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Unzeitgemäss ist auch diese Betrachtung, weil ich etwas, worauf die Zeit mit Recht stolz ist, ihre historische Bildung, hier einmal als Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit zu verstehen versuche, weil ich sogar glaube, dass wir Alle an einem verzehrenden historischen Fieber leiden und mindestens erkennen sollten, dass wir daran leiden. Wenn aber Goethe mit gutem Rechte gesagt hat, dass wir mit unseren Tugenden zugleich auch unsere Fehler anbauen, und wenn, wie Jedermann weiss, eine hypertrophische Tugend—wie sie mir der historische Sinn unserer Zeit zu sein scheint—so gut zum Verderben eines Volkes werden kann wie ein hypertrophisches Laster: so mag man mich nur einmal gewähren lassen. Auch soll zu meiner Entlastung nicht verschwiegen werden, dass ich die Erfahrungen, die mir jene quälenden Empfindungen erregten, meistens aus mir selbst und nur zur Vergleichung aus Anderen entnommen habe, und dass ich nur sofern ich Zögling älterer Zeiten, zumal der griechischen bin, über mich als ein Kind dieser jetzigen Zeit zu so unzeitgemässen Erfahrungen komme. So viel muss ich mir aber selbst von Berufs wegen als classischer Philologe zugestehen dürfen: denn ich wüsste nicht, was die classische Philologie in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäss—das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit—zu wirken.

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Betrachte die Heerde, die an dir vorüberweidet: sie weiss nicht was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblickes und deshalb weder schwermüthig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschenthums sich vor dem Thiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt—denn das will er allein, gleich dem Thiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will es doch vergebens, weil er es nicht will wie das Thier. Der Mensch fragt wohl einmal das Thier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Thier will auch antworten und sagen, das kommt daher dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte—da vergass es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so dass der Mensch sich darob verwunderte.

Er wundert sich aber auch über sich selbst, das Vergessen nicht lernen zu können und immerfort am Vergangenen zu hängen: mag er noch so weit, noch so schnell laufen, die Kette läuft mit. Es ist ein Wunder: der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch noch als Gespenst wieder und stört die Ruhe eines späteren Augenblicks. Fortwährend löst sich ein Blatt aus der Rolle der Zeit, fällt heraus, flattert fort—und flattert plötzlich wieder zurück, dem Menschen in den Schooss. Dann sagt der Mensch "ich erinnere mich" und beneidet das Thier, welches sofort vergisst und jeden Augenblick wirklich sterben, in Nebel und Nacht zurücksinken und auf immer erlöschen sieht. So lebt das Thier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne dass ein wunderlicher Bruch übrig bleibt, es weiss sich nicht zu verstellen, verbirgt nichts und erscheint in jedem Momente ganz und gar als das was es ist, kann also gar nicht anders sein als ehrlich. Der Mensch hingegen stemmt sich gegen die grosse und immer grössere Last des Vergangenen: diese drückt ihn nieder oder beugt ihn seitwärts, diese beschwert seinen Gang als eine unsichtbare und dunkle Bürde, welche er zum Scheine einmal verläugnen kann, und welche er im Umgange mit seines Gleichen gar zu gern verläugnet: um ihren Neid zu wecken. Deshalb ergreift es ihn, als ob er eines verlorenen Paradieses gedächte, die weidende Heerde oder, in vertrauterer Nähe, das Kind zu sehen, das noch nichts Vergangenes zu verläugnen hat und zwischen den Zäunen der Vergangenheit und der Zukunft in überseliger Blindheit spielt. Und doch muss ihm sein Spiel gestört werden: nur zu zeitig wird es aus der Vergessenheit heraufgerufen. Dann lernt es das Wort "es war" zu verstehen, jenes Losungswort, mit dem Kampf, Leiden und Ueberdruss an den Menschen herankommen, ihn zu erinnern, was sein Dasein im Grunde ist—ein nie zu vollendendes Imperfectum. Bringt endlich der Tod das ersehnte Vergessen, so unterschlägt er doch zugleich dabei die Gegenwart und das Dasein und drückt damit das Siegel auf jene Erkenntniss, dass Dasein nur ein ununterbrochenes Gewesensein ist, ein Ding, das davon lebt, sich selbst zu verneinen und zu verzehren, sich selbst zu widersprechen.

Wenn ein Glück, wenn ein Haschen nach neuem Glück in irgend einem Sinne das ist, was den Lebenden im Leben festhält und zum Leben fortdrängt, so hat vielleicht kein Philosoph mehr Recht als der Cyniker: denn das Glück des Thieres, als des vollendeten Cynikers, ist der lebendige Beweis für das Recht des Cynismus. Das kleinste Glück, wenn es nur ununterbrochen da ist und glücklich macht, ist ohne Vergleich mehr Glück als das grösste, das nur als Episode, gleichsam als Laune, als toller Einfall, zwischen lauter Unlust, Begierde und Entbehren kommt. Bei dem kleinsten aber und bei dem grössten Glücke ist es immer Eines, wodurch Glück zum Glücke wird: das Vergessen-können oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden. Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist und noch schlimmer: er wird nie etwas thun, was Andere glücklich macht. Denkt euch das äusserste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besässe, der verurtheilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein Solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens: er wird wie der rechte Schüler Heraklits zuletzt kaum mehr wagen den Finger zu heben. Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde, oder dem Thiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholten Wiederkäuen leben sollte. Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Thier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Oder, um mich noch einfacher über mein Thema zu erklären: es giebt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt, und zuletzt zu Grunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Cultur.

Um diesen Grad und durch ihn dann die Grenze zu bestimmen, an der das Vergangene vergessen werden muss, wenn es nicht zum Todtengräber des Gegenwärtigen werden soll, müsste man genau wissen, wie gross die plastische Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur ist, ich meine jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen. Es giebt Menschen die diese Kraft so wenig besitzen, dass sie an einem einzigen Erlebniss, an einem einzigen Schmerz, oft zumal an einem einzigen zarten Unrecht, wie an einem ganz kleinen blutigen Risse unheilbar verbluten; es giebt auf der anderen Seite solche, denen die wildesten und schauerlichsten Lebensunfälle und selbst Thaten der eigenen Bosheit so wenig anhaben, dass sie es mitten darin oder kurz darauf zu einem leidlichen Wohlbefinden und zu einer Art ruhigen Gewissens bringen. Je stärkere Wurzeln die innerste Natur eines Menschen hat, um so mehr wird er auch von der Vergangenheit sich aneignen oder anzwingen; und dächte man sich die mächtigste und ungeheuerste Natur, so wäre sie daran zu erkennen, dass es für sie gar keine Grenze des historischen Sinnes geben würde, an der er überwuchernd und schädlich zu wirken vermöchte; alles Vergangene, eigenes und fremdestes, würde sie an sich heran, in sich hineinziehen und gleichsam zu Blut umschaffen. Das was eine solche Natur nicht bezwingt, weiss sie zu vergessen; es ist nicht mehr da, der Horizont ist geschlossen und ganz, und nichts vermag daran zu erinnern, dass es noch jenseits desselben Menschen, Leidenschaften, Lehren, Zwecke giebt. Und dies ist ein allgemeines Gesetz: jedes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden; ist es unvermögend einen Horizont um sich zu ziehen und zu selbstisch wiederum, innerhalb eines fremden den eigenen Blick einzuschliessen, so siecht es matt oder überhastig zu zeitigem Untergange dahin. Die Heiterkeit, das gute Gewissen, die frohe That, das Vertrauen auf das Kommende—alles das hängt, bei dem Einzelnen wie bei dem Volke, davon ab, dass es eine Linie giebt, die das Uebersehbare, Helle von dem Unaufhellbaren und Dunkeln scheidet, davon dass man eben so gut zur rechten Zeit zu vergessen weiss, als man sich zur rechten Zeit erinnert, davon dass man mit kräftigem Instincte herausfühlt, wann es nöthig ist, historisch, wann unhistorisch zu empfinden. Dies gerade ist der Satz, zu dessen Betrachtung der Leser eingeladen ist: das Unhistorische und das Historische ist gleichermaassen für die Gesundheit eines Einzelnen, eines Volkes und einer Cultur nöthig.

Hier bringt nun Jeder zunächst eine Beobachtung mit: das historische Wissen und Empfinden eines Menschen kann sehr beschränkt, sein Horizont eingeengt wie der eines Alpenthal-Bewohners sein, in jedes Urtheil mag er eine Ungerechtigkeit, in jede Erfahrung den Irrthum legen, mit ihr der Erste zu sein—und trotz aller Ungerechtigkeit und allem Irrthum steht er doch in unüberwindlicher Gesundheit und Rüstigkeit da und erfreut jedes Auge; während dicht neben ihm der bei weitem Gerechtere und Belehrtere kränkelt und zusammenfällt, weil die Linien seines Horizontes immer von Neuem unruhig sich verschieben, weil er sich aus dem viel zarteren Netze seiner Gerechtigkeiten und Wahrheiten nicht wieder zum derben Wollen und Begehren herauswinden kann. Wir sahen dagegen das Thier, das ganz unhistorisch ist und beinahe innerhalb eines punktartigen Horizontes wohnt und doch in einem gewissen Glücke, wenigstens ohne Ueberdruss und Verstellung lebt; wir werden also die Fähigkeit, in einem bestimmten Grade unhistorisch empfinden zu können, für die wichtigere und ursprünglichere halten müssen, insofern in ihr das Fundament liegt, auf dem überhaupt erst etwas Rechtes, Gesundes und Grosses, etwas wahrhaft Menschliches wachsen kann. Das Unhistorische ist einer umhüllenden Atmosphäre ähnlich, in der sich Leben allein erzeugt, um mit der Vernichtung dieser Atmosphäre wieder zu verschwinden. Es ist wahr: erst dadurch, dass der Mensch denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschliessend jenes unhistorische Element einschränkt, erst dadurch dass innerhalb jener umschliessenden Dunstwolke ein heller, blitzender Lichtschein entsteht, also erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen: aber in einem Uebermaasse von Historie hört der Mensch wieder auf, und ohne jene Hülle des Unhistorischen würde er nie angefangen haben und anzufangen wagen. Wo finden sich Thaten, die der Mensch zu thun vermöchte, ohne vorher in jene Dunstschicht des Unhistorischen eingegangen zu sein? Oder um die Bilder bei Seite zu lassen und zur Illustration durch das Beispiel zu greifen: man vergegenwärtige sich doch einen Mann, den eine heftige Leidenschaft, für ein Weib oder für einen grossen Gedanken, herumwirft und fortzieht; wie verändert sich ihm seine Welt! Rückwärts blickend fühlt er sich blind, seitwärts hörend vernimmt er das Fremde wie einen dumpfen bedeutungsleeren Schall; was er überhaupt wahrnimmt, das nahm er noch nie so wahr; so fühlbar nah, gefärbt, durchtönt, erleuchtet, als ob er es mit allen Sinnen zugleich ergriffe. Alle Werthschätzungen sind verändert und entwerthet; so vieles vermag er nicht mehr zu schätzen, weil er es kaum mehr fühlen kann: er fragt sich ob er so lange der Narr fremder Worte, fremder Meinungen gewesen sei; er wundert sich, dass sein Gedächtniss sich unermüdlich in einem Kreise dreht und doch zu schwach und müde ist, um nur einen einzigen Sprung aus diesem Kreise heraus zu machen. Es ist der ungerechteste Zustand von der Welt, eng, undankbar gegen das Vergangene, blind gegen Gefahren, taub gegen Warnungen, ein kleiner lebendiger Wirbel in einem todten Meere von Nacht und Vergessen: und doch ist dieser Zustand—unhistorisch, widerhistorisch durch und durch—der Geburtsschooss nicht nur einer ungerechten, sondern vielmehr jeder rechten That; und kein Künstler wird sein Bild, kein Feldherr seinen Sieg, kein Volk seine Freiheit erreichen, ohne sie in einem derartig unhistorischen Zustande vorher begehrt und erstrebt zu haben. Wie der Handelnde, nach Goethes Ausdruck, immer gewissenlos ist, so ist er auch wissenlos, er vergisst das Meiste, um Eins zu thun, er ist ungerecht gegen das, was hinter ihm liegt und kennt nur Ein Recht, das Recht dessen, was jetzt werden soll. So liebt jeder Handelnde seine That unendlich mehr als sie geliebt zu werden verdient: und die besten Thaten geschehen in einem solchen Ueberschwange der Liebe, dass sie jedenfalls dieser Liebe unwerth sein müssen, wenn ihr Werth auch sonst unberechenbar gross wäre.

Sollte Einer im Stande sein, diese unhistorische Atmosphäre, in der jedes grosse geschichtliche Ereigniss entstanden ist, in zahlreichen Fällen auszuwittern und nachzuathmen, so vermöchte ein Solcher vielleicht, als erkennendes Wesen, sich auf einen überhistorischen Standpunkt zu erheben, wie ihn einmal Niebuhr als mögliches Resultat historischer Betrachtungen geschildert hat. "Zu einer Sache wenigstens," sagt er, "ist die Geschichte, klar und ausführlich begriffen, nutz: dass man weiss, wie auch die grössten und höchsten Geister unseres menschlichen Geschlechtes nicht wissen, wie zufällig ihr Auge die Form angenommen hat, wodurch sie sehen und wodurch zu sehen sie von Jedermann gewaltsam fordern, gewaltsam nämlich, weil die Intensität ihres Bewusstseins ausnehmend gross ist. Wer dies nicht ganz bestimmt und in vielen Fällen weiss und begriffen hat, den unterjocht die Erscheinung eines mächtigen Geistes, der in eine gegebene Form die höchste Leidenschaftlichkeit bringt." Ueberhistorisch wäre ein solcher Standpunkt zu nennen, weil Einer, der auf ihm steht, gar keine Verführung mehr zum Weiterleben und zur Mitarbeit an der Geschichte verspüren könnte, dadurch dass er die Eine Bedingung alles Geschehens, jene Blindheit und Ungerechtigkeit in der Seele des Handelnden, erkannt hätte; er wäre selbst davon geheilt, die Historie von nun an noch übermässig ernst zu nehmen: hätte er doch gelernt, an jedem Menschen, an jedem Erlebniss, unter Griechen oder Türken, aus einer Stunde des ersten oder des neunzehnten Jahrhunderts, die Frage sich zu beantworten, wie und wozu gelebt werde. Wer seine Bekannten fragt, ob sie die letzten zehn oder zwanzig Jahre noch einmal zu durchleben wünschten, wird leicht wahrnehmen, wer von ihnen für jenen überhistorischen Standpunkt vorgebildet ist: zwar werden sie wohl Alle Nein! antworten, aber sie werden jenes Nein! verschieden begründen. Die Einen vielleicht damit, dass sie sich getrösten "aber die nächsten zwanzig werden besser sein"; es sind die, von denen David Hume spöttisch sagt:

And from the dregs of life hope to receive,

What the first sprightly running could not give.

Wir wollen sie die historischen Menschen nennen; der Blick in die Vergangenheit drängt sie zur Zukunft hin, feuert ihren Muth an, es noch länger mit dem Leben aufzunehmen, entzündet die Hoffnung, dass das Rechte noch komme, dass das Glück hinter dem Berge sitze, auf den sie zuschreiten. Diese historischen Menschen glauben, dass der Sinn des Daseins im Verlaufe eines Prozesses immer mehr ans Licht kommen werde, sie schauen nur deshalb rückwärts, um an der Betrachtung des bisherigen Prozesses die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft heftiger begehren zu lernen; sie wissen gar nicht, wie unhistorisch sie trotz aller ihrer Historie denken und handeln, und wie auch ihre Beschäftigung mit der Geschichte nicht im Dienste der reinen Erkenntniss sondern des Lebens steht.

Aber jene Frage, deren erste Beantwortung wir gehört haben kann auch einmal anders beantwortet werden. Zwar wiederum mit einem Nein! aber mit einem anders begründeten Nein. Mit dem Nein des überhistorischen Menschen, der nicht im Prozesse das Heil sieht, für den vielmehr die Welt in jedem einzelnen Augenblicke fertig ist und ihr Ende erreicht. Was könnten zehn neue Jahre lehren, was die vergangenen zehn nicht zu lehren vermochten!

Ob nun der Sinn der Lehre Glück oder Resignation oder Tugend oder Busse ist, darin sind die überhistorischen Menschen mit einander nie einig gewesen; aber, allen historischen Betrachtungsarten des Vergangenen entgegen, kommen sie zur vollen Einmüthigkeit des Satzes: das Vergangene und das Gegenwärtige ist Eines und dasselbe, nämlich in aller Mannichfaltigkeit typisch gleich und als Allgegenwart unvergänglicher Typen ein stillstehendes Gebilde von unverändertem Werthe und ewig gleicher Bedeutung. Wie die Hunderte verschiedener Sprachen denselben typisch festen Bedürfnissen der Menschen entsprechen, so dass Einer, der diese Bedürfnisse verstände, aus allen Sprachen nichts Neues zu lernen vermöchte: so erleuchtet sich der überhistorische Denker alle Geschichte der Völker und der Einzelnen von innen heraus, hellseherisch den Ursinn der verschiedenen Hieroglyphen errathend und allmählich sogar der immer neu hinzuströmenden Zeichenschrift ermüdet ausweichend: denn wie sollte er es im unendlichen Ueberflusse des Geschehenden nicht zur Sättigung, zur Uebersättigung, ja zum Ekel bringen! so dass der Verwegenste zuletzt vielleicht bereit ist, mit Giacomo Leopardi zu seinem Herzen zu sagen:

"Nichts lebt, das würdig

Wär deiner Regungen, und keinen Seufzer verdient die Erde.

Schmerz und Langeweile ist unser Sein und Koth die Welt—nichts Andres.

Beruhige dich."

Doch lassen wir den überhistorischen Menschen ihren Ekel und ihre Weisheit: heute wollen wir vielmehr einmal unserer Unweisheit von Herzen froh werden und uns als den Thätigen und Fortschreitenden, als den Verehrern des Prozesses, einen guten Tag machen. Mag unsere Schätzung des Historischen nur ein occidentalisches Vorurtheil sein; wenn wir nur wenigstens innerhalb dieser Vorurtheile fortschreiten und nicht stille stehen! Wenn wir nur dies gerade immer besser lernen, Historie zum Zwecke des Lebens zu treiben! Dann wollen wir den Ueberhistorischen gerne zugestehen, dass sie mehr Weisheit besitzen, als wir; falls wir nämlich nur sicher sein dürfen, mehr Leben als sie zu besitzen: denn so wird jedenfalls unsere Unweisheit mehr Zukunft haben, als ihre Weisheit. Und damit gar kein Zweifel über den Sinn dieses Gegensatzes von Leben und Weisheit bestehen bleibe, will ich mir durch ein von Alters her wohlbewährtes Verfahren zu Hülfe kommen und gerades Wegs einige Thesen aufstellen.

Ein historisches Phänomen, rein und vollständig erkannt und in ein Erkenntnissphänomen aufgelöst, ist für den, der es erkannt hat, todt: denn er hat in ihm den Wahn, die Ungerechtigkeit, die blinde Leidenschaft und überhaupt den ganzen irdisch umdunkelten Horizont jenes Phänomens und zugleich eben darin seine geschichtliche Macht erkannt. Diese Macht ist jetzt für ihn, den Wissenden, machtlos geworden: vielleicht noch nicht für ihn, den Lebenden.

Die Geschichte als reine Wissenschaft gedacht und souverän geworden, wäre eine Art von Lebens-Abschluss und Abrechnung für die Menschheit. Die historische Bildung ist vielmehr nur im Gefolge einer mächtigen neuen Lebensströmung, einer werdenden Cultur zum Beispiel, etwas Heilsames und Zukunft-Verheissendes, also nur dann, wenn sie von einer höheren Kraft beherrscht und geführt wird und nicht selber herrscht und führt.

Die Historie, sofern sie im Dienste des Lebens steht, steht im Dienste einer unhistorischen Macht und wird deshalb nie, in dieser Unterordnung, reine Wissenschaft, etwa wie die Mathematik es ist, werden können und sollen. Die Frage aber, bis zu welchem Grade das Leben den Dienst der Historie überhaupt brauche, ist eine der höchsten Fragen und Sorgen in Betreff der Gesundheit eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur. Denn bei einem gewissen Uebermaass derselben zerbröckelt und entartet das Leben und zuletzt auch wieder, durch diese Entartung, selbst die Historie.

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Dass das Leben aber den Dienst der Historie brauche, muss eben so deutlich begriffen werden als der Satz, der später zu beweisen sein wird—dass ein Uebermaass der Historie dem Lebendigen schade. In dreierlei Hinsicht gehört die Historie dem Lebendigen: sie gehört ihm als dem Thätigen und Strebenden, ihm als dem Bewahrenden und Verehrenden, ihm als dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen. Dieser Dreiheit von Beziehungen entspricht eine Dreiheit von Arten der Historie: sofern es erlaubt ist eine monumentalische, eine antiquarische und eine kritische Art der Historie zu unterscheiden.

Die Geschichte gehört vor Allem dem Thätigen und Mächtigen, dem, der einen grossen Kampf kämpft, der Vorbilder, Lehrer, Tröster braucht und sie unter seinen Genossen und in der Gegenwart nicht zu finden vermag. So gehörte sie Schillern: denn unsere Zeit ist so schlecht, sagte Goethe, dass dem Dichter im umgebenden menschlichen Leben keine brauchbare Natur mehr begegnet. Mit der Rücksicht auf den Thätigen nennt zum Beispiel Polybius die politische Historie die rechte Vorbereitung zur Regierung eines Staates und die vorzüglichste Lehrmeisterin, als welche durch die Erinnerung an die Unfälle Anderer uns ermahne, die Abwechselungen des Glückes standhaft zu ertragen. Wer hierin den Sinn der Historie zu erkennen gelernt hat, den muss es verdriessen, neugierige Reisende oder peinliche Mikrologen auf den Pyramiden grosser Vergangenheiten herumklettern zu sehen; dort, wo er die Anreizungen zum Nachahmen und Bessermachen findet, wünscht er nicht dem Müssiggänger zu begegnen, der, begierig nach Zerstreuung oder Sensation, wie unter den gehäuften Bilderschätzen einer Galerie herumstreicht. Dass der Thätige mitten unter den schwächlichen und hoffnungslosen Müssiggängern, mitten unter den scheinbar thätigen, in Wahrheit nur aufgeregten und zappelnden Genossen nicht verzage und Ekel empfinde, blickt er hinter sich und unterbricht den Lauf zu seinem Ziele, um einmal aufzuathmen. Sein Ziel aber ist irgend ein Glück, vielleicht nicht sein eigenes, oft das eines Volkes oder das der Menschheit insgesammt; er flieht vor der Resignation zurück und gebraucht die Geschichte als Mittel gegen die Resignation. Zumeist winkt ihm kein Lohn, wenn nicht der Ruhm, das heisst die Anwartschaft auf einen Ehrenplatz im Tempel der Historie, wo er selbst wieder den Späterkommenden Lehrer, Tröster und Warner sein kann. Denn sein Gebot lautet: das was einmal vermochte, den Begriff "Mensch" weiter auszuspannen und schöner zu erfüllen, das muss auch ewig vorhanden sein, um dies ewig zu vermögen. Dass die grossen Momente im Kampfe der Einzelnen eine Kette bilden, dass in ihnen ein Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende hin sich verbinde, dass für mich das Höchste eines solchen längst vergangenen Momentes noch lebendig, hell und gross sei—das ist der Grundgedanke im Glauben an die Humanität, der sich in der Forderung einer monumentalischen Historie ausspricht. Gerade aber an dieser Forderung, dass das Grosse ewig sein solle, entzündet sich der furchtbarste Kampf. Denn alles Andere, was noch lebt, ruft Nein. Das Monumentale soll nicht entstehen—das ist die Gegenlosung. Die dumpfe Gewöhnung, das Kleine und Niedrige, alle Winkel der Welt erfüllend, als schwere Erdenluft um alles Grosse qualmend, wirft sich hemmend, täuschend, dämpfend, erstickend in den Weg, den das Grosse zur Unsterblichkeit zu gehen hat. Dieser Weg aber führt durch menschliche Gehirne! Durch die Gehirne geängstigter und kurzlebender Thiere, die immer wieder zu denselben Nöthen auftauchen und mit Mühe eine geringe Zeit das Verderben von sich abwehren. Denn sie wollen zunächst nur Eines: leben um jeden Preis. Wer möchte bei ihnen jenen schwierigen Fackel-Wettlauf der monumentalen Historie vermuthen, durch den allein das Grosse weiterlebt! Und doch erwachen immer wieder Einige, die sich im Hinblick auf das vergangene Grosse und gestärkt durch seine Betrachtung so beseligt fühlen, als ob das Menschenleben eine herrliche Sache sei, und als ob es gar die schönste Frucht dieses bitteren Gewächses sei, zu wissen, dass früher einmal Einer stolz und stark durch dieses Dasein gegangen ist, ein Anderer mit Tiefsinn, ein Dritter mit Erbarmen und hülfreich—alle aber Eine Lehre hinterlassend, dass der am schönsten lebt, der das Dasein nicht achtet. Wenn der gemeine Mensch diese Spanne Zeit so trübsinnig ernst und begehrlich nimmt, wussten jene, auf ihrem Wege zur Unsterblichkeit und zur monumentalen Historie, es zu einem olympischen Lachen oder mindestens zu einem erhabenen Hohne zu bringen; oft stiegen sie mit Ironie in ihr Grab—denn was war an ihnen zu begraben! Doch nur das, was sie als Schlacke, Unrath, Eitelkeit, Thierheit immer bedrückt hatte und was jetzt der Vergessenheit anheim fällt, nachdem es längst ihrer Verachtung preisgegeben war. Aber Eines wird leben, das Monogramm ihres eigensten Wesens, ein Werk, eine That, eine seltene Erleuchtung, eine Schöpfung: es wird leben, weil keine Nachwelt es entbehren kann. In dieser verklärtesten Form ist der Ruhm doch etwas mehr als der köstlichste Bissen unserer Eigenliebe, wie ihn Schopenhauer genannt hat, es ist der Glaube an die Zusammengehörigkeit und Continuität des Grossen aller Zeiten, es ist ein Protest gegen den Wechsel der Geschlechter und die Vergänglichkeit.

Wodurch also nützt dem Gegenwärtigen die monumentalische Betrachtung der Vergangenheit, die Beschäftigung mit dem Classischen und Seltenen früherer Zeiten? Er entnimmt daraus, dass das Grosse, das einmal da war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird; er geht muthiger seinen Gang, denn jetzt ist der Zweifel, der ihn in schwächeren Stunden anfällt, ob er nicht vielleicht das Unmögliche wolle, aus dem Felde geschlagen. Nehme man an, dass Jemand glaube, es gehörten nicht mehr als hundert productive, in einem neuen Geiste erzogene und wirkende Menschen dazu, um der in Deutschland gerade jetzt modisch gewordenen Gebildetheit den Garaus zu machen, wie müsste es ihn bestärken wahrzunehmen, dass die Cultur der Renaissance sich auf den Schultern einer solchen Hundert-Männer-Schaar heraushob.

Und doch—um an dem gleichen Beispiel sofort noch etwas Neues zu lernen—wie fliessend und schwebend, wie ungenau wäre jene Vergleichung! Wie viel des Verschiedenen muss, wenn sie jene kräftigende Wirkung thun soll, dabei übersehen, wie gewaltsam muss die Individualität des Vergangenen in eine allgemeine Form hineingezwängt und an allen scharfen Ecken und Linien zu Gunsten der Uebereinstimmung zerbrochen werden! Im Grunde ja könnte das, was einmal möglich war, sich nur dann zum zweiten Male als möglich einstellen, wenn die Pythagoreer Recht hätten zu glauben, dass bei gleicher Constellation der himmlischen Körper auch auf Erden das Gleiche, und zwar bis auf's Einzelne und Kleine sich wiederholen müsse: so dass immer wieder, wenn die Sterne eine gewisse Stellung zu einander haben, ein Stoiker sich mit einem Epikureer verbinden und Cäsar ermorden und immer wieder bei einem anderen Stande Columbus Amerika entdecken wird. Nur wenn die Erde ihr Theaterstück jedesmal nach dem fünften Akt von Neuem anfienge, wenn es feststünde, dass dieselbe Verknotung von Motiven, derselbe deus ex machina, dieselbe Katastrophe in bestimmten Zwischenräumen wiederkehrten, dürfte der Mächtige die monumentale Historie in voller ikonischer Wahrhaftigkeit, das heisst jedes Factum in seiner genau gebildeten Eigenthümlichkeit und Einzigkeit begehren: wahrscheinlich also nicht eher, als bis die Astronomen wieder zu Astrologen geworden sind. Bis dahin wird die monumentale Historie jene volle Wahrhaftigkeit nicht brauchen können: immer wird sie das Ungleiche annähern, verallgemeinern und endlich gleichsetzen, immer wird sie die Verschiedenheit der Motive und Anlässe abschwächen, um auf Kosten der causae die effectus monumental, nämlich vorbildlich und nachahmungswürdig, hinzustellen: so dass man sie, weil sie möglichst von den Ursachen absieht, mit geringer Uebertreibung eine Sammlung der "Effecte an sich" nennen könnte, als von Ereignissen, die zu allen Zeiten Effect machen werden. Das, was bei Volksfesten, bei religiösen oder kriegerischen Gedenktagen gefeiert wird, ist eigentlich ein solcher "Effect an sich": er ist es, der die Ehrgeizigen nicht schlafen lässt, der den Unternehmenden wie ein Amulet am Herzen liegt, nicht aber der wahrhaft geschichtliche Connexus von Ursachen und Wirkungen, der, vollständig erkannt, nur beweisen würde, dass nie wieder etwas durchaus Gleiches bei dem Würfelspiele der Zukunft und des Zufalls herauskommen könne.

So lange die Seele der Geschichtsschreibung in den grossen Antrieben liegt, die ein Mächtiger aus ihr entnimmt, so lange die Vergangenheit als nachahmungswürdig, als nachahmbar und zum zweiten Male möglich beschrieben werden muss, ist sie jedenfalls in der Gefahr, etwas verschoben, in's Schöne umgedeutet und damit der freien Erdichtung angenähert zu werden; ja es giebt Zeiten, die zwischen einer monumentalischen Vergangenheit und einer mythischen Fiction gar nicht zu unterscheiden vermögen: weil aus der einen Welt genau dieselben Antriebe entnommen werden können, wie aus der anderen. Regiert also die monumentalische Betrachtung des Vergangenen über die anderen Betrachtungsarten, ich meine über die antiquarische und kritische, so leidet die Vergangenheit selbst Schaden: ganze grosse Theile derselben werden vergessen, verachtet, und fliessen fort wie eine graue ununterbrochene Fluth, und nur einzelne geschmückte Facta heben sich als Inseln heraus: an den seltenen Personen, die überhaupt sichtbar werden, fällt etwas Unnatürliches und Wunderbares in die Augen, gleichsam die goldene Hüfte, welche die Schüler des Pythagoras an ihrem Meister erkennen wollten. Die monumentale Historie täuscht durch Analogien: sie reizt mit verführerischen Aehnlichkeiten den Muthigen zur Verwegenheit, den Begeisterten zum Fanatismus, und denkt man sich gar diese Historie in den Händen und Köpfen der begabten Egoisten und der schwärmerischen Bösewichter, so werden Reiche zerstört, Fürsten ermordet, Kriege und Revolutionen angestiftet und die Zahl der geschichtlichen "Effecte an sich," das heisst der Wirkungen ohne zureichende Ursachen, von Neuem vermehrt. Soviel zur Erinnerung an die Schäden, welche die monumentale Historie unter den Mächtigen und Thätigen, seien sie nun gut oder böse, anrichten kann: was wirkt sie aber erst wenn sich ihrer die Ohnmächtigen und Unthätigen bemächtigen und bedienen!

Nehmen wir das einfachste und häufigste Beispiel. Man denke sich die unkünstlerischen und schwachkünstlerischen Naturen durch die monumentalische Künstlerhistorie geharnischt und bewehrt: gegen wen werden sie jetzt ihre Waffen richten! Gegen ihre Erbfeinde, die starken Kunstgeister, also gegen die, welche allein aus jener Historie wahrhaft, das heisst zum Leben hin zu lernen und das Erlernte in eine erhöhte Praxis umzusetzen vermögen. Denen wird der Weg verlegt; denen wird die Luft verfinstert, wenn man ein halb begriffenes Monument irgend einer grossen Vergangenheit götzendienerisch und mit rechter Beflissenheit umtanzt, als ob man sagen wollte: "Seht, das ist die wahre und wirkliche Kunst: was gehen euch die Werdenden und Wollenden an!" Scheinbar besitzt dieser tanzende Schwarm sogar das Privilegium des "guten Geschmacks": denn immer stand der Schaffende im Nachtheil gegen den, der nur zusah, und nicht selbst die Hand anlegte; wie zu allen Zeiten der politische Kannegiesser klüger, gerechter und überlegsamer war, als der regierende Staatsmann. Will man aber gar auf das Gebiet der Kunst den Gebrauch der Volksabstimmungen und der Zahlen-Majoritäten übertragen und den Künstler gleichsam vor das Forum der aesthetischen Nichtsthuer zu seiner Selbstvertheidigung nöthigen, so kann man einen Eid darauf im Voraus leisten, dass er verurtheilt werden wird: nicht obwohl, sondern gerade weil seine Richter den Kanon der monumentalen Kunst, das heisst nach der gegebenen Erklärung, der Kunst, die zu allen Zeiten "Effect gemacht hat," feierlich proclamirt haben: während ihnen für alle noch nicht monumentale, weil gegenwärtige Kunst erstens das Bedürfniss, zweitens die reine Neigung, drittens eben jene Auctorität der Historie abgeht. Dagegen verräth ihnen ihr Instinct, dass die Kunst durch die Kunst todtgeschlagen werden könne: das Monumentale soll durchaus nicht wieder entstehen, und dazu nützt gerade das, was einmal die Auctorität des Monumentalen aus der Vergangenheit her hat. So sind sie Kunstkenner, weil sie die Kunst überhaupt beseitigen möchten, so gebärden sie sich als Aerzte, während sie es im Grunde auf Giftmischerei abgesehen haben, so bilden sie ihre Zunge und ihren Geschmack aus, um aus ihrer Verwöhntheit zu erklären, warum sie alles das, was ihnen von nahrhafter Kunstspeise angeboten wird, so beharrlich ablehnen. Denn sie wollen nicht, dass das Grosse entsteht: ihr Mittel ist zu sagen "seht, das Grosse ist schon da!" In Wahrheit geht sie dieses Grosse, das schon da ist, so wenig an, wie das, was entsteht: davon legt ihr Leben Zeugniss ab. Die monumentalische Historie ist das Maskenkleid, in dem sich ihr Hass gegen die Mächtigen und Grossen ihrer Zeit für gesättigte Bewunderung der Mächtigen und Grossen vergangener Zeiten ausgiebt, in welchem verkappt sie den eigentlichen Sinn jener historischen Betrachtungsart in den entgegengesetzten umkehren; ob sie es deutlich wissen oder nicht, sie handeln jedenfalls so, als ob ihr Wahlspruch wäre: lasst die Todten die Lebendigen begraben.

Jede der drei Arten von Historie, die es giebt, ist nur gerade auf Einem Boden und unter Einem Klima in ihrem Rechte: auf jedem anderen wächst sie zum verwüstenden Unkraut heran. Wenn der Mensch, der Grosses schaffen will, überhaupt die Vergangenheit braucht, so bemächtigt er sich ihrer vermittelst der monumentalischen Historie; wer dagegen im Gewohnten und Altverehrten beharren mag, pflegt das Vergangene als antiquarischer Historiker; und nur der, dem eine gegenwärtige Noth die Brust beklemmt und der um jeden Preis die Last von sich abwerfen will, hat ein Bedürfniss zur kritischen, das heisst richtenden und verurtheilenden Historie. Von dem gedankenlosen Verpflanzen der Gewächse rührt manches Unheil her: der Kritiker ohne Noth, der Antiquar ohne Pietät, der Kenner des Grossen ohne das Können des Grossen sind solche zum Unkraut aufgeschossene, ihrem natürlichen Mutterboden entfremdete und deshalb entartete Gewächse.

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Die Geschichte gehört also zweitens dem Bewahrenden und Verehrenden, dem, der mit Treue und Liebe dorthin zurückblickt, woher er kommt, worin er geworden ist; durch diese Pietät trägt er gleichsam den Dank für sein Dasein ab. Indem er das von Alters her Bestehende mit behutsamer Hand pflegt, will er die Bedingungen, unter denen er entstanden ist, für solche bewahren, welche nach ihm entstehen sollen—und so dient er dem Leben. Der Besitz von Urväter-Hausrath verändert in einer solchen Seele seinen Begriff: denn sie wird vielmehr von ihm besessen. Das Kleine, das Beschränkte, das Morsche und Veraltete erhält seine eigene Würde und Unantastbarkeit dadurch, dass die bewahrende und verehrende Seele des antiquarischen Menschen in diese Dinge übersiedelt und sich darin ein heimisches Nest bereitet. Die Geschichte seiner Stadt wird ihm zur Geschichte seiner selbst; er versteht die Mauer, das gethürmte Thor, die Rathsverordnung, das Volksfest wie ein ausgemaltes Tagebuch seiner Jugend und findet sich selbst in diesem Allen, seine Kraft, seinen Fleiss, seine Lust, sein Urtheil, seine Thorheit und Unart wieder. Hier liess es sich leben, sagt er sich, denn es lässt sich leben, hier wird es sich leben lassen, denn wir sind zäh und nicht über Nacht umzubrechen. So blickt er, mit diesem "Wir," über das vergängliche wunderliche Einzelleben hinweg und fühlt sich selbst als den Haus-, Geschlechts- und Stadtgeist. Mitunter grüsst er selbst über weite verdunkelnde und verwirrende Jahrhunderte hinweg die Seele seines Volkes als seine eigne Seele; ein Hindurchfühlen und Herausahnen, ein Wittern auf fast verlöschten Spuren, ein instinctives Richtig-Lesen der noch so überschriebenen Vergangenheit, ein rasches Verstehen der Palimpseste, ja Polypseste—das sind seine Gaben und Tugenden. Mit ihnen stand Goethe vor dem Denkmale Erwin's von Steinbach; in dem Sturme seiner Empfindung zerriss der historische zwischen ihnen ausgebreitete Wolkenschleier: er sah das deutsche Werk zum ersten Male wieder, "wirkend aus starker rauher deutscher Seele." Ein solcher Sinn und Zug führte die Italiäner der Renaissance und erweckte in ihren Dichtern den antiken italischen Genius von Neuem, zu einem "wundersamen Weiterklingen des uralten Saitenspiels," wie Jacob Burckhardt sagt. Den höchsten Werth hat aber jener historisch-antiquarische Verehrungssinn, wo er über bescheidne, rauhe, selbst kümmerliche Zustände, in denen ein Mensch oder ein Volk lebt, ein einfaches rührendes Lust- und Zufriedenheits-Gefühl verbreitet; wie zum Beispiel Niebuhr mit ehrlicher Treuherzigkeit eingesteht, in Moor und Haide unter freien Bauern, die eine Geschichte haben, vergnügt zu leben und keine Kunst zu vermissen. Wie könnte die Historie dem Leben besser dienen, als dadurch, dass sie auch die minder begünstigten Geschlechter und Bevölkerungen an ihre Heimat und Heimatsitte anknüpft, sesshaft macht und sie abhält, nach dem Besseren in der Fremde herum zu schweifen und um dasselbe wetteifernd zu kämpfen? Mitunter sieht es wie Eigensinn und Unverstand aus, was den Einzelnen an diese Gesellen und Umgebungen, an diese mühselige Gewohnheit, an diesen kahlen Bergrücken gleichsam festschraubt—aber es ist der heilsamste und der Gesammtheit förderlichste Unverstand; wie Jeder weiss, der sich die furchtbaren Wirkungen abenteuernder Auswanderungslust, etwa gar bei ganzen Völkerschwärmen, deutlich gemacht hat, oder der den Zustand eines Volkes in der Nähe sieht, das die Treue gegen seine Vorzeit verloren hat und einem rastlosen kosmopolitischen Wählen und Suchen nach Neuem und immer Neuem preisgegeben ist. Die entgegengesetzte Empfindung, das Wohlgefühl des Baumes an seinen Wurzeln, das Glück sich nicht ganz willkürlich und zufällig zu wissen, sondern aus einer Vergangenheit als Erbe, Blüthe und Frucht herauszuwachsen und dadurch in seiner Existenz entschuldigt, ja gerechtfertigt zu werden—dies ist es, was man jetzt mit Vorliebe als den eigentlich historischen Sinn bezeichnet.

Das ist nun freilich nicht der Zustand, in dem der Mensch am meisten befähigt wäre, die Vergangenheit in reines Wissen aufzulösen; so dass wir auch hier wahrnehmen, was wir bei der monumentalischen Historie wahrgenommen haben, dass die Vergangenheit selbst leidet, so lange die Historie dem Leben dient und von Lebenstrieben beherrscht wird. Mit einiger Freiheit des Bildes gesprochen: Der Baum fühlt seine Wurzeln mehr als dass er sie sehen könnte: dies Gefühl aber misst ihre Grösse nach der Grösse und Kraft seiner sichtbaren Aeste. Mag der Baum schon darin irren: wie wird er erst über den ganzen Wald um sich herum im Irrthum sein! von dem er nur soweit etwas weiss und fühlt als dieser ihn selbst hemmt oder selbst fördert—aber nichts ausserdem. Der antiquarische Sinn eines Menschen, einer Stadtgemeinde, eines ganzen Volkes hat immer ein höchst beschränktes Gesichtsfeld; das Allermeiste nimmt er gar nicht wahr, und das Wenige, was er sieht, sieht er viel zu nahe und isolirt; er kann es nicht messen und nimmt deshalb alles als gleich wichtig und deshalb jedes Einzelne als zu wichtig. Dann giebt es für die Dinge der Vergangenheit keine Werthverschiedenheiten und Proportionen, die den Dingen unter einander wahrhaft gerecht würden; sondern immer nur Maasse und Proportionen der Dinge zu dem antiquarisch rückwärts blickenden Einzelnen oder Volke.

Hier ist immer eine Gefahr sehr in der Nähe: endlich wird einmal alles Alte und Vergangene, das überhaupt noch in den Gesichtskreis tritt, einfach als gleich ehrwürdig hingenommen, alles was aber diesem Alten nicht mit Ehrfurcht entgegen kommt, also das Neue und Werdende, abgelehnt und angefeindet. So duldeten selbst die Griechen den hieratischen Stil ihrer bildenden Künste neben dem freien und grossen, ja sie duldeten später die spitzen Nasen und das frostige Lächeln nicht nur, sondern machten selbst eine Feinschmeckerei daraus. Wenn sich der Sinn eines Volkes derartig verhärtet, wenn die Historie dem vergangnen Leben so dient, dass sie das Weiterleben und gerade das höhere Leben untergräbt, wenn der historische Sinn das Leben nicht mehr conservirt, sondern mumisirt: so stirbt der Baum, unnatürlicher Weise, von oben allmählich nach der Wurzel zu ab—und zuletzt geht gemeinhin die Wurzel selbst zu Grunde. Die antiquarische Historie entartet selbst in dem Augenblicke, in dem das frische Leben der Gegenwart sie nicht mehr beseelt und begeistert. Jetzt dorrt die Pietät ab, die gelehrtenhafte Gewöhnung besteht ohne sie fort und dreht sich egoistisch—selbstgefällig um ihren eignen Mittelpunkt. Dann erblickt man wohl das widrige Schauspiel einer blinden Sammelwuth, eines rastlosen Zusammenscharrens alles einmal Dagewesenen. Der Mensch hüllt sich in Moderduft; es gelingt ihm selbst eine bedeutendere Anlage, ein edleres Bedürfniss durch die antiquarische Manier zu unersättlicher Neubegier, richtiger Alt- und Allbegier herabzustimmen; oftmals sinkt er so tief, dass er zuletzt mit jeder Kost zufrieden ist und mit Lust selbst den Staub bibliographischer Quisquilien frisst.

Aber selbst, wenn jene Entartung nicht eintritt, wenn die antiquarische Historie das Fundament, auf dem sie allein zum Heile des Lebens wurzeln kann, nicht verliert: immer bleiben doch genug Gefahren übrig, falls sie nämlich allzu mächtig wird und die andern Arten, die Vergangenheit zu betrachten, überwuchert. Sie versteht eben allein Leben zu bewahren, nicht zu zeugen; deshalb unterschätzt sie immer das Werdende, weil sie für dasselbe keinen errathenden Instinct hat—wie ihn zum Beispiel die monumentalische Historie hat. So hindert jene den kräftigen Entschluss zum Neuen, so lähmt sie den Handelnden, der immer, als Handelnder, etwelche Pietäten verletzen wird und muss. Die Thatsache, dass etwas alt geworden ist, gebiert jetzt die Forderung, dass es unsterblich sein müsse; denn wenn Einer nachrechnet, was Alles ein solches Alterthum—eine alte Sitte der Väter, ein religiöser Glaube, ein ererbtes politisches Vorrecht—während der Dauer seiner Existenz erfahren hat, welche Summe der Pietät und Verehrung seitens des Einzelnen und der Generationen: so erscheint es vermessen oder selbst ruchlos, ein solches Alterthum durch ein Neuthum zu ersetzen und einer solchen Zahlen-Anhäufung von Pietäten und Verehrungen die Einer des Werdenden und Gegenwärtigen entgegenzustellen.

Hier wird es deutlich, wie nothwendig der Mensch, neben der monumentalischen und antiquarischen Art, die Vergangenheit zu betrachten, oft genug eine dritte Art nöthig hat, die kritische: und zwar auch diese wiederum im Dienste des Lebens. Er muss die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, dass er sie vor Gericht zieht, peinlich inquirirt, und endlich verurtheilt; jede Vergangenheit aber ist werth verurtheilt zu werden—denn so steht es nun einmal mit den menschlichen Dingen: immer ist in ihnen menschliche Gewalt und Schwäche mächtig gewesen. Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch weniger die Gnade, die hier das Urtheil verkündet: sondern das Leben allein, jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht. Sein Spruch ist immer ungnädig, immer ungerecht, weil er nie aus einem reinen Borne der Erkenntniss geflossen ist; aber in den meisten Fällen würde der Spruch ebenso ausfallen, wenn ihn die Gerechtigkeit selber spräche. "Denn Alles was entsteht, ist werth, dass es zu Grunde geht. Drum besser wär's, dass nichts entstünde." Es gehört sehr viel Kraft dazu, leben zu können und zu vergessen, in wie fern leben und ungerecht sein Eins ist. Luther selbst hat einmal gemeint, dass die Welt nur durch eine Vergesslichkeit Gottes entstanden sei; wenn Gott nämlich an das "schwere Geschütz" gedacht hätte, er würde die Welt nicht geschaffen haben. Mitunter aber verlangt eben dasselbe Leben, das die Vergessenheit braucht, die zeitweilige Vernichtung dieser Vergessenheit; dann soll es eben gerade klar werden, wie ungerecht die Existenz irgend eines Dinges, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient. Dann wird seine Vergangenheit kritisch betrachtet, dann greift man mit dem Messer an seine Wurzeln, dann schreitet man grausam über alle Pietäten hinweg. Es ist immer ein gefährlicher, nämlich für das Leben selbst gefährlicher Prozess: und Menschen oder Zeiten, die auf diese Weise dem Leben dienen, dass sie eine Vergangenheit richten und vernichten, sind immer gefährliche und gefährdete Menschen und Zeiten. Denn da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich sich ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Verirrungen verurtheilen und uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Thatsache nicht beseitigt, dass wir aus ihnen herstammen. Wir bringen es im besten Falle zu einem Widerstreite der ererbten, angestammten Natur und unserer Erkenntniss, auch wohl zu einem Kampfe einer neuen strengen Zucht gegen das von Alters her Angezogne und Angeborne, wir pflanzen eine neue Gewöhnung, einen neuen Instinct, eine zweite Natur an, so dass die erste Natur abdorrt. Es ist ein Versuch, sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt—immer ein gefährlicher Versuch, weil es so schwer ist eine Grenze im Verneinen des Vergangenen zu finden, und weil die zweiten Naturen meistens schwächlicher als die ersten sind. Es bleibt zu häufig bei einem Erkennen des Guten, ohne es zu thun, weil man auch das Bessere kennt, ohne es thun zu können. Aber hier und da gelingt der Sieg doch, und es giebt sogar für die Kämpfenden, für die, welche sich der kritischen Historie zum Leben bedienen, einen merkwürdigen Trost: nämlich zu wissen, dass auch jene erste Natur irgend wann einmal eine zweite Natur war und dass jede siegende zweite Natur zu einer ersten wird. —

4

Dies sind die Dienste, welche die Historie dem Leben zu leisten vermag; jeder Mensch und jedes Volk braucht je nach seinen Zielen, Kräften und Nöthen eine gewisse Kenntniss der Vergangenheit, bald als monumentalische, bald als antiquarische, bald als kritische Historie: aber nicht wie eine Schaar von reinen, dem Leben nur zusehenden Denkern, nicht wie wissensgierige, durch Wissen allein zu befriedigende Einzelne, denen Vermehrung der Erkenntniss das Ziel selbst ist, sondern immer nur zum Zweck des Lebens und also auch unter der Herrschaft und obersten Führung dieses Zweckes. Dass dies die natürliche Beziehung einer Zeit, einer Cultur, eines Volkes zur Historie ist—hervorgerufen durch Hunger, regulirt durch den Grad des Bedürfnisses, in Schranken gehalten durch die innewohnende plastische Kraft—dass die Kenntniss der Vergangenheit zu allen Zeiten nur im Dienste der Zukunft und Gegenwart begehrt ist, nicht zur Schwächung der Gegenwart, nicht zur Entwurzelung einer lebenskräftigen Zukunft: das Alles ist einfach, wie die Wahrheit einfach ist, und überzeugt sofort auch den, der dafür nicht erst den historischen Beweis sich führen lässt.

Und nun schnell einen Blick auf unsere Zeit! Wir erschrecken, wir fliehen zurück: wohin ist alle Klarheit, alle Natürlichkeit und Reinheit jener Beziehung von Leben und Historie, wie verwirrt, wie übertrieben, wie unruhig fluthet jetzt dies Problem vor unseren Augen! Liegt die Schuld an uns, den Betrachtenden? Oder hat sich wirklich die Constellation von Leben und Historie verändert, dadurch, dass ein mächtig feindseliges Gestirn zwischen sie getreten ist? Mögen Andere zeigen, dass wir falsch gesehen haben: wir wollen sagen, was wir zu sehen meinen. Es ist allerdings ein solches Gestirn, ein leuchtendes und herrliches Gestirn dazwischen getreten, die Constellation ist wirklich verändert—durch die Wissenschaft, durch die Forderung, dass die Historie Wissenschaft sein soll. Jetzt regiert nicht mehr allein das Leben und bändigt das Wissen um die Vergangenheit: sondern alle Grenzpfähle sind umgerissen und alles was einmal war, stürzt auf den Menschen zu. So weit zurück es ein Werden gab, soweit zurück, ins Unendliche hinein sind auch alle Perspektiven verschoben. Ein solches unüberschaubares Schauspiel sah noch kein Geschlecht, wie es jetzt die Wissenschaft des universalen Werdens, die Historie, zeigt: freilich aber zeigt sie es mit der gefährlichen Kühnheit ihres Wahlspruches: fiat veritas pereat vita.

Machen wir uns jetzt ein Bild von dem geistigen Vorgange, der hierdurch in der Seele des modernen Menschen herbeigeführt wird. Das historische Wissen strömt aus unversieglichen Quellen immer von Neuem hinzu und hinein, das Fremde und Zusammenhangslose drängt sich, das Gedächtniss öffnet alle seine Thore und ist doch nicht weit genug geöffnet, die Natur bemüht sich auf's Höchste, diese fremden Gäste zu empfangen, zu ordnen und zu ehren, diese selbst aber sind im Kampfe mit einander, und es scheint nöthig, sie alle zu bezwingen und zu bewältigen, um nicht selbst an ihrem Kampfe zu Grunde zu gehen. Die Gewöhnung an ein solches unordentliches, stürmisches und kämpfendes Hauswesen wird allmählich zu einer zweiten Natur, ob es gleich ausser Frage steht, dass diese zweite Natur viel schwächer, viel ruheloser und durch und durch ungesünder ist, als die erste. Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heisst. Durch dieses Rumpeln verräth sich die eigenste Eigenschaft dieses modernen Menschen: der merkwürdige Gegensatz eines Inneren, dem kein Aeusseres, eines Aeusseren, dem kein Inneres entspricht, ein Gegensatz, den die alten Völker nicht kennen. Das Wissen, das im Uebermaasse ohne Hunger, ja wider das Bedürfniss aufgenommen wird, wirkt jetzt nicht mehr als umgestaltendes, nach aussen treibendes Motiv und bleibt in einer gewissen chaotischen Innenwelt verborgen, die jener moderne Mensch mit seltsamem Stolze als die ihm eigenthümliche "Innerlichkeit" bezeichnet. Man sagt dann wohl, dass man den Inhalt habe und dass es nur an der Form fehle; aber bei allem Lebendigen ist dies ein ganz ungehöriger Gegensatz. Unsere moderne Bildung ist eben deshalb nichts Lebendiges, weil sie ohne jenen Gegensatz sich gar nicht begreifen lässt, das heisst: sie ist gar keine wirkliche Bildung, sondern nur eine Art Wissen um die Bildung, es bleibt in ihr bei dem Bildungs-Gedanken, bei dem Bildungs-Gefühl, es wird kein Bildungs-Entschluss daraus. Das dagegen, was wirklich Motiv ist und was als That sichtbar nach aussen tritt, bedeutet dann oft nicht viel mehr als eine gleichgültige Convention, eine klägliche Nachahmung oder selbst eine rohe Fratze. Im Inneren ruht dann wohl die Empfindung jener Schlange gleich, die ganze Kaninchen verschluckt hat und sich dann still gefasst in die Sonne legt und alle Bewegungen ausser den nothwendigsten vermeidet. Der innere Prozess, das ist jetzt die Sache selbst, das ist die eigentliche "Bildung." Jeder, der vorübergeht, hat nur den einen Wunsch, dass eine solche Bildung nicht an Unverdaulichkeit zu Grunde gehe. Denke man sich zum Beispiel einen Griechen an einer solchen Bildung vorübergehend, er würde wahrnehmen, dass für die neueren Menschen "gebildet" und "historisch gebildet" so zusammenzugehören scheinen, als ob sie eins und nur durch die Zahl der Worte verschieden wären. Spräche er nun seinen Satz aus: es kann Einer sehr gebildet und doch historisch gar nicht gebildet sein, so würde man glauben, gar nicht recht gehört zu haben und den Kopf schütteln. Jenes bekannte Völkchen einer nicht zu fernen Vergangenheit, ich meine eben die Griechen, hatte sich in der Periode seiner grössten Kraft einen unhistorischen Sinn zäh bewahrt; müsste ein zeitgemässer Mensch in jene Welt durch Verzauberung zurückkehren, er würde vermuthlich die Griechen sehr "ungebildet" befinden, womit dann freilich das so peinlich verhüllte Geheimniss der modernen Bildung zu öffentlichem Gelächter aufgedeckt wäre: denn aus uns haben wir Modernen gar nichts; nur dadurch, dass wir uns mit fremden Zeiten, Sitten, Künsten, Philosophien, Religionen, Erkenntnissen anfüllen und überfüllen, werden wir zu etwas Beachtungswerthem, nämlich zu wandelnden Encyclopädien, als welche uns vielleicht ein in unsere Zeit verschlagener Alt-Hellene ansprechen würde. Bei Encyclopädien findet man aber allen Werth nur in dem, was darin steht, im Inhalte, nicht in dem, was darauf steht oder was Einband und Schaale ist; und so ist die ganze moderne Bildung wesentlich innerlich: auswendig hat der Buchbinder so etwas darauf gedruckt wie: Handbuch innerlicher Bildung für äusserliche Barbaren. Ja dieser Gegensatz von innen und aussen macht das Aeusserliche noch barbarischer als es sein müsste, wenn ein rohes Volk nur aus sich heraus nach seinen derben Bedürfnissen wüchse. Denn welches Mittel bleibt noch der Natur übrig, um das überreichlich sich Aufdrängende zu bewältigen? Nur das eine Mittel, es so leicht wie möglich anzunehmen, um es schnell wieder zu beseitigen und auszustossen. Daraus entsteht eine Gewöhnung, die wirklichen Dinge nicht mehr ernst zu nehmen, daraus entsteht die "schwache Persönlichkeit," zufolge deren das Wirkliche, das Bestehende nur einen geringen Eindruck macht; man wird im Aeusserlichen zuletzt immer lässlicher und bequemer und erweitert die bedenkliche Kluft zwischen Inhalt und Form bis zur Gefühllosigkeit für die Barbarei, wenn nur das Gedächtniss immer von Neuem gereizt wird, wenn nur immer neue wissenswürdige Dinge hinzuströmen, die säuberlich in den Kästen jenes Gedächtnisses aufgestellt werden können. Die Cultur eines Volkes als der Gegensatz jener Barbarei ist einmal, wie ich meine, mit einigem Rechte, als Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes bezeichnet worden; diese Bezeichnung darf nicht dahin missverstanden werden, als ob es sich um den Gegensatz von Barbarei und schönem Stile handele; das Volk, dem man eine Cultur zuspricht, soll nur in aller Wirklichkeit etwas lebendig Eines sein und nicht so elend in Inneres und Aeusseres, in Inhalt und Form auseinanderfallen. Wer die Cultur eines Volkes erstreben und fördern will, der erstrebe und fördere diese höhere Einheit und arbeite mit an der Vernichtung der modernen Gebildetheit zu Gunsten einer wahren Bildung, er wage es, darüber nachzudenken, wie die durch Historie gestörte Gesundheit eines Volkes wiederhergestellt werden, wie es seine Instincte und damit seine Ehrlichkeit wiederfinden könne.

Ich will nur geradezu von uns Deutschen der Gegenwart reden, die wir mehr als ein anderes Volk an jener Schwäche der Persönlichkeit und an dem Widerspruche von Inhalt und Form zu leiden haben. Die Form gilt uns Deutschen gemeinhin als eine Convention, als Verkleidung und Verstellung und wird deshalb, wenn nicht gehasst, so doch jedenfalls nicht geliebt; noch richtiger würde es sein zu sagen, dass wir eine ausserordentliche Angst vor dem Worte Convention und auch wohl vor der Sache Convention haben. In dieser Angst verliess der Deutsche die Schule der Franzosen: denn er wollte natürlicher und dadurch deutscher werden. Nun scheint er sich aber in diesem "Dadurch" verrechnet zu haben: aus der Schule der Convention entlaufen, liess er sich nun gehen, wie und wohin er eben Lust hatte und machte im Grunde schlottericht und beliebig in halber Vergesslichkeit nach, was er früher peinlich und oft mit Glück nachmachte. So lebt man, gegen frühere Zeiten gerechnet, auch heute noch in einer bummelig incorrecten französischen Convention: wie all unser Gehen, Stehen, Unterhalten, Kleiden und Wohnen anzeigt. Indem man zum Natürlichen zurückzufliehen glaubte, erwählte man nur das Sichgehenlassen, die Bequemlichkeit und das möglichst kleine Maass von Selbstüberwindung. Man durchwandere eine deutsche Stadt—alle Convention, verglichen mit der nationalen Eigenart ausländischer Städte, zeigt sich im Negativen, alles ist farblos, abgebraucht, schlecht copirt, nachlässig, jeder treibt es nach seinem Belieben, aber nicht nach einem kräftigen, gedankenreichen Belieben, sondern nach den Gesetzen, die einmal die allgemeine Hast und sodann die allgemeine Bequemlichkeits-Sucht vorschreiben. Ein Kleidungsstück, dessen Erfindung kein Kopfzerbrechen macht, dessen Anlegung keine Zeit kostet, also ein aus der Fremde entlehntes und möglichst lässlich nachgemachtes Kleidungsstück gilt bei den Deutschen sofort als ein Beitrag zur deutschen Tracht. Der Formensinn wird von ihnen geradezu ironisch abgelehnt—denn man hat ja den Sinn des Inhaltes: sind sie doch das berühmte Volk der Innerlichkeit.

Nun giebt es aber auch eine berühmte Gefahr dieser Innerlichkeit: der Inhalt selbst, von dem es angenommen ist, dass er aussen gar nicht gesehen werden kann, möchte sich gelegentlich einmal verflüchtigen; aussen würde man aber weder davon noch von dem früheren Vorhandensein etwas merken. Aber denke man sich immerhin das deutsche Volk möglichst weit von dieser Gefahr entfernt: etwas Recht wird der Ausländer immer behalten, wenn er uns vorwirft, dass unser Inneres zu schwach und ungeordnet ist, um nach aussen zu wirken und sich eine Form zu geben. Dabei kann es sich in seltenem Grade zart empfänglich, ernst, mächtig, innig, gut erweisen und vielleicht selbst reicher als das Innere anderer Völker sein: aber als Ganzes bleibt es schwach, weil alle die schönen Fasern nicht in einen kräftigen Knoten geschlungen sind: so dass die sichtbare That nicht die Gesammtthat und Selbstoffenbarung dieses Inneren ist, sondern nur ein schwächlicher oder roher Versuch irgend einer Faser, zum Schein einmal für das Ganze gelten zu wollen. Deshalb ist der Deutsche nach einer Handlung gar nicht zu beurtheilen und als Individuum auch nach dieser That noch völlig verborgen. Man muss ihn bekanntlich nach seinen Gedanken und Gefühlen messen, und die spricht er jetzt in seinen Büchern aus. Wenn nur nicht gerade diese Bdarüber ücher neuerdings mehr als je einen Zweifel erweckten, ob die berühmte Innerlichkeit wirklich noch in ihrem unzugänglichen Tempelchen sitze: es wäre ein schrecklicher Gedanke, dass sie eines Tages verschwunden sei und nun nur noch die Aeusserlichkeit, jene hochmüthig täppische und demüthig bummelige Aeusserlichkeit als Kennzeichen des Deutschen zurückbliebe. Fast eben so schrecklich als wenn jene Innerlichkeit, ohne dass man es sehen könnte, gefälscht, gefärbt, übermalt darin sässe und zur Schauspielerin, wenn nicht zu Schlimmerem geworden wäre: wie dies zum Beispiel der bei Seite stehende und still betrachtende Grillparzer, von seiner dramatisch—theatralischen Erfahrung aus anzunehmen scheint. "Wir empfinden mit Abstraction," sagt er, "wir wissen kaum mehr, wie sich die Empfindung bei unseren Zeitgenossen äussert; wir lassen sie Sprünge machen, wie sie sie heutzutage nicht mehr macht. Shakespeare hat uns Neuere alle verdorben."

Dies ist ein einzelner, vielleicht zu schnell ins Allgemeine gedeuteter Fall: aber wie furchtbar wäre seine berechtigte Verallgemeinerung, wenn die einzelnen Fälle sich gar zu häufig dem Beobachter aufdrängen sollten, wie verzweifelt klänge der Satz: wir Deutschen empfinden mit Abstraction; wir sind Alle durch die Historie verdorben—ein Satz, der jede Hoffnung auf eine noch kommende nationale Cultur an ihren Wurzeln zerstören würde: denn jede derartige Hoffnung wächst aus dem Glauben an die Aechtheit und Unmittelbarkeit der deutschen Empfindung heraus, aus dem Glauben an die unversehrte Innerlichkeit; was soll noch gehofft, noch geglaubt werden, wenn der Quell des Glaubens und Hoffens getrübt ist, wenn die Innerlichkeit gelernt hat, Sprünge zu machen, zu tanzen, sich zu schminken, mit Abstraction und Berechnung sich zu äussern und sich selbst allgemach zu verlieren! Und wie soll der grosse productive Geist es unter einem Volke noch aushalten, das seiner einheitlichen Innerlichkeit nicht mehr sicher ist und das in Gebildete mit verbildeter und verführter Innerlichkeit und in Ungebildete mit unzugänglicher Innerlichkeit auseinanderfällt. Wie soll er es aushalten, wenn die Einheit der Volksempfindung verloren ging, wenn er überdies gerade bei dem einen Theile, der sich den gebildeten Theil des Volkes nennt und ein Recht auf die nationalen Kunstgeister für sich in Anspruch nimmt, die Empfindung gefälscht und gefärbt weiss. Mag hier und da das Urtheil und der Geschmack der Einzelnen selbst feiner und sublimirter geworden sein—das entschädigt ihn nicht: es peinigt ihn, gleichsam nur zu einer Secte reden zu müssen und innerhalb seines Volkes nicht mehr nothwendig zu sein. Vielleicht vergräbt er seinen Schatz jetzt lieber, weil er Ekel empfindet, von einer Secte anspruchsvoll patronisirt zu werden, während sein Herz voll von Mitleid mit Allen ist. Der Instinct des Volkes kommt ihm nicht mehr entgegen; es ist unnütz, ihm die Arme sehnsuchtsvoll entgegenzubreiten. Was bleibt ihm jetzt noch übrig als seinen begeisterten Hass gegen jenen hemmenden Bann, gegen die in der sogenannten Bildung seines Volkes aufgerichteten Schranken zu kehren, um als Richter wenigstens das zu verurtheilen, was für ihn den Lebenden und Lebenzeugenden Vernichtung und Entwürdigung ist: so tauscht er die tiefe Einsicht seines Schicksals gegen die göttliche Lust des Schaffenden und Helfenden ein und endet als einsamer Wissender, als übersatter Weiser. Es ist das schmerzlichste Schauspiel: wer es überhaupt sieht, wird hier eine heilige Nöthigung erkennen: er sagt sich, hier muss geholfen werden, jene höhere Einheit in der Natur und Seele eines Volkes muss sich wieder herstellen, jener Riss zwischen dem Innen und dem Aussen muss unter den Hammerschlägen der Noth wieder verschwinden. Nach welchen Mitteln soll er nun greifen? Was bleibt ihm nun wiederum als seine tiefe Erkenntniss: diese aussprechend, verbreitend, mit vollen Händen ausstreuend, hofft er ein Bedürfniss zu pflanzen: und aus dem starken Bedürfniss wird einmal die starke That entstehen. Und damit ich keinen Zweifel lasse, woher ich das Beispiel jener Noth, jenes Bedürfnisses, jener Erkenntniss nehme: so soll hier ausdrücklich mein Zeugniss stehen, dass es die deutsche Einheit in jenem höchsten Sinne ist, die wir erstreben und heisser erstreben als die politische Wiedervereinigung, die Einheit des deutschen Geistes und Lebens nach der Vernichtung des Gegensatzes von Form und Inhalt, von Innerlichkeit und Convention. —

5

In fünffacher Hinsicht scheint mir die Uebersättigung einer Zeit in Historie dem Leben feindlich und gefährlich zu sein: durch ein solches Uebermaass wird jener bisher besprochene Contrast von innerlich und äusserlich erzeugt und dadurch die Persönlichkeit geschwächt; durch dieses Uebermaass geräth eine Zeit in die Einbildung, dass sie die seltenste Tugend, die Gerechtigkeit, in höherem Grade besitze als jede andere Zeit; durch dieses Uebermaass werden die Instincte des Volkes gestört und der Einzelne nicht minder als das Ganze am Reifwerden verhindert; durch dieses Uebermaass wird der jederzeit schädliche Glaube an das Alter der Menschheit, der Glaube, Spätling und Epigone zu sein, gepflanzt; durch dieses Uebermaass geräth eine Zeit in die gefährliche Stimmung der Ironie über sich selbst und aus ihr in die noch gefährlichere des Cynismus: in dieser aber reift sie immer mehr einer klugen egoistischen Praxis entgegen, durch welche die Lebenskräfte gelähmt und zuletzt zerstört werden.

Und nun zurück zu unserem ersten Satze: der moderne Mensch leidet an einer geschwächten Persönlichkeit. Wie der Römer der Kaiserzeit unrömisch wurde im Hinblick auf den ihm zu Diensten stehenden Erdkreis, wie er sich selbst unter dem einströmenden Fremden verlor und bei dem kosmopolitischen Götter-, Sitten- und Künste-Carnevale entartete, so muss es dem modernen Menschen ergehen, der sich fortwährend das Fest einer Weltausstellung durch seine historischen Künstler bereiten lässt; er ist zum geniessenden und herumwandelnden Zuschauer geworden und in einen Zustand versetzt, an dem selbst grosse Kriege, grosse Revolutionen kaum einen Augenblick lang etwas zu ändern vermögen. Noch ist der Krieg nicht beendet, und schon ist er in bedrucktes Papier hunderttausendfach umgesetzt, schon wird er als neuestes Reizmittel dem ermüdeten Gaumen der nach Historie Gierigen vorgesetzt. Es scheint fast unmöglich, dass ein starker und voller Ton selbst durch das mächtigste Hineingreifen in die Saiten erzeugt werde: sofort verhallt er wieder, im nächsten Augenblicke bereits klingt er historisch zart verflüchtigt und kraftlos ab. Moralisch ausgedrückt: es gelingt euch nicht mehr das Erhabene festzuhalten, eure Thaten sind plötzliche Schläge, keine rollenden Donner. Vollbringt das Grösste und Wunderbarste: es muss trotzdem sang- und klanglos zum Orkus ziehn. Denn die Kunst flieht, wenn ihr eure Thaten sofort mit dem historischen Zeltdach überspannt. Wer dort im Augenblick verstehen, berechnen, begreifen will, wo er in langer Erschütterung das Unverständliche als das Erhabene festhalten sollte, mag verständig genannt werden, doch nur in dem Sinne, in dem Schiller von dem Verstand der Verständigen redet: er sieht Einiges nicht, was doch das Kind sieht, er hört Einiges nicht, was doch das Kind hört; dieses Einige ist gerade das Wichtigste: weil er dies nicht versteht, ist sein Verstehen kindischer als das Kind und einfältiger als die Einfalt—trotz der vielen schlauen Fältchen seiner pergamentnen Züge und der virtuosen Uebung seiner Finger, das Verwickelte aufzuwickeln. Das macht: er hat seinen Instinct vernichtet und verloren, er kann nun nicht mehr, dem "göttlichen Thiere" vertrauend, die Zügel hängen lassen, wenn sein Verstand schwankt und sein Weg durch Wüsten führt. So wird das Individuum zaghaft und unsicher und darf sich nicht mehr glauben: es versinkt in sich selbst, ins Innerliche, das heisst hier nur: in den zusammengehäuften Wust des Erlernten, das nicht nach aussen wirkt, der Belehrung, die nicht Leben wird. Sieht man einmal auf's Aeusserliche, so bemerkt man, wie die Austreibung der Instincte durch Historie die Menschen fast zu lauter abstractis und Schatten umgeschaffen hat: keiner wagt mehr seine Person daran, sondern maskirt sich als gebildeter Mann, als Gelehrter, als Dichter, als Politiker. Greift man solche Masken an, weil man glaubt, es sei ihnen Ernst, und nicht bloss um ein Possenspiel zu thun,—da sie allesammt den Ernst affichiren—so hat man plötzlich nur Lumpen und bunte Flicken in den Händen. Deshalb soll man sich nicht mehr täuschen lassen, deshalb soll man sie anherrschen: "zieht eure Jacken aus oder seid, was ihr scheint." Es soll nicht mehr jeder Ernsthafte von Geblüt zu einem Don Quixote werden, da er Besseres zu thun hat, als sich mit solchen vermeintlichen Realitäten herumzuschlagen. Jedenfalls aber muss er scharf hinsehen, bei jeder Maske sein Halt Werda! rufen und ihr die Larve in den Nacken ziehen. Sonderbar! Man sollte denken, dass die Geschichte die Menschen vor Allem ermuthigte ehrlich zu sein—und wäre es selbst ein ehrlicher Narr zu sein; und immer ist dies ihre Wirkung gewesen, nur jetzt nicht mehr! Die historische Bildung und der bürgerliche Universal-Rock herrschen zu gleicher Zeit. Während noch nie so volltönend von der "freien Persönlichkeit" geredet worden ist, sieht man nicht einmal Persönlichkeiten, geschweige denn freie, sondern lauter ängstlich verhüllte Universal-Menschen. Das Individuum hat sich ins Innerliche zurückgezogen: aussen merkt man nichts mehr davon; wobei man zweifeln darf, ob es überhaupt Ursachen ohne Wirkungen geben könne. Oder sollte als Wächter des grossen geschichtlichen Welt-Harem ein Geschlecht von Eunuchen nöthig sein? Denen steht freilich die reine Objectivität schön zu Gesichte. Scheint es doch fast, als wäre es die Aufgabe, die Geschichte zu bewachen, dass nichts aus ihr heraus komme als eben Geschichten, aber ja kein Geschehen!, zu verhüten, dass durch sie die Persönlichkeiten "frei" werden, soll heissen wahrhaftig gegen sich, wahrhaftig gegen Andere, und zwar in Wort und That. Erst durch diese Wahrhaftigkeit wird die Noth, das innere Elend des modernen Menschen an den Tag kommen, und an die Stelle jener ängstlich versteckenden Convention und Maskerade können dann, als wahre Helferinnen, Kunst und Religion treten, um gemeinsam eine Cultur anzupflanzen, die wahren Bedürfnissen entspricht und die nicht, wie die jetzige allgemeine Bildung, nur lehrt, sich über diese Bedürfnisse zu belügen und dadurch zur wandelnden Lüge zu werden.

In welche unnatürlichen, künstlichen und jedenfalls unwürdigen Lagen muss in einer Zeit, die an der allgemeinen Bildung leidet, die wahrhaftigste aller Wissenschaften, die ehrliche nackte Göttin Philosophie gerathen! Sie bleibt in einer solchen Welt der erzwungenen äusserlichen Uniformität gelehrter Monolog des einsamen Spaziergängers, zufällige Jagdbeute des Einzelnen, verborgenes Stubengeheimniss oder ungefährliches Geschwätz zwischen akademischen Greisen und Kindern. Niemand darf es wagen, das Gesetz der Philosophie an sich zu erfüllen, Niemand lebt philosophisch, mit jener einfachen Mannestreue, die einen Alten zwang, wo er auch war, was er auch trieb, sich als Stoiker zu gebärden, falls er der Stoa einmal Treue zugesagt hatte. Alles moderne Philosophiren ist politisch und polizeilich, durch Regierungen, Kirchen, Akademien, Sitten und Feigheiten der Menschen auf den gelehrten Anschein beschränkt: es bleibt beim Seufzen "wenn doch" oder bei der Erkenntniss "es war einmal." Die Philosophie ist innerhalb der historischen Bildung ohne Recht, falls sie mehr sein will als ein innerlich zurückgehaltenes Wissen ohne Wirken; wäre der moderne Mensch überhaupt nur muthig und entschlossen, wäre er nicht selbst in seinen Feindschaften nur ein innerliches Wesen: er würde sie verbannen; so begnügt er sich, ihre Nudität schamhaft zu verkleiden. Ja, man denkt, schreibt, druckt, spricht, lehrt philosophisch,—so weit ist ungefähr Alles erlaubt, nur im Handeln, im sogenannten Leben ist es anders: da ist immer nur Eines erlaubt und alles Andere einfach unmöglich: so will's die historische Bildung. Sind das noch Menschen, fragt man sich dann, oder vielleicht nur Denk-, Schreib- und Redemaschinen?

Goethe sagt einmal von Shakespeare: "Niemand hat das materielle Kostüme mehr verachtet als er; er kennt recht gut das innere Menschen-Kostüme, und hier gleichen sich Alle. Man sagt, er habe die Römer vortrefflich dargestellt; ich finde es nicht; es sind lauter eingefleischte Engländer, aber freilich Menschen sind es, Menschen von Grund aus, und denen passt wohl auch die römische Toga." Nun frage ich, ob es auch nur möglich wäre unsere jetzigen Litteraten, Volksmänner, Beamte, Politiker als Römer vorzuführen; es will durchaus nicht angehen, weil sie keine Menschen sind, sondern nur eingefleischte Compendien und gleichsam concrete Abstracta. Wenn sie Charakter und eigne Art haben sollten, so steckt dies Alles so tief, dass es gar nicht sich an's Tageslicht herauswinden kann: wenn sie Menschen sein sollten, so sind sie es doch nur für den, "der die Nieren prüft." Für jeden Anderen sind sie etwas Anderes, nicht Menschen, nicht Götter, nicht Thiere, sondern historische Bildungsgebilde, ganz und gar Bildung, Bild, Form ohne nachweisbaren Inhalt, leider nur schlechte Form, und überdies Uniform. Und so möge mein Satz verstanden und erwogen werden: die Geschichte wird nur von starken Persönlichkeiten ertragen, die schwachen löscht sie vollends aus. Das liegt darin, dass sie das Gefühl und die Empfindung verwirrt, wo diese nicht kräftig genug sind, die Vergangenheit an sich zu messen. Dem, der sich nicht mehr zu trauen wagt, sondern unwillkürlich für sein Empfinden bei der Geschichte um Rath fragt "wie soll ich hier empfinden?," der wird allmählich aus Furchtsamkeit zum Schauspieler und spielt eine Rolle, meistens sogar viele Rollen und deshalb jede so schlecht und flach. Allmählich fehlt alle Congruenz zwischen dem Mann und seinem historischen Bereiche; kleine vorlaute Burschen sehen wir mit den Römern umgehen als wären diese ihresgleichen: und in den Ueberresten griechischer Dichter wühlen und graben sie, als ob auch diese corpora für ihre Section bereit lägen und vilia wären, was ihre eignen litterarischen corpora sein mögen. Nehmen wir an, es beschäftige sich Einer mit Demokrit, so liegt mir immer die Frage auf den Lippen: warum nicht Heraklit? Oder Philo? Oder Bacon? Oder Descartes und so beliebig weiter. Und dann: warum denn just ein Philosoph? Warum nicht ein Dichter, ein Redner? Und: warum überhaupt ein Grieche, warum nicht ein Engländer, ein Türke? Ist denn nicht die Vergangenheit gross genug, um etwas zu finden, wobei ihr selbst euch nicht so lächerlich beliebig ausnehmt? Aber wie gesagt, es ist ein Geschlecht von Eunuchen; dem Eunuchen ist ein Weib wie das andere, eben nur Weib, das Weib an sich, das ewig Unnahbare—und so ist es gleichgültig was ihr treibt, wenn nur die Geschichte selbst schön "objectiv" bewahrt bleibt, nämlich von solchen, die nie selber Geschichte machen können. Und da euch das Ewig-Weibliche nie hinanziehen wird, so zieht ihr es zu euch herab und nehmt, als Neutra, auch die Geschichte als ein Neutrum. Damit man aber nicht glaube, dass ich im Ernste die Geschichte mit dem Ewig-Weiblichen vergleiche, so will ich vielmehr klärlich aussprechen, dass ich sie im Gegentheil für das Ewig-Männliche halte: nur dass es für die, welche durch und durch "historisch gebildet" sind, ziemlich gleichgültig sein muss, ob sie das Eine oder das Andere ist: sind sie doch selbst weder Mann noch Weib, nicht einmal Communia, sondern immer nur Neutra oder, gebildeter ausgedrückt, eben nur die Ewig-Objectiven.

Sind die Persönlichkeiten erst in der geschilderten Weise zu ewiger Subjectlosigkeit, oder wie man sagt, Objectivität ausgeblasen: so vermag nichts mehr auf sie zu wirken; es mag was Gutes und Rechtes geschehen, als That, als Dichtung, als Musik: sofort sieht der ausgehöhlte Bildungsmensch über das Werk hinweg und fragt nach der Historie des Autors. Hat dieser schon Mehreres geschaffen, sofort muss er sich den bisherigen und den muthmaasslichen weiteren Gang seiner Entwickelung deuten lassen, sofort wird er neben Andere zur Vergleichung gestellt, auf die Wahl seines Stoffes, auf seine Behandlung hin secirt, auseinandergerissen, weislich neu zusammengefügt und im Ganzen vermahnt und zurechtgewiesen. Es mag das Erstaunlichste geschehen, immer ist die Schaar der historisch Neutralen auf dem Platze, bereit den Autor schon aus weiter Ferne zu überschauen. Augenblicklich erschallt das Echo: aber immer als "Kritik," während kurz vorher der Kritiker von der Möglichkeit des Geschehenden sich nichts träumen liess. Nirgends kommt es zu einer Wirkung, sondern immer nur wieder zu einer "Kritik"; und die Kritik selbst macht wieder keine Wirkung, sondern erfährt nur wieder Kritik. Dabei ist man übereingekommen, viel Kritiken als Wirkung, wenige als Misserfolg zu betrachten. Im Grunde aber bleibt, selbst bei sothaner "Wirkung," alles beim Alten: man schwätzt zwar eine Zeit lang etwas Neues, dann aber wieder etwas Neues und thut inzwischen das, was man immer gethan hat. Die historische Bildung unserer Kritiker erlaubt gar nicht mehr, dass es zu einer Wirkung im eigentlichen Verstande, nämlich zu einer Wirkung auf Leben und Handeln komme: auf die schwärzeste Schrift drücken sie sogleich ihr Löschpapier, auf die anmuthigste Zeichnung schmieren sie ihre dicken Pinselstriche, die als Correcturen angesehn werden sollen: da war's wieder einmal vorbei. Nie aber hört ihre kritische Feder auf zu fliessen, denn sie haben die Macht über sie verloren und werden mehr von ihr geführt anstatt sie zu führen. Gerade in dieser Maasslosigkeit ihrer kritischen Ergüsse, in dem Mangel der Herrschaft über sich selbst, in dem was die Römer impotentia nennen, verräth sich die Schwäche der modernen Persönlichkeit.

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Doch lassen wir diese Schwäche. Wenden wir uns vielmehr zu einer vielgerühmten Stärke des modernen Menschen mit der allerdings peinlichen Frage, ob er ein Recht dazu hat, sich seiner bekannten historischen "Objectivität" wegen stark, nämlich gerecht und in höherem Grade gerecht zu nennen als der Mensch anderer Zeiten. Ist es wahr, dass jene Objectivität in einem gesteigerten Bedürfniss und Verlangen nach Gerechtigkeit ihren Ursprung hat? Oder erweckt sie als Wirkung ganz anderer Ursachen eben nur den Anschein, als ob die Gerechtigkeit die eigentliche Ursache dieser Wirkung sei? Verführt sie vielleicht zu einem schädlichen, weil allzu schmeichlerischen Vorurtheil über die Tugenden des modernen Menschen?—Sokrates hielt es für ein Leiden, das dem Wahnsinne nahe komme, sich den Besitz einer Tugend einzubilden und sie nicht zu besitzen: und gewiss ist eine solche Einbildung gefährlicher, als der entgegengesetzte Wahn, an einem Fehler, an einem Laster zu leiden. Denn durch diesen Wahn ist es vielleicht noch möglich, besser zu werden; jene Einbildung aber macht den Menschen oder eine Zeit täglich schlechter, also—in diesem Falle, ungerechter.

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