugekommen, entsprungen aus den mannichfachen Versuchen, Schopenhauer der schwächlichen Zeit anzupassen oder gar ihn als befremdliche und reizvolle Würze, gleichsam als eine Art metaphysischen Pfeffers einzureiben. So ist er zwar allmählich bekannt und berühmt geworden, und ich glaube dass jetzt bereits mehr Menschen seinen Namen als den Hegels kennen: und trotzdem ist er noch ein Einsiedler, trotzdem blieb bis jetzt die Wirkung aus! Am wenigsten haben die eigentlichen litterarischen Gegner und Widerbeller die Ehre, diese bisher verhindert zu haben, erstens weil es wenige Menschen giebt, welche es aushalten sie zu lesen, und zweitens weil sie den, welcher dies aushält, unmittelbar zu Schopenhauer hinführen; denn wer lässt sich wohl von einem Eseltreiber abhalten, ein schönes Pferd zu besteigen, wenn jener auch noch so sehr seinen Esel auf Unkosten des Pferdes herausstreicht?
Wer nun die Unvernunft in der Natur dieser Zeit erkannt hat, wird auf Mittel sinnen müssen, hier ein wenig nachzuhelfen; seine Aufgabe wird aber sein, die freien Geister und die tief an unsrer Zeit Leidenden mit Schopenhauer bekannt zu machen, sie zu sammeln und durch sie eine Strömung zu erzeugen, mit deren Kraft das Ungeschick zu überwinden ist, welches die Natur bei Benutzung des Philosophen für gewöhnlich und auch heute wieder zeigt. Solche Menschen werden einsehen, dass es dieselben Widerstände sind, welche die Wirkung einer grossen Philosophie verhindern und welche der Erzeugung eines grossen Philosophen im Wege stehen; weshalb sie ihr Ziel dahin bestimmen dürfen, die Wiedererzeugung Schopenhauers, das heisst des philosophischen Genius vorzubereiten. Das aber, was der Wirkung und Fortpflanzung seiner Lehre sich von Anbeginn widersetzte, was endlich auch jene Wiedergeburt des Philosophen mit allen Mitteln vereiteln will, das ist, kurz zu reden, die Verschrobenheit der jetzigen Menschennatur; weshalb alle werdenden grossen Menschen eine unglaubliche Kraft verschwenden müssen, um sich nur selbst durch diese Verschrobenheit hindurch zu retten. Die Welt, in die sie jetzt eintreten, ist mit Flausen eingehüllt; das brauchen wahrhaftig nicht nur religiöse Dogmen zu sein, sondern auch solche flausenhafte Begriffe wie "Fortschritt," "allgemeine Bildung," "National," "moderner Staat," "Culturkampf"; ja man kann sagen, dass alle allgemeinen Worte jetzt einen künstlichen und unnatürlichen Aufputz an sich tragen, weshalb eine hellere Nachwelt unserer Zeit im höchsten Maasse den Vorwurf des Verdrehten und Verwachsenen machen wird—mögen wir uns noch so laut mit unserer "Gesundheit" brüsten. Die Schönheit der antiken Gefässe, sagt Schopenhauer, entspringt daraus, dass sie auf eine so naive Art ausdrücken, was sie zu sein und zu leisten bestimmt sind; und ebenso gilt es von allem übrigen Geräthe der Alten; man fühlt dabei, dass, wenn die Natur Vasen, Amphoren, Lampen, Tische, Stühle, Helme, Schilde, Panzer und so weiter hervorbrächte, sie so aussehen würden. Umgekehrt: wer jetzt zusieht, wie fast Jedermann mit Kunst, mit Staat, Religion, Bildung hantiert—um aus guten Gründen von unsern "Gefässen" zu schweigen—der findet die Menschen in einer gewissen barbarischen Willkürlichkeit und Uebertriebenheit der Ausdrücke, und dem werdenden Genius steht gerade dies am meisten entgegen, dass so wunderliche Begriffe und so grillenhafte Bedürfnisse zu seiner Zeit im Schwange gehen: diese sind der bleierne Druck, welcher so oft, ungesehen und unerklärbar, seine Hand niederzwingt, wenn er den Pflug führen will—dergestalt, dass selbst seine höchsten Werke, weil sie mit Gewalt sich emporrissen, auch bis zu einem Grade den Ausdruck dieser Gewaltsamkeit an sich tragen müssen.
Wenn ich mir nun die Bedingungen zusammensuche, mit deren Beihülfe, im glücklichsten Falle, ein geborener Philosoph durch die geschilderte zeitgemässe Verschrobenheit wenigstens nicht erdrückt wird, so bemerke ich etwas Sonderbares: es sind zum Theil gerade die Bedingungen, unter denen, im Allgemeinen wenigstens, Schopenhauer selber aufwuchs. Zwar fehlte es nicht an entgegenstrebenden Bedingungen: so trat in seiner eiteln und schöngeisterischen Mutter jene Verschrobenheit der Zeit ihm auf eine fürchterliche Weise nahe. Aber der stolze und republikanisch freie Charakter seines Vaters rettete ihn gleichsam vor seiner Mutter und gab ihm das Erste, was ein Philosoph braucht, unbeugsame und rauhe Männlichkeit. Dieser Vater war weder ein Beamter noch ein Gelehrter: er reiste mit dem Jünglinge vielfach in fremden Ländern umher—alles eben so viele Begünstigungen für den, welcher nicht Bücher, sondern Menschen kennen, nicht eine Regierung, sondern die Wahrheit verehren lernen soll. Bei Zeiten wurde er gegen die nationalen Beschränktheiten abgestumpft oder allzu geschärft; er lebte in England, Frankreich und Italien nicht anders als in seiner Heimath und fühlte mit dem spanischen Geiste keine geringe Sympathie. Im Ganzen schätzte er es nicht als eine Ehre, gerade unter Deutschen geboren zu sein; und ich weiss nicht einmal, ob er sich, bei den neuen politischen Verhältnissen, anders besonnen haben würde. Vom Staate hielt er bekanntlich, dass seine einzigen Zwecke seien, Schutz nach aussen, Schutz nach innen und Schutz gegen die Beschützer zu geben und dass, wenn man ihm noch andre Zwecke, ausser dem des Schutzes, andichte, dies leicht den wahren Zweck in Gefahr setzen könne—: deshalb vermachte er, zum Schrecken aller sogenannten Liberalen, sein Vermögen den Hinterlassenen jener preussischen Soldaten, welche 1848 im Kampf für die Ordnung gefallen waren. Wahrscheinlich wird es von jetzt ab immer mehr das Zeichen geistiger Ueberlegenheit sein, wenn jemand den Staat und seine Pflichten einfach zu nehmen versteht; denn der, welcher den furor philosophicus im Leibe hat, wird schon gar keine Zeit mehr für den furor politicus haben und sich weislich hüten, jeden Tag Zeitungen zu lesen oder gar einer Partei zu dienen: ob er schon keinen Augenblick anstehen wird, bei einer wirklichen Noth seines Vaterlandes auf seinem Platze zu sein. Alle Staaten sind schlecht eingerichtet, bei denen noch andere als die Staatsmänner sich um Politik bekümmern müssen, und sie verdienen es, an diesen vielen Politikern zu Grunde zu gehn.
Eine andre grosse Begünstigung wurde Schopenhauern dadurch zu Theil, dass er nicht von vornherein zum Gelehrten bestimmt und erzogen wurde, sondern wirklich einige Zeit, wenn schon mit Widerstreben, in einem kaufmännischen Comptoir arbeitete und jedenfalls seine ganze Jugend hindurch die freiere Luft eines grossen Handelshauses in sich einathmete. Ein Gelehrter kann nie ein Philosoph werden; denn selbst Kant vermochte es nicht, sondern blieb bis zum Ende trotz dem angebornen Drange seines Genius in einem gleichsam verpuppten Zustande. Wer da glaubt, dass ich mit diesem Worte Kanten Unrecht thue, weiss nicht, was ein Philosoph ist, nämlich nicht nur ein grosser Denker, sondern auch ein wirklicher Mensch; und wann wäre je aus einem Gelehrten ein wirklicher Mensch geworden? Wer zwischen sich und die Dinge Begriffe, Meinungen, Vergangenheiten, Bücher treten lässt, wer also, im weitesten Sinne, zur Historie geboren ist, wird die Dinge nie zum ersten Male sehen und nie selber ein solches erstmalig gesehenes Ding sein; beides gehört aber bei einem Philosophen in einander, weil er die meiste Belehrung aus sich nehmen muss und weil er sich selbst als Abbild und Abbreviatur der ganzen Welt dient. Wenn einer sich vermittelst fremder Meinungen anschaut, was Wunder, wenn er auch an sich nichts sieht als—fremde Meinungen! Und so sind, leben und sehen die Gelehrten. Schopenhauer dagegen hatte das unbeschreibliche Glück, nicht nur in sich den Genius aus der Nähe zu sehen, sondern auch ausser sich, in Goethe: durch diese doppelte Spiegelung war er über alle gelehrtenhaften Ziele und Kulturen von Grunde aus belehrt und weise geworden. Vermöge dieser Erfahrung wusste er, wie der freie und starke Mensch beschaffen sein muss, zu dem sich jede künstlerische Kultur hinsehnt; konnte er, nach diesem Blicke, wohl noch viel Lust übrig haben, sich mit der sogenannten "Kunst" in der gelehrten oder hypokritischen Manier des modernen Menschen zu befassen? Hatte er doch sogar noch etwas Höheres gesehen: eine furchtbare überweltliche Scene des Gerichts, in der alles Leben, auch das höchste und vollendete, gewogen und zu leicht befunden wurde: er hatte den Heiligen als Richter des Daseins gesehn. Es ist gar nicht zu bestimmen, wie frühzeitig Schopenhauer dieses Bild des Lebens geschaut haben muss, und zwar gerade so wie er es später in allen seinen Schriften nachzumalen versuchte; man kann beweisen, dass der Jüngling, und möchte glauben, dass das Kind schon diese ungeheure Vision gesehn hat. Alles, was er später aus Leben und Büchern, aus allen Reichen der Wissenschaft sich aneignete, war ihm beinahe nur Farbe und Mittel des Ausdrucks; selbst die Kantische Philosophie wurde von ihm vor Allem als ein ausserordentliches rhetorisches Instrument hinzugezogen, mit dem er sich noch deutlicher über jenes Bild auszusprechen glaubte: wie ihm zu gleichem Zwecke auch gelegentlich die buddhaistische und christliche Mythologie diente. Für ihn gab es nur Eine Aufgabe und hunderttausend Mittel, sie zu lösen: Einen Sinn und unzählige Hieroglyphen, um ihn auszudrücken.
Es gehörte zu den herrlichen Bedingungen seiner Existenz, dass er wirklich einer solchen Aufgabe, gemäss seinem Wahlspruche vitam impendere vero, leben konnte und dass keine eigentliche Gemeinheit der Lebensnoth ihn niederzwang:—es ist bekannt, in welcher grossartigen Weise er gerade dafür seinem Vater dankte—während in Deutschland der theoretische Mensch meistens auf Unkosten der Reinheit seines Charakters seine wissenschaftliche Bestimmung durchsetzt, als ein "rücksichtsvoller Lump," stellen- und ehrensüchtig, behutsam und biegsam, schmeichlerisch gegen Einflussreiche und Vorgesetzte. Leider hat Schopenhauer durch nichts zahlreiche Gelehrte mehr beleidigt als dadurch dass er ihnen nicht ähnlich sieht.
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Damit sind einige Bedingungen genannt, unter denen der philosophische Genius in unserer Zeit trotz der schädlichen Gegenwirkungen wenigstens entstehen kann: freie Männlichkeit des Charakters, frühzeitige Menschenkenntniss, keine gelehrte Erziehung, keine patriotische Einklemmung, kein Zwang zum Broderwerben, keine Beziehung zum Staate—kurz Freiheit und immer wieder Freiheit: dasselbe wunderbare und gefährliche Element, in welchem die griechischen Philosophen aufwachsen durften. Wer es ihm vorwerfen will, was Niebuhr dem Plato vorwarf, dass er ein schlechter Bürger gewesen sei, soll es thun und nur selber ein guter Bürger sein: so wird er im Rechte sein und Plato ebenfalls. Ein andrer wird jene grosse Freiheit als Ueberhebung deuten: auch er hat Recht, weil er selber mit jener Freiheit nichts Rechtes anfangen und sich allerdings sehr über heben würde, falls er sie für sich begehrte. Jene Freiheit ist wirklich eine schwere Schuld; und nur durch grosse Thaten lässt sie sich abbüssen. Wahrlich, jeder gewöhnliche Erdensohn hat das Recht, mit Groll auf einen solchermaassen Begünstigten hinzusehn: nur mag ihn ein Gott davor bewahren, dass er nicht selbst so begünstigt, das heisst so furchtbar verpflichtet werde. Er ginge ja sofort an seiner Freiheit und seiner Einsamkeit zu Grunde und würde zum Narren, zum boshaften Narren aus Langeweile. —
Aus dem bisher Besprochnen vermag vielleicht der eine oder der andre Vater etwas zu lernen und für die private Erziehung seines Sohnes irgend welche Nutzanwendung zu machen; obschon wahrhaftig nicht zu erwarten ist, dass die Väter gerade nur Philosophen zu Söhnen haben möchten. Wahrscheinlich werden zu allen Zeiten die Väter sich am meisten gegen das Philosophenthum ihrer Söhne, als gegen die grösste Verschrobenheit gesträubt haben; Sokrates fiel bekanntlich dem Zorne der Väter über die "Verführung der Jugend" zum Opfer, und Plato hielt aus eben den Gründen die Aufrichtung eines ganz neuen Staates für nothwendig, um die Entstehung des Philosophen nicht von der Unvernunft der Väter abhängig zu machen. Beinahe sieht es nun so aus, als ob Plato wirklich etwas erreicht habe. Denn der moderne Staat rechnet jetzt die Förderung der Philosophie zu seinen Aufgaben und sucht zu jeder Zeit eine Anzahl Menschen mit jener "Freiheit" zu beglücken, unter der wir die wesentlichste Bedingung zur Genesis des Philosophen verstehn. Nun hat Plato ein wunderliches Unglück in der Geschichte gehabt: sobald einmal ein Gebilde entstand, welches seinen Vorschlägen im Wesentlichen entsprach, war es immer, bei genauerem Zusehen, das untergeschobene Kind eines Kobolds, ein hässlicher Wechselbalg: etwa wie der mittelalterliche Priesterstaat es war, verglichen mit der von ihm geträumten Herrschaft der "Göttersöhne." Der moderne Staat ist nun zwar davon am weitesten entfernt, gerade die Philosophen zu Herrschern zu machen—Gottlob! wird jeder Christ hinzufügen—: aber selbst jene Förderung der Philosophie, wie er sie versteht, müsste doch einmal darauf hin angesehn werden, ob er sie platonisch versteht, ich meine: so ernst und aufrichtig, als ob es seine höchste Absicht dabei wäre, neue Platone zu erzeugen. Wenn für gewöhnlich der Philosoph in seiner Zeit als zufällig erscheint—stellt sich wirklich der Staat jetzt die Aufgabe, diese Zufälligkeit mit Bewusstsein in eine Nothwendigkeit zu übersetzen und der Natur auch hier nachzuhelfen?
Die Erfahrung belehrt uns leider eines Bessern—oder Schlimmern: sie sagt dass, in Hinsicht auf die grossen Philosophen von Natur, nichts ihrer Erzeugung und Fortpflanzung so im Wege steht als die schlechten Philosophen von Staatswegen. Ein peinlicher Gegenstand, nicht wahr?—bekanntlich derselbe, auf den Schopenhauer in seiner berühmten Abhandlung über Universitätsphilosophie zuerst die Augen gerichtet hat. Ich komme auf diesen Gegenstand zurück: denn man muss die Menschen zwingen, ihn ernst zu nehmen, das heisst, sich durch ihn zu einer That bestimmen zu lassen, und ich erachte jedes Wort für unnütz geschrieben, hinter dem nicht eine solche Aufforderung zur That steht; und jedenfalls ist es gut, Schopenhauer's für immer gültige Sätze noch einmal, und zwar geradewegs in Bezug auf unsre allernächsten Zeitgenossen zu demonstriren, da ein Gutmüthiger meinen könnte, dass seit seinen schweren Anklagen sich Alles in Deutschland zum Besseren gewendet habe. Sein Werk ist noch nicht einmal in diesem Punkte, so geringfügig er ist, zu Ende gebracht.
Genauer zugesehn, ist jene "Freiheit," mit welcher der Staat jetzt, wie ich sagte, einige Menschen zu Gunsten der Philosophie beglückt, schon gar keine Freiheit, sondern ein Amt, das seinen Mann nährt. Die Förderung der Philosophie besteht also nur darin, dass es heutzutage wenigstens einer Anzahl Menschen durch den Staat ermöglicht wird, von ihrer Philosophie zu leben, dadurch dass sie aus ihr einen Broderwerb machen können: während die alten Weisen Griechenlands von Seiten des Staates nicht besoldet, sondern höchstens einmal, wie Zeno, durch eine goldene Krone und ein Grabmal auf dem Kerameikos geehrt wurden. Ob nun der Wahrheit damit gedient wird, dass man einen Weg zeigt, wie man von ihr leben könne, weiss ich im Allgemeinen nicht zu sagen, weil hier Alles auf Art und Güte des einzelnen Menschen ankommt, welchen man diesen Weg gehen heisst. Ich könnte mir recht gut einen Grad von Stolz und Selbstachtung denken, bei dem ein Mensch zu seinen Mitmenschen sagt: sorgt ihr für mich, denn ich habe Besseres zu thun, nämlich für euch zu sorgen. Bei Plato und Schopenhauer würde eine solche Grossartigkeit von Gesinnung und Ausdruck derselben nicht befremden; weshalb gerade sie sogar Universitätsphilosophen sein könnten, wie Plato zeitweilig Hofphilosoph war, ohne die Würde der Philosophie zu erniedrigen. Aber schon Kant war, wie wir Gelehrte zu sein pflegen, rücksichtsvoll, unterwürfig und, in seinem Verhalten gegen den Staat, ohne Grösse: so dass er jedenfalls, wenn die Universitätsphilosophie einmal angeklagt werden sollte, sie nicht rechtfertigen könnte. Giebt es aber Naturen, welche sie zu rechtfertigen vermöchten—eben wie die Schopenhauers und Platons—so fürchte ich nur Eins: sie werden niemals dazu Anlass haben, weil nie ein Staat es wagen würde, solche Menschen zu begünstigen und in jene Stellungen zu versetzen. Weshalb doch? Weil jeder Staat sie fürchtet und immer nur Philosophen begünstigen wird, vor denen er sich nicht fürchtet. Es kommt nämlich vor, dass der Staat vor der Philosophie überhaupt Furcht hat, und gerade, wenn diess der Fall ist, wird er um so mehr Philosophen an sich heranzuziehen suchen, welche ihm den Anschein geben, als ob er die Philosophie auf seiner Seite habe—weil er diese Menschen auf seiner Seite hat, welche ihren Namen führen und doch so gar nicht furchteinflössend sind. Sollte aber ein Mensch auftreten, welcher wirklich Miene macht, mit dem Messer der Wahrheit Allem, auch dem Staate, an den Leib zu gehen, so ist der Staat, weil er vor allem seine Existenz bejaht, im Recht, einen solchen von sich auszuschliessen und als seinen Feind zu behandeln; ebenso wie er eine Religion ausschliesst und als Feind behandelt, welche sich über ihn stellt und sein Richter sein will. Erträgt es jemand also, Philosoph von Staatswegen zu sein, so muss er es auch ertragen, von ihm so angesehen zu werden, als ob er darauf verzichtet habe, der Wahrheit in alle Schlupfwinkel nachzugehen. Mindestens solange er begünstigt und angestellt ist, muss er über der Wahrheit noch etwas Höheres anerkennen, den Staat. Und nicht bloss den Staat, sondern alles zugleich, was der Staat zu seinem Wohle heischt: zum Beispiel eine bestimmte Form der Religion, der gesellschaftlichen Ordnung, der Heeresverfassung—allen solchen Dingen steht ein noli me tangere angeschrieben. Sollte wohl je ein Universitätsphilosoph sich den ganzen Umfang seiner Verpflichtung und Beschränkung klar gemacht haben? Ich weiss es nicht; hat es einer gethan und bleibt doch Staatsbeamter, so war er jedenfalls ein schlechter Freund der Wahrheit; hat er es nie gethan—nun, ich sollte meinen, auch dann wäre er kein Freund der Wahrheit.
Dies ist das allgemeinste Bedenken: als solches aber freilich für Menschen, wie sie jetzt sind, das schwächste und gleichgültigste. Den Meisten wird genügen mit der Achsel zu zucken und zu sagen: "als ob wohl je sich etwas Grosses und Reines auf dieser Erde habe aufhalten und festhalten können, ohne Concessionen an die menschliche Niedrigkeit zu machen! Wollt ihr denn, das der Staat den Philosophen lieber verfolge als dass er ihn besolde und in seinen Dienst nehme?" Ohne auf diese letzte Frage jetzt schon zu antworten, füge ich nur hinzu, dass diese Concessionen der Philosophie an den Staat doch gegenwärtig sehr weit gehen. Erstens, der Staat wählt sich seine philosophischen Diener aus und zwar so viele als er für seine Anstalten braucht; er giebt sich also das Ansehn, zwischen guten und schlechten Philosophen unterscheiden zu können, noch mehr, er setzt voraus, dass es immer genug von den guten geben müsse, um alle seine Lehrstühle mit ihnen zu besetzen. Nicht nur in Betreff der Güte, sondern auch der nothwendigen Zahl der guten ist er jetzt die Auctorität. Zweitens: er zwingt die, welche er sich ausgewählt hat, zu einem Aufenthalte an einem bestimmten Orte, unter bestimmten Menschen, zu einer bestimmten Thätigkeit; sie sollen jeden akademischen Jüngling, der Lust dazu hat, unterrichten, und zwar täglich, an festgesetzten Stunden. Frage: kann sich eigentlich ein Philosoph mit gutem Gewissen verpflichten, täglich etwas zu haben, was er lehrt? Und das vor Jedermann zu lehren, der zuhören will? Muss er sich nicht den Anschein geben, mehr zu wissen als er weiss? muss er nicht über Dinge vor einer unbekannten Zuhörerschaft reden, über welche er nur mit den nächsten Freunden ohne Gefahr reden dürfte? Und überhaupt: beraubt er sich nicht seiner herrlichsten Freiheit, seinem Genius zu folgen, wann dieser ruft und wohin dieser ruft?—dadurch dass er zu bestimmten Stunden öffentlich über Vorher-Bestimmtes zu denken verpflichtet ist. Und dies vor Jünglingen! Ist ein solches Denken nicht von vornherein gleichsam entmannt? Wie, wenn er nun gar eines Tages fühlte: "heute kann ich nichts denken, es fällt mir nichts Gescheutes ein"—und trotzdem müsste er sich hinstellen und zu denken scheinen!
Aber, wird man einwenden, er soll ja gar nicht Denker sein, sondern höchstens Nach- und Überdenker, vor allem aber gelehrter Kenner aller früheren Denker; von denen wird er immer etwas erzählen können, was seine Schüler nicht wissen.—Dies ist gerade die dritte höchst gefährliche Concession der Philosophie an den Staat, wenn sie sich ihm verpflichtet, zuerst und hauptsächlich als Gelehrsamkeit aufzutreten. Vor allem als Kenntniss der Geschichte der Philosophie; während für den Genius, welcher rein und mit Liebe, dem Dichter ähnlich, auf die Dinge blickt und sich nicht tief genug in sie hineinlegen kann, das Wühlen in zahllosen fremden und verkehrten Meinungen so ziemlich das widrigste und ungelegenste Geschäft ist. Die gelehrte Historie des Vergangnen war nie das Geschäft eines wahren Philosophen, weder in Indien, noch in Griechenland; und ein Philosophieprofessor muss es sich, wenn er sich mit solcherlei Arbeit befasst, gefallen lassen, dass man von ihm, besten Falls, sagt: er ist ein tüchtiger Philolog, Antiquar, Sprachkenner, Historiker: aber nie: er ist ein Philosoph. Jenes auch nur besten Falls, wie bemerkt: denn bei den meisten gelehrten Arbeiten, welche Universitätsphilosophen machen, hat ein Philolog das Gefühl, dass sie schlecht gemacht sind, ohne wissenschaftliche Strenge und meistens mit einer hassenswürdigen Langweiligkeit. Wer erlöst zum Beispiel die Geschichte der griechischen Philosophen wieder von dem einschläfernden Dunste, welchen die gelehrten, doch nicht allzuwissenschaftlichen und leider gar zu langweiligen Arbeiten Ritter's, Brandis und Zeller's darüber ausgebreitet haben? Ich wenigstens lese Laertius Diogenes lieber als Zeller, weil in jenem wenigstens der Geist der alten Philosophen lebt, in diesem aber weder der noch irgend ein andrer Geist. Und zuletzt in aller Welt: was geht unsre Jünglinge die Geschichte der Philosophie an? Sollen sie durch das Wirrsal der Meinungen entmuthigt werden, Meinungen zu haben? Sollen sie angelehrt werden, in den Jubel einzustimmen, wie wir's doch so herrlich weit gebracht? Sollen sie etwa gar die Philosophie hassen oder verachten lernen? Fast möchte man das letztere denken, wenn man weiss, wie sich Studenten, ihrer philosophischen Prüfungen wegen, zu martern haben, um die tollsten und spitzesten Einfälle des menschlichen Geistes, neben den grössten und schwerfasslichsten, sich in das arme Gehirn einzudrücken. Die einzige Kritik einer Philosophie, die möglich ist und die auch etwas beweist, nämlich zu versuchen, ob man nach ihr leben könne, ist nie auf Universitäten gelehrt worden: sondern immer die Kritik der Worte über Worte. Und nun denke man sich einen jugendlichen Kopf, ohne viel Erfahrung durch das Leben, in dem fünfzig Systeme als Worte und fünfzig Kritiken derselben neben und durch einander aufbewahrt werden—welche Wüstenei, welche Verwilderung, welcher Hohn auf eine Erziehung zur Philosophie! In der That wird auch zugeständlich gar nicht zu ihr erzogen, sondern zu einer philosophischen Prüfung: deren Erfolg bekanntlich und gewöhnlich ist, dass der Geprüfte, ach Allzu Geprüfte!—sich mit einem Stossseufzer eingesteht: "Gott sei Dank, dass ich kein Philosoph bin, sondern Christ und Bürger meines Staates!"
Wie, wenn dieser Stossseufzer eben die Absicht des Staates wäre und die "Erziehung zur Philosophie" nur eine Abziehung von der Philosophie? Man frage sich.—Sollte es aber so stehen, so ist nur Eins zu fürchten: dass endlich einmal die Jugend dahinter kommt, wozu hier eigentlich die Philosophie gemissbraucht wird. Das Höchste, die Erzeugung des philosophischen Genius, nichts als ein Vorwand? Das Ziel vielleicht gerade, dessen Erzeugung zu verhindern? Der Sinn in den Gegensinn umgedreht? Nun dann, wehe dem ganzen Complex von Staats- und Professoren-Klugheit! —
Und sollte so etwas bereits ruchbar geworden sein? Ich weiss es nicht; jedenfalls ist die Universitätsphilosophie einer allgemeinen Missachtung und Anzweifelung verfallen. Zum Theil hängt diese damit zusammen, dass jetzt gerade ein schwächliches Geschlecht auf den Kathedern herrscht; und Schopenhauer würde, wenn er jetzt seine Abhandlung über Universitätsphilosophie zu schreiben hätte, nicht mehr die Keule nöthig haben, sondern mit einem Binsenrohre siegen. Es sind die Erben und Nachkommen jener Afterdenker, denen er auf die vielverdrehten Köpfe schlug: sie nehmen sich säuglings- und zwergenhaft genug aus, um an den indischen Spruch zu erinnern: "nach ihren Thaten werden die Menschen geboren, dumm, stumm, taub, missgestaltet." Jene Väter verdienten eine solche Nachkommenschaft, nach ihren "Thaten," wie der Spruch sagt. Daher ist es ausser allem Zweifel, dass die akademischen Jünglinge sich sehr bald ohne die Philosophie, welche auf ihren Universitäten gelehrt wird, behelfen werden, und dass die ausserakademischen Männer sich jetzt bereits ohne sie behelfen. Man gedenke nur an seine eigne Studentenzeit; für mich zum Beispiel waren die akademischen Philosophen ganz und gar gleichgültige Menschen und galten mir als Leute, die aus den Ergebnissen der andern Wissenschaften sich etwas zusammen rührten, in Mussestunden Zeitungen lasen und Concerte besuchten, die übrigens selbst von ihren akademischen Genossen mit einer artig maskirten Geringschätzung behandelt wurden. Man traute ihnen zu, wenig zu wissen und nie um eine verdunkelnde Wendung verlegen zu sein, um über diesen Mangel des Wissens zu täuschen. Mit Vorliebe hielten sie sich deshalb an solchen dämmerigen Orten auf, wo es ein Mensch mit hellen Augen nicht lange aushält. Der Eine wendete gegen die Naturwissenschaften ein: keine kann mir das einfachste Werden völlig erklären, was liegt mir also an ihnen allen? Ein Andrer sagte von der Geschichte "dem welcher die Ideen hat, sagt sie nichts Neues"—kurz, sie fanden immer Gründe, weshalb es philosophischer sei nichts zu wissen als etwas zu lernen. Liessen sie sich aber auf's Lernen ein, so war dabei ihr geheimer Impuls, den Wissenschaften zu entfliehen und in irgend einer ihrer Lücken und Unaufgehelltheiten ein dunkles Reich zu gründen. So gingen sie nur noch in dem Sinne den Wissenschaften voran, wie das Wild vor den Jägern, die hinter ihm her sind. Neuerdings gefallen sie sich mit der Behauptung, dass sie eigentlich nur die Grenzwächter und Aufpasser der Wissenschaften seien; dazu dient ihnen besonders die kantische Lehre, aus welcher sie einen müssigen Scepticismus zu machen beflissen sind, um den sich bald Niemand mehr bekümmern wird. Nur hier und da schwingt sich noch einer von ihnen zu einer kleinen Metaphysik auf, mit den gewöhnlichen Folgen, nämlich Schwindel, Kopfschmerzen und Nasenbluten. Nachdem es ihnen so oft mit dieser Reise in den Nebel und die Wolken misslungen ist, nachdem alle Augenblicke irgend ein rauher hartköpfiger Jünger wahrer Wissenschaften sie bei dem Schopfe gefasst und heruntergezogen hat, nimmt ihr Gesicht den habituellen Ausdruck der Zimperlichkeit und des Lügengestraftseins an. Sie haben ganz die fröhliche Zuversicht verloren, so dass keiner nur noch einen Schritt breit seiner Philosophie zu Gefallen lebt. Ehemals glaubten einige von ihnen, neue Religionen erfinden oder alte durch ihre Systeme ersetzen zu können; jetzt ist ein solcher Übermuth von ihnen gewichen, sie sind meistens fromme, schüchterne und unklare Leute, nie tapfer wie Lucrez und ingrimmig über den Druck, der auf den Menschen gelegen hat. Auch das logische Denken kann man bei ihnen nicht mehr lernen, und die sonst üblichen Disputirübungen haben sie in natürlicher Schätzung ihrer Kräfte eingestellt. Ohne Zweifel ist man jetzt auf der Seite der einzelnen Wissenschaften logischer, behutsamer, bescheidner, erfindungsreicher, kurz es geht dort philosophischer zu als bei den sogenannten Philosophen: so dass jedermann dem unbefangnen Engländer Bagehot zustimmen wird, wenn dieser von den jetzigen Systembauern sagt: "Wer ist nicht fast im Voraus überzeugt, dass ihre Prämissen eine wunderbare Mischung von Wahrheit und Irrthum enthalten und es daher nicht der Mühe verlohnt, über die Consequenzen nachzudenken? Das fertig Abgeschlossne dieser Systeme zieht vielleicht die Jugend an und macht auf die Unerfahrnen Eindruck, aber ausgebildete Menschen lassen sich nicht davon blenden. Sie sind immer bereit Andeutungen und Vermuthungen günstig aufzunehmen und die kleinste Wahrheit ist ihnen willkommen—aber ein grosses Buch von deductiver Philosophie fordert den Argwohn heraus. Zahllose unbewiesene abstracte Principien sind von sanguinischen Leuten hastig gesammelt und in Büchern und Theorien sorgfältig in die Länge gezogen worden, um mit ihnen die ganze Welt zu erklären. Aber die Welt kümmert sich nicht um diese Abstractionen, und das ist kein Wunder, da diese sich unter einander widersprechen." Wenn ehedem der Philosoph besonders in Deutschland in so tiefes Nachdenken versunken war, dass er in fortwährender Gefahr schwebte, mit dem Kopf an jeden Balken zu rennen, so ist ihnen jetzt, wie es Swift von den Laputiern erzählt, eine ganze Schaar von Klapperern beigegeben, um ihnen bei Gelegenheit einen sanften Schlag auf die Augen oder sonst wohin zu geben. Mitunter mögen diese Schläge etwas zu stark sein, dann vergessen sich wohl die Erdentrückten und schlagen wieder, etwas was immer zu ihrer Beschämung abläuft. Siehst du nicht den Balken, du Duselkopf, sagt dann der Klapperer—und wirklich sieht der Philosoph öfters den Balken und wird wieder sanft. Diese Klapperer sind die Naturwissenschaften und die Historie; allmählich haben diese die deutsche Traum- und Denkwirthschaft, die so lange Zeit mit der Philosophie verwechselt wurde, dermaassen eingeschüchtert, dass jene Denkwirthe den Versuch, selbstständig zu gehen, gar zu gern aufgeben möchten; wenn sie aber jenen unversehens in die Arme fallen oder ein Gängelbändchen an sie anbinden wollen, um sich selbst zu gängeln, so klappern jene sofort so fürchterlich wie möglich—als ob sie sagen wollten "das fehlte nur noch, dass so ein Denkwirth uns die Naturwissenschaften oder die Historie verunreinigte! Fort mit ihm!" Da schwanken sie nun wieder zurück, zu ihrer eignen Unsicherheit und Rathlosigkeit: durchaus wollen sie ein wenig Naturwissenschaft zwischen den Händen haben, etwa als empirische Psychologie, wie die Herbartianer, durchaus auch ein wenig Historie,—dann können sie wenigstens öffentlich so thun, als ob sie sich wissenschaftlich beschäftigten, ob sie gleich im Stillen alle Philosophie und alle Wissenschaft zum Teufel wünschen. —
Aber zugegeben dass diese Schaar von schlechten Philosophen lächerlich ist—und wer wird es nicht zugeben?—in wiefern sind sie denn auch schädlich? Kurz geantwortet: dadurch dass sie die Philosophie zu einer lächerlichen Sache machen. So lange das staatlich anerkannte Afterdenkerthum bestehen bleibt, wird jede grossartige Wirkung einer wahren Philosophie vereitelt oder mindestens gehemmt und zwar durch nichts als durch den Fluch des Lächerlichen, den die Vertreter jener grossen Sache sich zugezogen haben, der aber die Sache selber trifft. Deshalb nenne ich es eine Forderung der Kultur, der Philosophie jede staadiche und akademische Anerkennung zu entziehn und überhaupt Staat und Akademie der für sie unlösbaren Aufgabe zu entheben, zwischen wahrer und scheinbarer Philosophie zu unterscheiden. Lasst die Philosophen immerhin wild wachsen, versagt ihnen jede Aussicht auf Anstellung und Einordnung in die bürgerlichen Berufsarten, kitzelt sie nicht mehr durch Besoldungen, ja noch mehr: verfolgt sie, seht ungnädig auf sie—ihr sollt Wunderdinge erleben! Da werden sie auseinanderflüchten und hier und dort ein Dach suchen, die armen Scheinbaren; hier öffnet sich eine Pfarrei, dort eine Schulmeisterei, dieser verkriecht sich bei der Redaction einer Zeitung, jener schreibt Lehrbücher für höhere Töchterschulen, der Vernünftigste von ihnen ergreift den Pflug, und der Eitelste geht zu Hofe. Plötzlich ist alles leer, das Nest ausgeflogen: denn es ist leicht sich von den schlechten Philosophen zu befrein, man braucht sie nur einmal nicht zu begünstigen. Und das ist jedenfalls mehr anzurathen, als irgend eine Philosophie, sie sei welche sie wolle, öffentlich, von Staatswegen, zu patronisiren.
Dem Staat ist es nie an der Wahrheit gelegen, sondern immer nur an der ihm nützlichen Wahrheit, noch genauer gesagt, überhaupt an allem ihm Nützlichen, sei dies nun Wahrheit, Halbwahrheit oder Irrthum. Ein Bündniss von Staat und Philosophie hat also nur dann einen Sinn, wenn die Philosophie versprechen kann, dem Staat unbedingt nützlich zu sein, das heisst den Staatsnutzen höher zu stellen als die Wahrheit. Freilich wäre es für den Staat etwas Herrliches, auch die Wahrheit in seinem Dienste und Solde zu haben; nur weiss er selbst recht wohl, dass es zu ihrem Wesen gehört, nie Dienste zu thun, nie Sold zu nehmen. Somit hat er in dem, was er hat, nur die falsche "Wahrheit," eine Person mit einer Larve: und diese kann ihm nun leider auch nicht leisten, was er von der ächten Wahrheit so sehr begehrt: seine eigne Gültig- und Heiligsprechung. Wenn ein mittelalterlicher Fürst vom Papste gekrönt werden wollte, aber es von ihm nicht erlangen konnte, so ernannte er wohl einen Gegenpapst, der ihm dann diesen Dienst erwies. Das mochte bis zu einem gewissen Grade angehen; aber es geht nicht an, wenn der moderne Staat eine Gegenphilosophie ernennt, von der er legitimirt werden will; denn er hat nach wie vor die Philosophie gegen sich und zwar jetzt mehr als vorher. Ich glaube allen Ernstes, es ist ihm nützlicher, sich gar nicht mit ihr zu befassen, gar nichts von ihr zu begehren und sie so lange es möglich ist als etwas Gleichgültiges gehen zu lassen. Bleibt es nicht bei dieser Gleichgültigkeit, wird sie gegen ihn gefährlich und angreifend, so mag er sie verfolgen.—Da der Staat kein weiteres Interesse an der Universität haben kann, als durch sie ergebene und nützliche Staatsbürger zu erziehen, so sollte er Bedenken tragen, diese Ergebenheit, diesen Nutzen dadurch in Frage zu stellen, dass er von den jüngern Männern eine Prüfung in der Philosophie verlangt: zwar in Anbetracht der trägen und unbefähigten Köpfe mag es das rechte Mittel sein, um von ihrem Studium überhaupt abzuschrecken, dadurch dass man sie zu einem Examengespenst macht; aber dieser Gewinn vermag nicht den Schaden aufzuwiegen, welchen ebendieselbe erzwungene Beschäftigung bei den wagehalsigen und unruhigen Jünglingen hervorruft; sie lernen verbotene Bücher kennen, beginnen ihre Lehrer zu kritisiren und merken endlich gar den Zweck der Universitätsphilosophie und jener Prüfungen—gar nicht zu reden von den Bedenken, auf welche junge Theologen bei dieser Gelegenheit gerathen können und in Folge deren sie in Deutschland auszusterben anfangen, wie in Tirol die Steinböcke.—Ich weiss wohl, welche Einwendung der Staat gegen diese ganze Betrachtung machen konnte, so lange noch die schöne grüne Hegelei auf allen Feldern aufwuchs: aber nachdem diese Erndte verhagelt ist und von allen den Versprechungen, welche man damals sich von ihr machte, nichts sich erfüllt hat und alle Scheuern leer blieben—da wendet man lieber nichts mehr ein, sondern wendet sich von der Philosophie ab. Man hat jetzt die Macht: damals, zur Zeit Hegels, wollte man sie haben—das ist ein grosser Unterschied. Der Staat braucht die Sanktion durch die Philosophie nicht mehr, dadurch ist sie für ihn überflüssig geworden. Wenn er ihre Professuren nicht mehr unterhält oder, wie ich für die nächste Zeit voraussetze, nur noch scheinbar und lässig unterhält, so hat er seinen Nutzen dabei—doch wichtiger scheint es mir, dass auch die Universität darin ihren Vortheil sieht. Wenigstens sollte ich denken, eine Stätte wirklicher Wissenschaften müsse sich dadurch gefördert sehen, wenn sie von der Gemeinschaft mit einer Halb- und Viertelswissenschaft befreit werde. Überdies steht es um die Achtbarkeit der Universitäten viel zu seltsam, um nicht principiell die Ausscheidung von Disciplinen wünschen zu müssen, welche von den Akademikern selbst gering geachtet werden. Denn die Nichtakademiker haben gute Gründe zu einer gewissen allgemeinen Missachtung der Universitäten; sie werfen ihnen vor, dass sie feige sind, dass die kleinen sich vor den grossen und dass die grossen sich vor der öffentlichen Meinung fürchten; dass sie in allen Angelegenheiten höherer Kultur nicht vorangehen, sondern langsam und spät hinterdrein hinken; dass die eigentliche Grundrichtung angesehener Wissenschaften gar nicht mehr eingehalten wird. Man treibt zum Beispiel die sprachlichen Studien eifriger als je, ohne dass man für sich selbst eine strenge Erziehung in Schrift und Rede für nöthig befände. Das indische Alterthum eröffnet seine Thore, und seine Kenner haben zu den unvergänglichsten Werken der Inder, zu ihren Philosophien kaum ein andres Verhältniss als ein Thier zur Lyra: obschon Schopenhauer das Bekanntwerden der indischen Philosophie für einen der grössten Vortheile hielt, welche unser Jahrhundert vor anderen voraushabe. Das klassische Alterthum ist zu einem beliebigen Alterthum geworden und wirkt nicht mehr klassisch und vorbildlich; wie seine Jünger beweisen, welche doch wahrhaftig keine vorbildlichen Menschen sind. Wohin ist der Geist Friedrich August Wolf's verflogen, von dem Franz Passow sagen konnte, er erscheine als ein ächt patriotischer, ächt humaner Geist, der allenfalls die Kraft hätte, einen Welttheil in Gährung und Flammen zu versetzen—wo ist dieser Geist hin? Dagegen drängt sich immer mehr der Geist der Journalisten auf der Universität ein, und nicht selten unter dem Namen der Philosophie; ein glatter geschminkter Vortrag, Faust und Nathan den Weisen auf den Lippen, die Sprache und die Ansichten unserer ekelhaften Litteraturzeitungen, neuerdings gar noch Geschwätz über unsere heilige deutsche Musik, selbst die Forderung von Lehrstühlen für Schiller und Goethe—solche Anzeichen sprechen dafür, dass der Universitätsgeist anfängt, sich mit dem Zeitgeiste zu verwechseln. Da scheint es mir vom höchsten Werthe, wenn ausserhalb der Universitäten ein höheres Tribunal entsteht, welches auch diese Anstalten in Hinsicht auf die Bildung, die sie fördern, überwache und richte; und sobald die Philosophie aus den Universitäten ausscheidet und sich damit von allen unwürdigen Rücksichten und Verdunkelungen reinigt, wird sie gar nichts anderes sein können, als ein solches Tribunal: ohne staatliche Macht, ohne Besoldung und Ehren, wird sie ihren Dienst zu thun wissen, frei vom Zeitgeiste sowohl als von der Furcht vor diesem Geiste—kurz gesagt, so wie Schopenhauer lebte, als der Richter der ihn umgebenden sogenannten Kultur. Dergestalt vermag der Philosoph auch der Universität zu nützen, wenn er sich nicht mit ihr verquickt, sondern sie vielmehr aus einer gewissen würdevollen Weite übersieht.
Zuletzt aber—was gilt uns die Existenz eines Staates, die Förderung der Universitäten, wenn es sich doch vor Allem um die Existenz der Philosophie auf Erden handelt! oder—um gar keinen Zweifel darüber zu lassen, was ich meine—wenn so unsäglich mehr daran gelegen ist, dass ein Philosoph auf Erden entsteht, als dass ein Staat oder eine Universität fortbesteht. In dem Maasse als die Knechtschaft unter öffentlichen Meinungen und die Gefahr der Freiheit zunimmt, kann sich die Würde der Philosophie erhöhen; sie war am höchsten unter den Erdbeben der untergehenden römischen Republik und in der Kaiserzeit, wo ihr Name und der der Geschichte ingrata principibus nomina wurden. Brutus beweist mehr für ihre Würde als Plato; es sind die Zeiten, in denen die Ethik aufhörte, Gemeinplätze zu haben. Wenn die Philosophie jetzt nicht viel geachtet wird, so soll man nur fragen, weshalb jetzt kein grosser Feldherr und Staatsmann sich zu ihr bekennt—nur deshalb, weil in der Zeit, wo er nach ihr gesucht hat, ihm ein schwächliches Phantom unter dem Namen der Philosophie entgegenkam, jene gelehrtenhafte Katheder-Weisheit und Katheder-Vorsicht, kurz weil ihm die Philosophie bei Zeiten eine lächerliche Sache geworden ist. Sie sollte ihm aber eine furchtbare Sache sein; und die Menschen, welche berufen sind, Macht zu suchen, sollten wissen, welche Quelle des Heroischen in ihr fliesst. Ein Amerikaner mag ihnen sagen, was ein grosser Denker, der auf diese Erde kommt, als neues Centrum ungeheurer Kräfte zu bedeuten hat. "Seht euch vor, sagt Emerson, wenn der grosse Gott einen Denker auf unsern Planeten kommen lässt. Alles ist dann in Gefahr. Es ist wie wenn in einer grossen Stadt eine Feuersbrunst ausgebrochen ist, wo keiner weiss, was eigentlich noch sicher ist und wo es enden wird. Da ist nichts in der Wissenschaft, was nicht morgen eine Umdrehung erfahren haben möchte, da gilt kein litterarisches Ansehn mehr, noch die sogenannten ewigen Berühmtheiten; alle Dinge, die dem Menschen zu dieser Stunde theuer und werth sind, sind dies nur auf Rechnung der Ideen, die an ihrem geistigen Horizonte aufgestiegen sind und welche die gegenwärtige Ordnung der Dinge ebenso verursachen, wie ein Baum seine Aepfel trägt. Ein neuer Grad der Kultur würde augenblicklich das ganze System menschlicher Bestrebungen einer Umwälzung unterwerfen." Nun, wenn solche Denker gefährlich sind, so ist freilich deutlich, wesshalb unsre akademischen Denker ungefährlich sind; denn ihre Gedanken wachsen so friedlich im Herkömmlichen, wie nur je ein Baum seine Aepfel trug: sie erschrecken nicht, sie heben nicht aus den Angeln; und von ihrem ganzen Tichten und Trachten wäre zu sagen, was Diogenes, als man einen Philosophen lobte, seinerseits einwendete: "Was hat er denn Grosses aufzuweisen, da er so lange Philosophie treibt und noch Niemanden betrübt hat?" Ja, so sollte es auf der Grabschrift der Universitätsphilosophie heissen: "sie hat Niemanden betrübt." Doch ist dies freilich mehr das Lob eines alten Weibes als einer Göttin der Wahrheit, und es ist nicht verwunderlich, wenn die, welche jene Göttin nur als altes Weib kennen, selber sehr wenig Männer sind und deshalb gebührendermaassen von den Männern der Macht gar nicht mehr berücksichtigt werden.