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Dass die Probleme, an denen Strauss vorüberläuft, ernst und schrecklich sind und als solche von den Weisen aller Jahrtausende behandelt wurden, weiss Strauss selbst, und trotzdem nennt er sein Buch leicht geschürzt. Von allen diesen Schrecken, von dem finsteren Ernste des Nachdenkens, in den man sonst bei den Fragen über den Werth des Daseins und die Pflichten des Menschen von selbst verfällt, ahnt man nichts mehr, wenn der genialische Magister an uns vorübergaukelt, "leicht geschürzt und mit Absicht," ja leichter geschürzt als sein Rousseau, von dem er uns zu erzählen weiss, dass er sich von unten entblösste und nach oben zu drapirte, während Goethe sich unten drapirt und oben entblösst haben soll. Ganz naive Genies, scheint es, drapiren sich gar nicht, und vielleicht ist das Wort "leicht geschürzt" überhaupt nur ein Euphemismus für nackt. Von der Göttin Wahrheit behaupten ja die Wenigen, die sie gesehen haben, dass sie nackt gewesen sei: und vielleicht ist im Auge solcher, die sie nicht gesehen haben, aber jenen Wenigen glauben, Nacktheit oder Leicht-Geschürztheit schon ein Beweis, mindestens ein Indicium der Wahrheit. Schon der Verdacht ist hier von Vortheil für den Ehrgeiz des Autors: Jemand sieht etwas Nacktes: wie, wenn es die Wahrheit wäre! sagt er sich und nimmt eine feierlichere Miene an, als ihm sonst gewöhnlich ist. Damit hat aber der Autor schon viel gewonnen, wenn er seine Leser zwingt, ihn feierlicher anzusehen, als einen beliebigen fester geschürzten Autor. Es ist der Weg dazu, einmal ein "Klassiker" zu werden: und Strauss erzählt uns selbst, "dass man ihm die ungesuchte Ehre erwiesen habe, ihn als eine Art von klassischem Prosaschreiber anzusehen," dass er also am Ziele seines Weges angekommen sei. Das Genie Strauss läuft in der Kleidung leicht geschürzter Göttinnen als "Klassiker" auf den Strassen herum, und der Philister Strauss soll durchaus, um uns einer Originalwendung dieses Genies zu bedienen, "in Abgang dekretirt" oder "auf Nimmerwiederkehr hinausgeworfen werden."

Ach, der Philister kehrt aber trotz aller Abgangs-Dekrete und alles Hinauswerfens doch wieder und oft wieder! Ach das Gesicht, in Voltaire'sche und Lessingische Falten gezwängt, schnellt doch von Zeit zu Zeit in seine alten ehrlichen, originalen Formen zurück! Ach die Genielarve fällt zu oft herab, und nie war der Blick des Magisters verdrossener, nie waren seine Bewegungen steifer, als wenn er eben den Sprung des Genies nachzuspringen und mit dem Feuerblick des Genies zu blicken versucht hatte. Gerade dadurch, dass er sich in unserer kalten Zone so leicht schürzt, setzt er sich der Gefahr aus, sich öfter und schwerer zu erkälten, als ein Anderer; dass dies Alles dann auch die Anderen merken, mag recht peinlich sein, aber es muss ihm, wenn er je Heilung finden will, auch öffentlich folgende Diagnose gestellt werden. Es gab einen Strauss, einen wackeren, strengen und straffgeschürzten Gelehrten, der uns eben so sympathisch war, wie jeder, der in Deutschland mit Ernst und Nachdruck der Wahrheit dient und innerhalb seiner Grenzen zu herrschen versteht; der, welcher jetzt in der öffentlichen Meinung als David Strauss berühmt ist, ist ein Anderer geworden: die Theologen mögen es verschuldet haben, dass er dieser Andere geworden ist; genug, sein jetziges Spiel mit der Genie-Maske ist uns eben so verhasst oder lächerlich, als uns sein früherer Ernst zum Ernste und zur Sympathie zwang. Wenn er uns neuerdings erklärt: "es wäre auch Undank gegen meinen Genius, wollte ich mich nicht freuen, dass mir neben der Gabe der schonungslos zersetzenden Kritik zugleich die harmlose Freude am künstlerischen Gestalten verliehen ward," so mag es ihn überraschen, dass es trotz diesem Selbstzeugniss Menschen giebt, welche das Umgekehrte behaupten; einmal, dass er die Gabe künstlerischen Gestaltens nie gehabt habe, und sodann, dass die von ihm "harmlos" genannte Freude nichts weniger als harmlos sei, sofern sie eine im Grunde kräftig und tief angelegte Gelehrten- und Kritiker-Natur, das heisst den eigentlichen Straussischen Genius allmählich untergraben und zuletzt zerstört hat. In einer Anwandlung von unbegrenzter Ehrlichkeit fügt zwar Strauss selbst hinzu, er habe immer "den Merck in sich getragen, der ihm zurief: solchen Quark musst du nicht mehr machen, das können die Anderen auch"! Das war die Stimme des ächten Straussischen Genius: diese selbst sagt ihm auch, wie viel oder wie wenig sein neuestes, harmlos leicht geschürztes Testament des modernen Philisters werth sei. Das können die Anderen auch! Und viele könnten es besser! Und die es am besten könnten, begabtere und reichere Geister als Strauss, würden immer nur—Quark gemacht haben.

Ich glaube, dass man wohl verstanden hat, wie sehr ich den Schriftsteller Strauss schätze: nämlich wie einen Schauspieler, der das naive Genie und den Klassiker spielt. Wenn Lichtenberg einmal sagt: "Die simple Schreibart ist schon deshalb zu empfehlen, weil kein rechtschaffener Mann an seinen Ausdrücken künstelt und klügelt," so ist deshalb die simple Manier doch noch lange nicht ein Beweis für schriftstellerische Rechtschaffenheit. Ich wünschte, der Schriftsteller Strauss wäre ehrlicher, dann würde er besser schreiben und weniger berühmt sein. Oder—wenn er durchaus Schauspieler sein will—so wünschte ich, er wäre ein guter Schauspieler und machte es dem naiven Genie und dem Klassiker besser nach, wie man klassisch und genial schreibt. Es bleibt nämlich übrig zu sagen, dass Strauss ein schlechter Schauspieler und sogar ein ganz nichtswürdiger Stilist ist.

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Der Tadel, ein sehr schlechter Schriftsteller zu sein, schwächt sich freilich dadurch ab, dass es in Deutschland sehr schwer ist, ein mässiger und leidlicher, und ganz erstaunlich unwahrscheinlich, ein guter Schriftsteller zu werden. Es fehlt hier an einem natürlichen Boden, an der künstlerischen Werthschätzung, Behandlung und Ausbildung der mündlichen Rede. Da diese es in allen öffentlichen Aeusserungen, wie schon die Worte Salon-Unterhaltung, Predigt, Parlaments-Rede ausdrücken, noch nicht zu einem nationalen Stile, ja noch nicht einmal zum Bedürfniss eines Stils überhaupt gebracht hat, und alles, was spricht, in Deutschland aus dem naivsten Experimentiren mit der Sprache nicht herausgekommen ist, so hat der Schriftsteller keine einheitliche Norm und hat ein gewisses Recht, es auf eigene Faust einmal mit der Sprache aufzunehmen: was dann, in seinen Folgen, jene grenzenlose Dilapidation der deutschen Sprache der "Jetztzeit" hervorbringen muss, die am nachdrücklichsten Schopenhauer geschildert hat. "Wenn dies so fortgeht," sagt er einmal, "so wird man anno 1900 die deutschen Klassiker nicht mehr recht verstehen, indem man keine andere Sprache mehr kennen wird, als den Lumpen-Jargon der noblen "Jetztzeit"—deren Grundcharakter Impotenz ist." Wirklich lassen sich bereits jetzt deutsche Sprachrichter und Grammatiker in den allerneuesten Zeitschriften dahin vernehmen, dass für unseren Stil unsere Klassiker nicht mehr mustergültig sein könnten, weil sie eine grosse Menge von Worten, Wendungen und syntaktischen Fügungen haben, die uns abhanden gekommen sind: wesshalb es sich geziemen möchte, die sprachlichen Kunststücke im Wort- und Satzgebrauch bei den gegenwärtigen Schrift-Berühmtheiten zu sammeln und zur Nachahmung hinzustellen, wie dies zum Beispiel auch wirklich in dem kurz gefassten Hand- und Schand-Wörterbuch von Sanders geschehen ist. Hier erscheint das widrige Stil-Monstrum Gutzkow als Klassiker: und überhaupt müssen wir uns, wie es scheint, an eine ganz neue und überraschende Schaar von "Klassikern" gewöhnen, unter denen der erste oder mindestens einer der ersten, David Strauss ist, derselbe, welchen wir nicht anders bezeichnen können, als wir ihn bezeichnet haben: nämlich als einen nichtswürdigen Stilisten.

Es ist nun höchst bezeichnend für jene Pseudo-Kultur des Bildungs-Philisters, wie er sich gar noch den Begriff des Klassikers und Musterschriftstellers gewinnt—er, der nur im Abwehren eines eigentlich künstlerisch strengen Kulturstils seine Kraft zeigt und durch die Beharrlichkeit im Abwehren zu einer Gleichartigkeit der Aeusserungen kommt, die fast wieder wie eine Einheit des Stiles aussieht. Wie ist es nur möglich, dass bei dem unbeschränkten Experimentiren, das man mit der Sprache Jedermann gestattet, doch einzelne Autoren einen allgemein ansprechenden Ton finden? Was spricht hier eigentlich so allgemein an? Vor allem eine negative Eigenschaft: der Mangel alles Anstössigen,—anstössig aber ist alles wahrhaft Produktive.— Das Uebergewicht nämlich bei dem, was der Deutsche jetzt jeden Tag liest, liegt ohne Zweifel auf Seiten der Zeitungen nebst dazu gehörigen Zeitschriften: deren Deutsch prägt sich, in dem unaufhörlichen Tropfenfall gleicher Wendungen und gleicher Wörter, seinem Ohre ein, und da er meistens Stunden zu dieser Leserei benutzt, in denen sein ermüdeter Geist ohnehin zum Widerstehen nicht aufgelegt ist, so wird allmählich sein Sprachgehör in diesem Alltags-Deutsch heimisch und vermisst seine Abwesenheit nöthigenfalls mit Schmerz. Die Fabrikanten jener Zeitungen sind aber, ihrer ganzen Beschäftigung gemäss, am allerstärksten an den Schleim dieser Zeitungs-Sprache gewöhnt: sie haben im eigentlichsten Sinne allen Geschmack verloren, und ihre Zunge empfindet höchstens das ganz und gar Corrupte und Willkürliche mit einer Art von Vergnügen. Daraus erklärt sich das tutti unisono, mit welchem, trotz jener allgemeinen Erschlaffung und Erkrankung, in jeden neu erfundenen Sprachschnitzer sofort eingestimmt wird: man rächt sich mit solchen frechen Corruptionen an der Sprache wegen der unglaublichen Langeweile, die sie allmählich ihren Lohnarbeitern verursacht. Ich erinnere mich, einen Aufruf von Berthold Auerbach "an das deutsche Volk" gelesen zu haben, in dem jede Wendung undeutsch verschroben und erlogen war, und der als Ganzes einem seelenlosen Wörtermosaik mit internationaler Syntax glich; um von dem schamlosen Sudeldeutsch zu schweigen, mit dem Eduard Devrient das Andenken Mendelssohn's feierte. Der Sprachfehler also—das ist das Merkwürdige—gilt unserem Philister nicht als anstössig, sondern als reizvolle Erquickung in der gras- und baumlosen Wüste des Alltags-Deutsches. Aber anstössig bleibt ihm das wahrhaft Produktive. Dem allermodernsten Muster-Schriftsteller wird seine gänzlich verdrehte, verstiegene oder zerfaserte Syntax, sein lächerlicher Neologismus nicht etwa nachgesehen, sondern als Verdienst, als Pikanterie angerechnet: aber wehe dem charaktervollen Stilisten, welcher der Alltags-Wendung eben so ernst und beharrlich aus dem Wege geht als den "in letzter Nacht ausgeheckten Monstra der Jetztzeit-Schreiberei," wie Schopenhauer sagt. Wenn das Platte, Ausgenutzte, Kraftlose, Gemeine als Regel, das Schlechte und Corrupte als reizvolle Ausnahme hingenommen wird, dann ist das Kräftige, Ungemeine und Schöne in Verruf: so dass sich in Deutschland fortwährend die Geschichte jenes wohlgebildeten Reisenden wiederholt, der in's Land der Bucklichten kommt, dort überall wegen seiner angeblichen Ungestalt und seines Defektes an Rundung auf das schmählichste verhöhnt wird, bis endlich ein Priester sich seiner annimmt und dem Volke also zuredet: beklagt doch lieber den armen Fremden und bringt dankbaren Sinnes den Göttern ein Opfer, dass sie euch mit diesem stattlichen Fleischberg geschmückt haben.

Wenn jetzt Jemand eine positive Sprachlehre des heutigen deutschen Allerweltstils machen wollte und den Regeln nachspürte, die, als ungeschriebene, ungesprochene und doch befolgte Imperative, auf dem Schreibepulte Jedermanns ihre Herrschaft ausüben, so würde er wunderliche Vorstellungen über Stil und Rhetorik antreffen, die vielleicht noch aus einigen Schul-Reminiscenzen und der einstmaligen Nöthigung zu lateinischen Stilübungen, vielleicht aus der Lektüre französischer Schriftsteller, entnommen sind, und über deren unglaubliche Rohheit jeder regelmässig erzogene Franzose zu spotten ein Recht hat. Ueber diese wunderlichen Vorstellungen, unter deren Regiment so ziemlich jeder Deutsche lebt und schreibt, hat, wie es scheint, noch keiner der gründlichen Deutschen nachgedacht.

Da finden wir die Forderung, dass von Zeit zu Zeit ein Bild oder ein Gleichniss kommen, dass das Gleichniss aber neu sein müsse: neu und modern ist aber für das dürftige Schreiber-Gehirn identisch, und nun quält es sich, von der Eisenbahn, dem Telegraphen, der Dampfmaschine, der Börse seine Gleichnisse abzuziehen und fühlt sich stolz darin, dass diese Bilder neu sein müssen, weil sie modern sind. In dem Bekenntnissbuche Straussens finden wir auch den Tribut an das moderne Gleichniss ehrlich ausgezahlt: er entlässt uns mit dem anderthalb Seiten langen Bilde einer modernen Strassen-Correceion, er vergleicht die Welt ein paar Seiten früher mit der Maschine, ihren Rädern, Stampfen, Hämmern und ihrem "lindernden Oel." (S. 362): Eine Mahlzeit, die mit Champagner beginnt.—(S. 325) Kant als Kaltwasseranstalt.—(S. 265): "Die schweizerische Bundesverfassung verhält sich zur englischen wie eine Bachmühle zu einer Dampfmaschine, wie ein Walzer oder ein Lied zu einer Fuge oder Symphonie."—(S. 258): "Bei jeder Appellation muss der Instanzenzug eingehalten werden. Die mittlere Instanz zwischen dem Einzelnen und der Menschheit aber ist die Nation."—(S. 141): "Wenn wir zu erfahren wünschen, ob in einem Organismus, der uns erstorben scheint, noch Leben sei, pflegen wir es durch einen starken, wohl auch schmerzlichen Reiz, etwa einen Stich, zu versuchen."—(S. 138): "Das religiöse Gebiet in der menschlichen Seele gleicht dem Gebiet der Rothhäute in Amerika."—(S. 137): "Virtuosen der Frömmigkeit in den Klöstern."—(S. 90): "Das Facit aus allem Bisherigen mit vollen Ziffern unter die Rechnung setzen."—(S. 176): "Die Darwinische Theorie gleicht einer nur erst abgesteckten Eisenbahn— — — wo die Fähnlein lustig im Winde flattern." Auf diese Weise, nämlich hoch modern, hat sich Strauss mit der Philister—Forderung abgefunden, dass von Zeit zu Zeit ein neues Gleichniss auftreten müsse.

Sehr verbreitet ist auch eine zweite rhetorische Forderung, dass das Didaktische sich in langen Sätzen, dazu in weiten Abstractionen ausbreiten müsse, dass dagegen das Ueberredende kurze Sätzchen und hintereinander herhüpfende Kontraste des Ausdrucks liebe. Ein Mustersatz für das Didaktische und Gelehrtenhafte, zu voller Schleiermacherischer Zerblasenheit auseinander gezogen und in wahrer Schildkröten-Behendigkeit daherschleichend, steht bei Strauss S. 132: "Dass auf den früheren Stufen der Religion statt Eines solchen Woher mehrere, statt Eines Gottes eine Vielheit von Göttern erscheint, kommt nach dieser Ableitung der Religion daher, dass die verschiedenen Naturkräfte oder Lebensbeziehungen, welche im Menschen das Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit erregen, Anfangs noch in ihrer ganzen Verschiedenartigkeit auf ihn wirken, er sich noch nicht bewusst geworden ist, wie in Betreff der schlechthinigen Abhängigkeit zwischen denselben kein Unterschied, mithin auch das Woher dieser Abhängigkeit oder das Wesen, worauf sie in letzter Beziehung zurückgeht, nur Eines sein kann." Ein entgegengesetztes Beispiel für die kurzen Sätzchen und die affectirte Lebendigkeit, welche einige Leser so aufgeregt hat, dass sie Strauss nur noch mit Lessing zusammen nennen, findet sich Seite 8: "Was ich im Folgenden auszuführen gedenke, davon bin ich mir wohl bewusst, dass es Unzählige eben so gut, Manche sogar viel besser wissen. Einige haben auch bereits gesprochen. Soll ich darum schweigen? Ich glaube nicht. Wir ergänzen uns ja alle gegenseitig. Weiss ein Anderer Vieles besser, so ich doch vielleicht Einiges; und Manches weiss ich anders, sehe ich anders an als die Uebrigen. Also frischweg gesprochen, heraus mit der Farbe, damit man erkenne, ob sie eine ächte sei." Zwischen diesem burschikosen Geschwindmarsch und jener Leichenträger-Saumseligkeit hält allerdings für gewöhnlich der Straussische Stil die Mitte, aber zwischen zwei Lastern wohnt nicht immer die Tugend, sondern zu oft nur die Schwäche, die lahme Ohnmacht, die Impotenz. In der That, ich bin sehr enttäuscht worden, als ich das Straussische Buch nach feineren und geistvolleren Zügen und Wendungen durchsuchte und mir eigens eine Rubrik gemacht hatte, um wenigstens an dem Schriftsteller Strauss hier und da etwas loben zu können, da ich an dem Bekenner nichts Lobenswerthes fand. Ich suchte und suchte, und meine Rubrik blieb leer. Dagegen füllte sich eine andere, mit der Aufschrift: Sprachfehler, verwirrte Bilder, unklare Verkürzungen, Geschmacklosigkeiten und Geschraubtheiten, derart, dass ich es nachher nur wagen kann, eine bescheidene Auswahl aus meiner übergrossen Sammlung von Probestücken mitzutheilen. Vielleicht gelingt es mir, unter dieser Rubrik gerade das zusammenzustellen, was bei den gegenwärtigen Deutschen den Glauben an den grossen und reizvoller Stilisten Strauss hervorbringt: es sind Curiositäten des Ausdrucks die in der austrocknenden Oede und Verstaubtheit des gesammten Buches, wenn nicht angenehm, so doch schmerzlich reizvoll über raschen: wir merken, um uns Straussischer Gleichnisse zu bedienen, an solchen Stellen doch wenigstens, dass wir noch nicht abgestorben sind, und reagiren noch auf solche Stiche. Denn alles Uebrige zeigt jenen Mangel alles Anstössigen, soll heissen alles Productiven, der jetzt dem klassischen Prosaschreiber als positive Eigenschaft angerechnet wird. Die äusserste Nüchternheit und Trockenheit, eine wahrhaft angehungerte Nüchternheit erweckt, jetzt bei der gebildeten Masse die unnatürliche Empfindung, als ob eben diese das Zeichen der Gesundheit wäre, so dass hier gerade gilt, was der Autor des dialogus de oratoribus [Tacitus.] sagt: "illam ipsam quam iactant sanitatem non firmitate sed ieiunio consequuntur." Darum hassen sie mit instinktiver Einmüthigkeit alle firmitas, weil sie von einer ganz anderen Gesundheit Zeugniss ablegt, als die ihrige ist, und suchen die firmitas, die straffe Gedrungenheit, die feurige Kraft der Bewegungen, die Fülle und Zartheit des Muskelspiels zu verdächtigen. Sie haben sich verabredet, Natur und Namen der Dinge umzukehren und fürderhin von Gesundheit zu sprechen, wo wir Schwäche sehen, von Krankheit und Ueberspanntheit, wo uns wirkliche Gesundheit entgegentritt. So gilt denn nun auch David Strauss als "Klassiker."

Wäre nur diese Nüchternheit wenigstens eine streng logische Nüchternheit: aber gerade Einfachheit und Straffheit im Denken ist diesen "Schwachen" abhanden gekommen, und unter ihren Händen ist die Sprache selbst unlogisch zerfasert. Man versuche nur, diesen Straussen-Stil in's Lateinische zu übersetzen: was doch selbst bei Kant angeht und bei Schopenhauer bequem und reizvoll ist. Die Ursache, dass es mit dem Straussischen Deutsch durchaus nicht gehen will, liegt wahrscheinlich nicht daran, dass dies Deutsch deutscher ist als bei jenen, sondern dass es bei ihm verworren und unlogisch, bei jenen voll Einfachheit und Grösse ist. Wer dagegen weiss, wie die Alten sich mühten, um sprechen und schreiben zu lernen, und wie die Neueren sich nicht mühen, der fühlt, wie dies Schopenhauer einmal gesagt hat, eine wahre Erleichterung, wenn er so ein deutsches Buch nothgedrungen abgethan hat, um sich nun wieder zu den anderen alten wie neuen Sprachen wenden zu können; "denn bei diesen," sagt er, "habe ich doch eine regelrecht fixirte Sprache mit durchweg festgestellter und treulich beobachteter Grammatik und Orthographie vor mir und bin ganz dem Gedanken hingegeben, während ich im Deutschen jeden Augenblick gestört werde durch die Naseweisheit des Schreibers, der seine grammatischen und orthographischen Grillen und knolligen Einfälle durchsetzen will: wobei die sich frech spreizende Narrheit mich anwidert. Es ist wahrlich eine rechte Pein, eine schöne, alte, klassische Schriften besitzende Sprache von Ignoranten und Eseln misshandeln zu sehen."

Das ruft euch der heilige Zorn Schopenhauers zu, und ihr dürft nicht sagen, dass ihr ungewarnt geblieben wärt. Wer aber durchaus auf keine Warnung hören und sich den Glauben an den Klassiker Strauss schlechterdings nicht verkümmern lassen will, dem sei als letztes Recept anempfohlen, ihn nachzuahmen. Versucht es immerhin auf eigene Gefahr: ihr werdet es zu büssen haben mit eurem Stile sowohl als zuletzt selbst mit eurem eigenen Kopfe, auf dass das Wort indischer Weisheit auch an euch in Erfüllung gehe: "An einem Kuhhorn zu nagen, ist unnütz und verkürzt das Leben: man reibt die Zähne ab und erhält doch keinen Saft." —

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Zum Schluss wollen wir doch unserem klassischen Prosaschreiber die versprochene Sammlung von Stilproben vorlegen; vielleicht würde sie Schopenhauer ganz allgemein betiteln: "Neue Belege für den Lumpen-Jargon der Jetztzeit"; denn das mag David Strauss zum Troste gesagt werden, wenn es ihm ein Trost sein kann, dass jetzt alle Welt so schreibt wie er, zum Theil noch miserabler, und dass unter den Blinden jeder Einäugige König ist. Wahrlich, wir gestehen ihm viel zu, wenn wir ihm Ein Auge zugestehen, dies aber thun wir, weil Strauss nicht so schreibt, wie die verruchtesten aller Deutsch-Verderber, die Hegelianer, und ihr verkrüppelter Nachwuchs. Strauss will wenigstens aus diesem Sumpfe wieder heraus und ist zum Theil wieder heraus, doch noch lange nicht auf festem Lande; man merkt es ihm noch an, dass er einmal in seiner Jugend Hegelisch gestottert hat: damals hat sich etwas in ihm ausgerenkt, irgend ein Muskel hat sich gedehnt; damals ist sein Ohr, wie das Ohr eines unter Trommeln aufgewachsenen Knaben, abgestumpft worden, um nie wieder jene künstlerisch zarten und kräftigen Gesetze des Klanges nachzufühlen, unter deren Herrschaft der an guten Mustern und in strenger Zucht herangebildete Schriftsteller lebt. Damit hat er als Stilist sein bestes Hab und Gut verloren und ist verurtheilt, Zeitlebens auf dem unfruchtbaren und gefährlichen Triebsande des Zeitungsstiles sitzen zu bleiben—wenn er nicht in den Hegelschen Schlamm wieder hinunter will. Trotzdem hat er es für ein Paar Stunden der Gegenwart zur Berühmtheit gebracht, und vielleicht weiss man noch ein Paar spätere Stunden, dass er eine Berühmtheit war; dann aber kommt die Nacht und mit ihr die Vergessenheit: und schon mit diesem Augenblicke, in dem wir seine stilistischen Sünden in's schwarze Buch schreiben, beginnt die Dämmerung seines Ruhmes. Denn wer sich an der deutschen Sprache versündigt hat, der hat das Mysterium aller unserer Deutschheit entweiht: sie allein hat durch alle die Mischung und den Wechsel von Nationalitäten und Sitten hindurch sich selbst und damit den deutschen Geist wie durch einen metaphysischen Zauber gerettet. Sie allein verbürgt auch diesen Geist für die Zukunft, falls sie nicht selbst unter den ruchlosen Händen der Gegenwart zu Grunde geht. "Aber Di meliora! Fort Pachydermata, fort! Dies ist die deutsche Sprache, in der Menschen sich ausgedrückt, ja, in der grosse Dichter gesungen und grosse Denker geschrieben haben. Zurück mit den Tatzen!" —

Nehmen wir zum Beispiel gleich einen Satz der ersten Seite des Straussischen Buches: "Schon in dem Machtzuwachse— — — hat der römische Katholicismus eine Aufforderung erkannt, seine ganze geistliche und weltliche Macht in der Hand des für unfehlbar erklärten Papstes diktatorisch zusammenzufassen." Unter diesem schlotterichten Gewande sind verschiedene Sätze, die durchaus nicht zusammenpassen und nicht zu gleicher Zeit möglich sind, versteckt; Jemand kann irgendwie eine Aufforderung erkennen, seine Macht zusammenzufassen oder sie in die Hände eines Diktators zu legen, aber er kann sie nicht in der Hand eines Anderen diktatorisch zusammenfassen. Wird dem Katholicismus gesagt, dass er seine Macht diktatorisch zusammenfasst, so ist er selbst mit einem Diktator verglichen: offenbar soll aber hier der unfehlbare Papst mit dem Diktator verglichen werden, und nur durch unklares Denken und Mangel an Sprachgefühl kommt das Adverbium an die unrechte Stelle. Um aber das Ungereimte der anderen Wendung nachzufühlen, so empfehle ich, dieselbe in folgender Simplification sich vorzusagen: der Herr fasst die Zügel in der Hand seines Kutschers zusammen.—(S. 4): "Dem Gegensatze zwischen dem alten Consistorialregiment und den auf eine Synodalverfassung gerichteten Bestrebungen liegt hinter dem hierarchischen Zuge auf der einen, dem demokratischen auf der anderen Seite, doch eine dogmatisch-religiöse Differenz zu Grunde." Man kann sich nicht ungeschickter ausdrücken: erstens bekommen wir einen Gegensatz zwischen einem Regiment und gewissen Bestrebungen, diesem Gegensatz liegt sodann eine dogmatisch-religiöse Differenz zu Grunde, und diese zu Grunde liegende Differenz befindet sich hinter einem hierarchischen Zuge auf der einen und einem demokratischen auf der anderen Seite. Räthsel: welches Ding liegt hinter zwei Dingen einem dritten Dinge zu Grunde?—(S. 18): "und die Tage, obwohl von dem Erzähler unmissverstehbar zwischen Abend und Morgen eingerahmt" u.s.w. Ich beschwöre Sie, das in's Lateinische zu übersetzen, um zu erkennen, welchen schamlosen Missbrauch Sie mit der Sprache treiben. Tage, die eingerahmt werden! Von einem Erzähler! Unmissverstehbar! Und eingerahme zwischen etwas!—(S. 19): "Von irrigen und widersprechenden Berichten, von falschen Meinungen und Urtheilen kann in der Bibel keine Rede sein." Höchst lüderlich ausgedrückt! Sie verwechseln "in der Bibel" und "bei der Bibel": das erstere hätte seine Stelle vor "kann" haben müssen, das zweite nach "kann." Ich meine, Sie haben sagen wollen: von irrigen und widersprechenden Berichten, von falschen Meinungen und Urtheilen in der Bibel kann keine Rede sein; warum nicht? Weil sie gerade die Bibel ist—also: "kann bei der Bibel nicht die Rede sein." Um nun nicht "in der Bibel" und "bei der Bibel" hintereinander folgen zu lassen, haben Sie sich entschlossen, Lumpen-Jargon zu schreiben und die Präpositionen zu verwechseln. Dasselbe Verbrechen begehen Sie auf S. 20: "Compilationen, in die ältere Stücke zusammengearbeitet sind." Sie meinen, "in die ältere Stücke hineingearbeitet oder in denen ältere Stücke zusammengearbeitet sind."— Auf derselben Seite reden Sie mit studentischer Wendung von einem "Lehrgedicht, das in die unangenehme Lage versetzt wird, zunächst vielfach missdeutet" (besser: missgedeutet), "dann angefeindet und bestritten zu werden," S. 24 sogar von Spitzfindigkeiten, durch die man ihre Härte zu mildern suchte"! Ich bin in der unangenehmen Lage, etwas Hartes, dessen Härte man durch etwas Spitzes mildert, nicht zu kennen; Strauss freilich erzählt (S. 367) sogar von einer "durch Zusammenrütteln gemilderten Schärfe."—(S. 35): "einem Voltaire dort stand hier ein Samuel Hermann Reimarus durchaus typisch für beide Nationen gegenüber." Ein Mann kann immer nur typisch für Eine Nation, aber nicht einem Anderen typisch für beide Nationen gegenüber stehen. Eine schändliche Gewaltthätigkeit, an der Sprache begangen, um einen Satz zu sparen oder zu eskrokiren.—(S. 46): "Nun stand es aber nur wenige Jahre an nach Schleiermachers Tode, dass— —." Solchem Sudler-Gesindel macht freilich die Stellung der Worte keine Umstände; dass hier die Worte: "nach Schleiermachers Tode" falsch stehen, nämlich nach "an," während sie vor "an" stehen sollten, ist Ihren Trommelschlag-Ohren gerade so gleichgültig, als nachher "dass" zu sagen, wo es "bis" heissen muss.—(S. 13): "auch von allen den verschiedenen Schattirungen, in denen das heutige Christenthum schillert, kann es sich bei uns nur etwa um die äusserste, abgeklärteste handeln, ob wir uns zu ihr noch zu bekennen vermögen." Die Frage, worum handelt es sich? kann einmal beantwortet werden: "um das und das," oder zweitens durch einen Satz mit: "ob wir uns" u.s.w.; beide Constructionen durcheinander zu werfen, zeigt den lüderlichen Gesellen. Er wollte vielmehr sagen: "kann es sich bei uns etwa nur bei der äussersten darum handeln, ob wir uns noch zu ihr bekennen": aber die Präpositionen der deutschen Sprache sind, wie es scheint, nur noch da, um jede gerade so anzuwenden, dass die Anwendung überrascht. S. 358 Z. B. verwechselt der "Klassiker," um uns diese Ueberraschung zu machen, die Wendungen: "ein Buch handelt von etwas" und: "es handelt sich um etwas," und nun müssen wir einen Satz anhören, wie diesen: "dabei wird es unbestimmt bleiben, ob es sich von äusserem oder innerem Heldenthum, von Kämpfen auf offenem Felde oder in den Tiefen der Menschenbrust handelt."—(S. 343): "für unsere nervös überreizte Zeit, die namentlich in ihren musikalischen Neigungen diese Krankheit zu Tage legt." Schmähliche Verwechselung von "zu Tage liegen" und "an den Tag legen." Solche Sprachverbesserer sollten doch ohne Unterschied der Person gezüchtigt werden wie die Schuljungen.—(S.70): "wir sehen hier einen der Gedankengänge, wodurch sich die Jünger zur Produktion der Vorstellung der Wiederbelebung ihres getödteten Meisters emporgearbeitet haben." Welches Bild! Eine wahre Essenkehrer-Phantasie! Man arbeitet sich durch einen Gang zu einer Produktion empor!— Wenn S. 72 dieser grosse Held in Worten, Strauss, die Geschichte von der Auferstehung Jesu als "welthistorischen Humbug" bezeichnet, so wollen wir hier, unter dem Gesichtspunkte des Grammatikers, ihn nur fragen, wen er eigentlich bezichtigt, diesen "welthistorischen Humbug," das heisst einen auf Betrug Anderer und auf persönlichen Gewinn abzielenden Schwindel auf dem Gewissen zu haben. Wer schwindelt, wer betrügt? Denn einen "Humbug" vermögen wir uns gar nicht ohne ein Subject vorzustellen, das seinen Vortheil dabei sucht. Da uns auf diese Frage Strauss gar keine Antwort geben kann,—falls er sich scheuen sollte, seinen Gott, das heisst den aus nobler Passion irrenden Gott als diesen Schwindler zu prostituiren—so bleiben wir zunächst dabei, den Ausdruck für ebenso ungereimt als geschmacklos zu halten.— Auf derselben Seite heisst es: "seine Lehren würden wie einzelne Blätter im Winde verweht und zerstreut worden sein, wären diese Blätter nicht von dem Wahnglauben an seine Auferstehung als von einem derben handfesten Einband zusammengefasst und dadurch erhalten worden." Wer von Blättern im Winde redet, führt die Phantasie des Lesers irre, sofern er nachher darunter Papierblätter versteht, die durch Buchbinderarbeit zusammengefasst werden können. Der sorgsame Schriftsteller wird nichts mehr scheuen, als bei einem Bilde den Leser zweifelhaft zu lassen oder irre zu führen: denn das Bild soll etwas deutlicher machen; wenn aber das Bild selbst undeutlich ausgedrückt ist und irre führt, so macht es die Sache dunkler, als sie ohne Bild war. Aber freilich sorgsam ist unser "Klassiker" nicht: er redet muthig von der "Hand unserer Quellen" (S. 76), von dem "Mangel jeder Handhabe in den Quellen" (S. 77) und von der "Hand eines Bedürfnisses" (S. 215).—(S. 73): "Der Glaube an seine Auferstehung kommt auf Rechnung Jesu selbst." Wer sich so gemein merkantilisch bei so wenig gemeinen Dingen auszudrücken liebt, giebt zu verstehen, dass er sein Lebelang recht schlechte Bücher gelesen hat. Von schlechter Lektüre zeugt der Straussische Stil überall. Vielleicht hat er zuviel die Schriften seiner theologischen Gegner gelesen. Woher aber lernt man es, den alten Juden- und Christengott mit so kleinbürgerlichen Bildern zu behelligen, wie sie Strauss zum Beispiel S. 105 zum Besten giebt, wo eben jenem "alten Juden—und Christengott der Stuhl unter dem Leibe weggezogen wird" oder S. 105, wo "an den alten persönlichen Gott gleichsam die Wohnungsnoth herantritt," oder S. 115, wo ebenderselbe in ein "Ausdingstübchen" versetzt wird, "worin er übrigens noch anständig untergebracht und beschäftigt werden soll."—(S. 111): "mit dem erhörlichen Gebet ist abermals ein wesentliches Attribut des persönlichen Gottes dahingefallen." Denkt doch erst, ihr Tintenklexer, ehe ihr klext! Ich sollte meinen, die Tinte müsste erröthen, wenn mit ihr etwas über ein Gebet, das ein "Attribut" sein soll, noch dazu ein "dahingefallenes Attribut," hingeschmiert wird.— Aber was steht auf S. 134! "Manches von den Wunschattributen, die der Mensch früherer Zeiten seinen Göttern beilegte—ich will nur das Vermögen schnellster Raumdurchmessung als Beispiel anführen—hat er jetzt, in Folge rationeller Naturbeherrschung, selbst an sich genommen." Wer wickelt uns diesen Knäuel auf! Gut, der Mensch früherer Zeiten legt den Göttern Attribute bei; "Wunschattribute" ist bereits recht bedenklich! Strauss meint ungefähr, der Mensch habe angenommen, dass die Götter alles das, was er zu haben wünscht, aber nicht hat, wirklich besitzen, und so hat ein Gott Attribute, die den Wünschen der Menschen entsprechen, also ungefähr "Wunschattribute." Aber nun nimmt, nach Straussens Belehrung, der Mensch manches von diesen "Wunschattributen" an sich—ein dunkler Vorgang, ebenso dunkel wie der auf S. 135 geschilderte: Wer wickelt uns diesen Knäuel auf! Gut, der Mensch früherer Zeiten legt den Göttern Attribute bei; "Wunschattribute" ist bereits recht bedenklich! Strauss meint ungefähr, der Mensch habe angenommen, dass die Götter alles das, was er zu haben wünscht, aber nicht hat, wirklich besitzen, und so hat ein Gott Attribute, die den Wünschen der Menschen entsprechen, also ungefähr "Wunschattribute." Aber nun nimmt, nach Straussens Belehrung, der Mensch manches von diesen "Wunschattributen" an sich—ein dunkler Vorgang, ebenso dunkel wie der auf S. 135 geschilderte: "der Wunsch muss hinzutreten, dieser Abhängigkeit auf dem kürzesten Wege eine für den Menschen vortheilhafte Wendung zu geben." Abhängigkeit—Wendung—kürzester Weg, ein Wunsch, der hinzutritt—wehe jedem, der einen solchen Vorgang wirklich sehen wollte! Es ist eine Scene aus dem Bilderbuch für Blinde. Man muss tasten.— Ein neues Beispiel (S. 222): "Die aufsteigende und mit ihrem Aufsteigen selbst über den einzelnen Niedergang übergreifende Richtung dieser Bewegung," ein noch stärkeres (S. 120): Die letzte Kantische Wendung sah sich, wie wir fanden, um ans Ziel zu kommen, genöthigt, ihren Weg eine Strecke weit über das Feld eines zukünftigen Lebens zu nehmen." Wer kein Maulthier ist, findet in diesen Nebeln keinen Weg. Wendungen, die sich genöthigt sehen! Ueber den Niedergang übergreifende Richtungen! Wendungen, die auf dem kürzesten Wege vortheilhaft sind, Wendungen, die ihren Weg eine Strecke weit über ein Feld nehmen! Ueber welches Feld? Ueber das Feld des zukünftigen Lebens! Zum Teufel alle Topographie: Lichter! Lichter! Wo ist der Faden der Ariadne in diesem Labyrinthe? Nein, so darf Niemand sich erlauben zu schreiben, und wenn es der berühmteste Prosaschreiber wäre, noch weniger aber ein Mensch, mit "vollkommen ausgewachsener religiöser und sittlicher Anlage" (S. 50). Ich meine, ein älterer Mann müsste doch wissen, dass die Sprache ein von den Vorfahren überkommenes und den Nachkommen zu hinterlassendes Erbstück ist, vor dem man Ehrfurcht haben soll als vor etwas Heiligem und Unschätzbarem und Unverletzlichem. Sind eure Ohren stumpf geworden, nun so fragt, schlagt Wörterbücher nach, gebraucht gute Grammatiken, aber wagt es nicht, so in den Tag hinein fortzusündigen! Strauss sagt zum Beispiel (S. 136): "ein Wahn, den sich und der Menschheit abzuthun, das Bestreben jedes zur Einsicht Gekommenen sein müsste." Diese Construction ist falsch, und wenn das ausgewachsene Ohr des Scriblers dies nicht merkt, so will ich es ihm in's Ohr schreien: man "thut entweder etwas von Jemandem ab" oder "man thut Jemanden einer Sache ab"; Strauss hätte also sagen müssen: "ein Wahn, dessen sich und die Menschheit abzuthun" oder "den von sich und der Menschheit abzuthun." Was er aber geschrieben hat, ist Lumpen-Jargon. Wie muss es uns nun vorkommen, wenn ein solches stilistisches Pachyderma gar noch in neu gebildeten oder umgeformten alten Worten sich umherwälzt, wenn es von dem "einebnenden Sinne der Socialdemokratie" (S. 279) redet, als ob es Sebastian Frank wäre, oder wenn es eine Wendung des Hans Sachs nachmacht (S. 259): "die Völker sind die gottgewollten, das heisst die naturgemässen Formen, in denen die Menschheit sich zum Dasein bringt, von denen kein Verständiger absehen, kein Braver sich abziehen darf."—(S.252): "Nach einem Gesetze besondert sich die menschliche Gattung in Racen;" (S. 282): "Widerstand zu befahren." Strauss merkt nicht, warum so ein alterthümliches Läppchen mitten in der modernen Fadenscheinigkeit seines Ausdrucks so auffällt. Jedermann nämlich merkt solchen Wendungen und solchen Läppchen an, dass sie gestohlen sind. Aber hier und da ist unser Flickschneider auch schöpferisch und macht sich ein neues Wort zurecht: S. 221 redet er von einem "sich entwickelnden aus—und emporringenden Leben": aber "ausringen" wird entweder von der Wäscherin gesagt oder vom Helden, der den Kampf vollendet hat und stirbt; "ausringen" im Sinne von "sich entwickeln" ist Straussendeutsch, ebenso wie (S. 223): "alle Stufen und Stadien der Ein—und Auswickelung" Wickelkinderdeutsch!—(S. 252): "in Anschliessung" für "im Anschluss."—(S. 137): "im täglichen Treiben des mittelalterlichen Christen kam das religiöse Element viel häufiger und ununterbrochener zur Ansprache." "Viel ununterbrochener," ein musterhafter Comparativ, wenn nämlich Strauss ein prosaischer Musterschreiber ist: freilich gebraucht er auch das unmögliche "vollkommener" (S. 223 und 214). Aber "zur Ansprache kommen"! Woher in aller Welt stammt dies, Sie verwegener Sprachkünstler? denn hier vermag ich mir gar nicht zu helfen, keine Analogie fällt mir ein, die Gebrüder Grimm bleiben, auf diese Art von "Ansprache" angesprochen, stumm wie das Grab. Sie meinen doch wohl nur dies: "das religiöse Element spricht sich häufiger aus," das heisst, Sie verwechseln wieder einmal aus haarsträubender Ignoranz die Präpositionen; aussprechen mit ansprechen zu verwechseln, trägt den Stempel der Gemeinheit an sich, wenn es Sie gleich nicht ansprechen sollte, dass ich das öffentlich ausspreche.—(S. 220): "weil ich hinter seiner subjectiven Bedeutung noch eine objective von unendlicher Tragweite anklingen hörte." Es steht, wie gesagt, schlecht oder seltsam mit Ihrem Gehör: Sie hören "Bedeutungen anklingen," und gar "hinter" anderen Bedeutungen anklingen, und solche gehörte Bedeutungen sollen "von unendlicher Tragweite" sein! Das ist entweder Unsinn oder ein fachmännisches Kanonier-Gleichniss.—(S. 183): "die äusseren Umrisse der Theorie sind hiermit bereits gegeben; auch von den Springfedern, welche die Bewegung innerhalb derselben bestimmen, bereits etliche eingesetzt." Das ist wiederum entweder Unsinn oder ein fachmännisches, uns unzugängliches Posamentirer-Gleichniss. Was wäre aber eine Matratze, die aus Umrissen und eingesetzten Springfedern bestände, werth? Und was sind das für Springfedern, welche die Bewegung innerhalb der Matratze bestimmen! Wir zweifeln an der Straussischen Theorie, wenn er sie uns in der Gestalt vorlegt, und würden von ihr sagen müssen, was Strauss selbst so schön sagt (S. 175): "es fehlen ihr zur rechten Lebensfähigkeit noch wesentliche Mittelglieder." Also heran mit den Mittelgliedern! Umrisse und Springfedern sind da, Haut und Muskeln sind präparirt; so lange man freilich nur diese hat, fehlt noch viel zur rechten Lebensfähigkeit oder, um uns "unvorgreiflicher" mit Strauss auszudrücken: "wenn man zwei so werthverschiedene Gebilde mit Nichtbeachtung der Zwischenstufen und Mittelzustände unmittelbar an einander stösst."—(S. 5): "Aber man kann ohne Stellung sein und doch nicht am Boden liegen." Wir verstehen Sie wohl, Sie leicht geschürzter Magister! Denn wer nicht steht und auch nicht liegt, der fliegt, schwebt vielleicht, gaukelt oder flattert. Lag es Ihnen aber daran, etwas Anderes als Ihre Flatterhaftigkeit auszudrücken, wie der Zusammenhang fast errathen lässt, so würde ich an Ihrer Stelle ein anderes Gleichniss gewählt haben; das drückt dann auch etwas Anderes aus.—(S. 5): "die notorisch dürr gewordenen Zweige des alten Baumes"; welcher notorisch dürr gewordene Stil!—(S. 6): "der könne auch einem unfehlbaren Papste, als von jenem Bedürfniss gefordert, seine Anerkennung nicht versagen." Man soll den Dativ um keinen Preis mit dem Accusativ verwechseln: das giebt sonst bei Knaben einen Schnitzer, bei prosaischen Musterschreibern ein Verbrechen.—(S. 8) finden wir "Neubildung einer neuen Organisirung der idealen Elemente im Völkerleben." Nehmen wir an, dass ein solcher tautologischer Unsinn sich wirklich einmal aus dem Tintenfass auf das Papier geschlichen hat, muss man ihn dann auch drucken lassen? Ist es erlaubt, so etwas bei der Correctur nicht zu sehen? Bei der Correctur von sechs Auflagen! Beiläufig zu S. 9: wenn man einmal Schiller'sche Worte citirt, dann etwas genauer und nicht nur so beinahe! Das gebietet der schuldige Respect. Also muss es heissen: "ohne Jemandes Abgunst zu fürchten."—(S. 16): "denn da wird sie alsbald zum Riegel, zur hemmenden Mauer, gegen die sich nun der ganze Andrang der fortschreitenden Vernunft, alle Mauerbrecher der Kritik, mit leidenschaftlichem Widerwillen richten." Hier sollen wir uns etwas denken, das erst zum Riegel, dann zur Mauer wird, wogegen endlich "sich Mauerbrecher mit leidenschaftlichem Widerwillen" oder gar ein "Andrang" mit leidenschaftlichem Widerwillen richtet. Herr, reden Sie doch wie ein Mensch aus dieser Welt! Mauerbrecher werden von Jemandem gerichtet und richten sich nicht selbst, und nur der, welcher sie richtet, nicht der Mauerbrecher selbst, kann leidenschaftlichen Widerwillen haben, obwohl selten einmal Jemand gerade gegen eine Mauer einen solchen Widerwillen haben wird, wie Sie uns vorreden.—(S. 266): "weswegen derlei Redensarten auch jederzeit den beliebten Tummelplatz demokratischer Plattheiten gebildet haben." Unklar gedacht! Redensarten können keinen Tummelplatz bilden! sondern sich nur selbst auf einem solchen tummeln. Strauss wollte vielleicht sagen: "weshalb derlei Gesichtspunkte auch jederzeit den beliebten Tummelplatz demokratischer Redensarten und Plattheiten gebildet haben."—(S. 320): "das Innere eines- zart- und reichbesaiteten Dichtergemüths, dem bei seiner weitausgreifenden Thätigkeit auf den Gebieten der Poesie und Naturforschung, der Geselligkeit und Staatsgeschäfte, die Rückkehr zu dem milden Herdfeuer einer edlen Liebe stetiges Bedürfniss blieb." Ich bemühe mich, ein Gemüth zu imaginiren, das harfenartig mit Saiten bezogen ist, und welches sodann eine "weitausgreifende Thätigkeit" hat, das heisst ein galoppirendes Gemüth, welches wie ein Rappe weitausgreift, und das endlich wieder zum stillen Herdfeuer zurückkehrt. Habe ich nicht Recht, wenn ich diese galoppirende und zum Herdfeuer zurückkehrende überhaupt auch mit Politik sich abgebende Gemüthsharfe recht originell finde, so wenig originell, so abgebraucht, ja so unerlaubt "das zartbesaitete Dichtergemüth" selbst ist? An solchen geistreichen Neubildungen des Gemeinen oder Absurden erkennt man den "klassischen Prosaschreiber."—(S. 74): "wenn wir die Augen aufthun, und den Erfund dieses Augenaufthuns uns ehrlich eingestehen wollten." In dieser prächtigen und feierlich nichtssagenden Wendung imponirt nichts mehr als die Zusammenstellung des "Erfundes" mit dem Worte "ehrlich": wer etwas findet und nicht herausgiebt, den "Erfund" nicht eingesteht, ist unehrlich. Strauss thut das Gegentheil und hält es für nöthig, dies öffentlich zu loben und zu bekennen. Aber wer hat ihn denn getadelt? fragte ein Spartaner.—(S. 43): "nur in einem Glaubensartikel zog er die Fäden kräftiger an, der allerdings auch der Mittelpunkt der christlichen Dogmatik ist." Es bleibt dunkel, was er eigentlich gemacht hat: wann zieht man denn Fäden an? Sollten diese Fäden vielleicht Zügel und der kräftiger Anziehende ein Kutscher gewesen sein? Nur mit dieser Correctur verstehe ich das Gleichniss.—(S. 226): "In den Pelzröcken liegt eine richtigere Ahnung." Unzweifelhaft! So weit war "der vom Uraffen abgezweigte Urmensch noch lange nicht" (p. 226), zu wissen, dass er es einmal bis zur Straussischen Theorie bringen werde. Aber jetzt wissen wir es "dahin wird und muss es gehen, wo die Fähnlein lustig im Winde flattern. Ja lustig und zwar im Sinne der reinsten, erhabensten Geistesfreude" (p. 176). Strauss ist so kindlich über seine Theorie vergnügt, dass sogar die "Fähnlein" lustig werden, sonderbarer Weise sogar lustig "im Sinne der reinsten und erhabensten Geistesfreude." Und nun wird es auch immer lustiger! Plötzlich sehen wir "drei Meister, davon jeder folgende sich auf des Vorgängers Schultern stellt" (S. 361), ein rechtes Kunstreiterstückchen, das uns Haydn, Mozart und Beethoven zum Besten geben; wir sehen Beethoven wie ein Pferd (S. 356) "über den Strang schlagen"; eine "frisch beschlagene Strasse" (S. 367) präsentirt sich uns, (während wir bisher nur von frisch beschlagenen Pferden wussten), ebenfalls "ein üppiges Mistbeet für den Raubmord" (S. 287); trotz diesen so ersichtlichen Wundern wird "das Wunder in Abgang decretirt" (S. 176).Plötzlich erscheinen die Kometen(S. 164); aber Strauss beruhigt uns: "bei dem lockeren Völkchen der Kometen kann von Bewohnern nicht die Rede sein": wahre Trostworte, da man sonst bei einem lockeren Völkchen, auch in Hinsicht auf Bewohner, nichts verschwören sollte. Inzwischen ein neues Schauspiel: Strauss selber "rankt sich" an einem "Nationalgefühl zum Menschheitsgefühle empor" (S. 258), während ein Anderer "zu immer roherer Demokratie heruntergleitet" (S. 264). Herunter! Ja nicht hinunter! gebietet unser Sprachmeister, der (S. 269) recht nachdrücklich falsch sagt, "in den organischen Bau gehört ein tüchtiger Adel herein." In einer höheren Sphäre bewegen sich, unfassbar hoch über uns, bedenkliche Phänomene, zum Beispiel "das Aufgeben der spiritualistischen Herausnahme der Menschen aus der Natur" (S. 201), oder (S. 210) "die Widerlegung des Sprödethuns"; ein gefährliches Schauspiel auf S. 241, wo "der Kampf um's Dasein im Thierreich sattsam losgelassen wird."—S. 359 "springt" sogar wunderbarer Weise "eine menschliche Stimme der Instrumentalmusik bei," aber eine Thür wird aufgemacht, durch welche das Wunder (S. 177) "auf Nimmerwiederkehr hinausgeworfen wird"—S. 123 "sieht der Augenschein im Tode den ganzen Menschen, wie er war, zu Grunde gehen"; noch nie bis auf den Sprachbändiger Strauss hat der "Augenschein gesehen": nun haben wir es in seinem Sprach-Guckkasten erlebt und wollen ihn preisen. Auch das haben wir von ihm zuerst gelernt, was es heisst: "unser Gefühl für das All reagirt, wenn es verletzt wird, religiös," und erinnern uns der dazu gehörigen Procedur. Wir wissen bereits, welcher Reiz darin liegt (S. 280), "erhabene Gestalten wenigstens bis zum Knie in Sicht zu bekommen" und schätzen uns darum glücklich, den "klassischen Prosaschreiber," zwar mit dieser Beschränkung der Aussicht, aber doch immerhin wahrgenommen zu haben. Ehrlich gesagt: was wir gesehen haben, waren thönerne Beine, und was wie gesunde Fleischfarbe erschien, war nur aufgemalte Tünche. Freilich wird die Philister-Kultur in Deutschland entrüstet sein, wenn man von bemalten Götzenbildern spricht, wo sie einen lebendigen Gott sieht. Wer es aber wagt, ihre Bilder umzuwerfen, der wird sich schwerlich scheuen, ihr, aller Entrüstung zum Trotz, in's Gesicht zu sagen, dass sie selbst verlernt habe, zwischen lebendig und todt, ächt und unächt, original und nachgemacht, Gott und Götze zu unterscheiden, und dass ihr der gesunde, männliche Instinkt für das Wirkliche und Rechte verloren gegangen sei. Sie selbst verdient den Untergang: und jetzt bereits sinken die Zeichen ihrer Herrschaft, jetzt bereits fällt ihr Purpur; wenn aber der Purpur fällt, muss auch der Herzog nach. —

Damit habe ich mein Bekenntniss abgelegt. Es ist das Bekenntniss eines Einzelnen; und was vermöchte so ein Einzelner gegen alle Welt, selbst wenn seine Stimme überall gehört würde! Sein Urtheil würde doch nur, um Euch zu guterletzt mit einer ächten und kostbaren Straussenfeder zu schmücken, "von eben so viel subjectiver Wahrheit als ohne jede objective Beweiskraft sein" —nicht wahr, meine Guten? Seid deshalb immerhin getrosten Muthes! Einstweilen wenigstens wird es bei Eurem "von eben so viel—als ohne" sein Bewenden haben. Einstweilen! So lange nämlich das noch als unzeitgemäss gilt, was immer an der Zeit war und jetzt mehr als je an der Zeit ist und Noth thut—die Wahrheit zu sagen. —

Zweites Stück

Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben.

Vorwort

"Uebrigens ist mir Alles verhasst, was mich bloss belehrt, ohne meine Thätigkeit zu vermehren, oder unmittelbar zu beleben." Dies sind Worte Goethes, mit denen, als mit einem herzhaft ausgedrückten Ceterum censeo, unsere Betrachtung über den Werth und den Unwerth der Historie beginnen mag. In derselben soll nämlich dargestellt werden, warum Belehrung ohne Belebung, warum Wissen, bei dem die Thätigkeit erschlafft, warum Historie als kostbarer Erkenntniss-Ueberfluss und Luxus uns ernstlich, nach Goethes Wort, verhasst sein muss—deshalb, weil es uns noch am Nothwendigsten fehlt, und weil das Ueberflüssige der Feind des Nothwendigen ist. Gewiss, wir brauchen die Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müssiggänger im Garten des Wissens braucht, mag derselbe auch vornehm auf unsere derben und anmuthlosen Bedürfnisse und Nöthe herabsehen. Das heisst, wir brauchen sie zum Leben und zur That, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der That oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten That. Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es giebt einen Grad, Historie zu treiben und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet: ein Phänomen, welches an merkwürdigen Symptomen unserer Zeit sich zur Erfahrung zu bringen jetzt eben so nothwendig ist als es schmerzlich sein mag.

Ich habe mich bestrebt eine Empfindung zu schildern, die mich oft genug gequält hat; ich räche mich an ihr, indem ich sie der Oeffentlichkeit preisgebe. Vielleicht wird irgend Jemand durch eine solche Schilderung veranlasst, mir zu erklären, dass er diese Empfindung zwar auch kenne, aber dass ich sie nicht rein und ursprünglich genug empfunden und durchaus nicht mit der gebührenden Sicherheit und Reife der Erfahrung ausgesprochen habe. So vielleicht der Eine oder der Andere; die Meisten aber werden mir sagen, dass es eine ganz verkehrte, unnatürliche, abscheuliche und schlechterdings unerlaubte Empfindung sei, ja dass ich mich mit derselben der so mächtigen historischen Zeitrichtung unwürdig gezeigt habe, wie sie bekanntlich seit zwei Menschenaltern unter den Deutschen namentlich zu bemerken ist. Nun wird jedenfalls dadurch, dass ich mich mit der Naturbeschreibung meiner Empfindung hervorwage, die allgemeine Wohlanständigkeit eher gefördert als beschädigt, dadurch dass ich Vielen Gelegenheit gebe, einer solchen Zeitrichtung, wie der eben erwähnten, Artigkeiten zu sagen. Für mich aber gewinne ich etwas, was mir noch mehr werth ist als die Wohlanständigkeit—öffentlich über unsere Zeit belehrt und zurecht gewiesen zu werden.

Unzeitgemäss ist auch diese Betrachtung, weil ich etwas, worauf die Zeit mit Recht stolz ist, ihre historische Bildung, hier einmal als Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit zu verstehen versuche, weil ich sogar glaube, dass wir Alle an einem verzehrenden historischen Fieber leiden und mindestens erkennen sollten, dass wir daran leiden. Wenn aber Goethe mit gutem Rechte gesagt hat, dass wir mit unseren Tugenden zugleich auch unsere Fehler anbauen, und wenn, wie Jedermann weiss, eine hypertrophische Tugend—wie sie mir der historische Sinn unserer Zeit zu sein scheint—so gut zum Verderben eines Volkes werden kann wie ein hypertrophisches Laster: so mag man mich nur einmal gewähren lassen. Auch soll zu meiner Entlastung nicht verschwiegen werden, dass ich die Erfahrungen, die mir jene quälenden Empfindungen erregten, meistens aus mir selbst und nur zur Vergleichung aus Anderen entnommen habe, und dass ich nur sofern ich Zögling älterer Zeiten, zumal der griechischen bin, über mich als ein Kind dieser jetzigen Zeit zu so unzeitgemässen Erfahrungen komme. So viel muss ich mir aber selbst von Berufs wegen als classischer Philologe zugestehen dürfen: denn ich wüsste nicht, was die classische Philologie in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäss—das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit—zu wirken.

1

Betrachte die Heerde, die an dir vorüberweidet: sie weiss nicht was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblickes und deshalb weder schwermüthig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschenthums sich vor dem Thiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt—denn das will er allein, gleich dem Thiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will es doch vergebens, weil er es nicht will wie das Thier. Der Mensch fragt wohl einmal das Thier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Thier will auch antworten und sagen, das kommt daher dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte—da vergass es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so dass der Mensch sich darob verwunderte.

Er wundert sich aber auch über sich selbst, das Vergessen nicht lernen zu können und immerfort am Vergangenen zu hängen: mag er noch so weit, noch so schnell laufen, die Kette läuft mit. Es ist ein Wunder: der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch noch als Gespenst wieder und stört die Ruhe eines späteren Augenblicks. Fortwährend löst sich ein Blatt aus der Rolle der Zeit, fällt heraus, flattert fort—und flattert plötzlich wieder zurück, dem Menschen in den Schooss. Dann sagt der Mensch "ich erinnere mich" und beneidet das Thier, welches sofort vergisst und jeden Augenblick wirklich sterben, in Nebel und Nacht zurücksinken und auf immer erlöschen sieht. So lebt das Thier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne dass ein wunderlicher Bruch übrig bleibt, es weiss sich nicht zu verstellen, verbirgt nichts und erscheint in jedem Momente ganz und gar als das was es ist, kann also gar nicht anders sein als ehrlich. Der Mensch hingegen stemmt sich gegen die grosse und immer grössere Last des Vergangenen: diese drückt ihn nieder oder beugt ihn seitwärts, diese beschwert seinen Gang als eine unsichtbare und dunkle Bürde, welche er zum Scheine einmal verläugnen kann, und welche er im Umgange mit seines Gleichen gar zu gern verläugnet: um ihren Neid zu wecken. Deshalb ergreift es ihn, als ob er eines verlorenen Paradieses gedächte, die weidende Heerde oder, in vertrauterer Nähe, das Kind zu sehen, das noch nichts Vergangenes zu verläugnen hat und zwischen den Zäunen der Vergangenheit und der Zukunft in überseliger Blindheit spielt. Und doch muss ihm sein Spiel gestört werden: nur zu zeitig wird es aus der Vergessenheit heraufgerufen. Dann lernt es das Wort "es war" zu verstehen, jenes Losungswort, mit dem Kampf, Leiden und Ueberdruss an den Menschen herankommen, ihn zu erinnern, was sein Dasein im Grunde ist—ein nie zu vollendendes Imperfectum. Bringt endlich der Tod das ersehnte Vergessen, so unterschlägt er doch zugleich dabei die Gegenwart und das Dasein und drückt damit das Siegel auf jene Erkenntniss, dass Dasein nur ein ununterbrochenes Gewesensein ist, ein Ding, das davon lebt, sich selbst zu verneinen und zu verzehren, sich selbst zu widersprechen.

Wenn ein Glück, wenn ein Haschen nach neuem Glück in irgend einem Sinne das ist, was den Lebenden im Leben festhält und zum Leben fortdrängt, so hat vielleicht kein Philosoph mehr Recht als der Cyniker: denn das Glück des Thieres, als des vollendeten Cynikers, ist der lebendige Beweis für das Recht des Cynismus. Das kleinste Glück, wenn es nur ununterbrochen da ist und glücklich macht, ist ohne Vergleich mehr Glück als das grösste, das nur als Episode, gleichsam als Laune, als toller Einfall, zwischen lauter Unlust, Begierde und Entbehren kommt. Bei dem kleinsten aber und bei dem grössten Glücke ist es immer Eines, wodurch Glück zum Glücke wird: das Vergessen-können oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden. Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist und noch schlimmer: er wird nie etwas thun, was Andere glücklich macht. Denkt euch das äusserste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besässe, der verurtheilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein Solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens: er wird wie der rechte Schüler Heraklits zuletzt kaum mehr wagen den Finger zu heben. Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde, oder dem Thiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholten Wiederkäuen leben sollte. Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Thier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Oder, um mich noch einfacher über mein Thema zu erklären: es giebt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt, und zuletzt zu Grunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Cultur.

Um diesen Grad und durch ihn dann die Grenze zu bestimmen, an der das Vergangene vergessen werden muss, wenn es nicht zum Todtengräber des Gegenwärtigen werden soll, müsste man genau wissen, wie gross die plastische Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur ist, ich meine jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen. Es giebt Menschen die diese Kraft so wenig besitzen, dass sie an einem einzigen Erlebniss, an einem einzigen Schmerz, oft zumal an einem einzigen zarten Unrecht, wie an einem ganz kleinen blutigen Risse unheilbar verbluten; es giebt auf der anderen Seite solche, denen die wildesten und schauerlichsten Lebensunfälle und selbst Thaten der eigenen Bosheit so wenig anhaben, dass sie es mitten darin oder kurz darauf zu einem leidlichen Wohlbefinden und zu einer Art ruhigen Gewissens bringen. Je stärkere Wurzeln die innerste Natur eines Menschen hat, um so mehr wird er auch von der Vergangenheit sich aneignen oder anzwingen; und dächte man sich die mächtigste und ungeheuerste Natur, so wäre sie daran zu erkennen, dass es für sie gar keine Grenze des historischen Sinnes geben würde, an der er überwuchernd und schädlich zu wirken vermöchte; alles Vergangene, eigenes und fremdestes, würde sie an sich heran, in sich hineinziehen und gleichsam zu Blut umschaffen. Das was eine solche Natur nicht bezwingt, weiss sie zu vergessen; es ist nicht mehr da, der Horizont ist geschlossen und ganz, und nichts vermag daran zu erinnern, dass es noch jenseits desselben Menschen, Leidenschaften, Lehren, Zwecke giebt. Und dies ist ein allgemeines Gesetz: jedes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden; ist es unvermögend einen Horizont um sich zu ziehen und zu selbstisch wiederum, innerhalb eines fremden den eigenen Blick einzuschliessen, so siecht es matt oder überhastig zu zeitigem Untergange dahin. Die Heiterkeit, das gute Gewissen, die frohe That, das Vertrauen auf das Kommende—alles das hängt, bei dem Einzelnen wie bei dem Volke, davon ab, dass es eine Linie giebt, die das Uebersehbare, Helle von dem Unaufhellbaren und Dunkeln scheidet, davon dass man eben so gut zur rechten Zeit zu vergessen weiss, als man sich zur rechten Zeit erinnert, davon dass man mit kräftigem Instincte herausfühlt, wann es nöthig ist, historisch, wann unhistorisch zu empfinden. Dies gerade ist der Satz, zu dessen Betrachtung der Leser eingeladen ist: das Unhistorische und das Historische ist gleichermaassen für die Gesundheit eines Einzelnen, eines Volkes und einer Cultur nöthig.

Hier bringt nun Jeder zunächst eine Beobachtung mit: das historische Wissen und Empfinden eines Menschen kann sehr beschränkt, sein Horizont eingeengt wie der eines Alpenthal-Bewohners sein, in jedes Urtheil mag er eine Ungerechtigkeit, in jede Erfahrung den Irrthum legen, mit ihr der Erste zu sein—und trotz aller Ungerechtigkeit und allem Irrthum steht er doch in unüberwindlicher Gesundheit und Rüstigkeit da und erfreut jedes Auge; während dicht neben ihm der bei weitem Gerechtere und Belehrtere kränkelt und zusammenfällt, weil die Linien seines Horizontes immer von Neuem unruhig sich verschieben, weil er sich aus dem viel zarteren Netze seiner Gerechtigkeiten und Wahrheiten nicht wieder zum derben Wollen und Begehren herauswinden kann. Wir sahen dagegen das Thier, das ganz unhistorisch ist und beinahe innerhalb eines punktartigen Horizontes wohnt und doch in einem gewissen Glücke, wenigstens ohne Ueberdruss und Verstellung lebt; wir werden also die Fähigkeit, in einem bestimmten Grade unhistorisch empfinden zu können, für die wichtigere und ursprünglichere halten müssen, insofern in ihr das Fundament liegt, auf dem überhaupt erst etwas Rechtes, Gesundes und Grosses, etwas wahrhaft Menschliches wachsen kann. Das Unhistorische ist einer umhüllenden Atmosphäre ähnlich, in der sich Leben allein erzeugt, um mit der Vernichtung dieser Atmosphäre wieder zu verschwinden. Es ist wahr: erst dadurch, dass der Mensch denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschliessend jenes unhistorische Element einschränkt, erst dadurch dass innerhalb jener umschliessenden Dunstwolke ein heller, blitzender Lichtschein entsteht, also erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen: aber in einem Uebermaasse von Historie hört der Mensch wieder auf, und ohne jene Hülle des Unhistorischen würde er nie angefangen haben und anzufangen wagen. Wo finden sich Thaten, die der Mensch zu thun vermöchte, ohne vorher in jene Dunstschicht des Unhistorischen eingegangen zu sein? Oder um die Bilder bei Seite zu lassen und zur Illustration durch das Beispiel zu greifen: man vergegenwärtige sich doch einen Mann, den eine heftige Leidenschaft, für ein Weib oder für einen grossen Gedanken, herumwirft und fortzieht; wie verändert sich ihm seine Welt! Rückwärts blickend fühlt er sich blind, seitwärts hörend vernimmt er das Fremde wie einen dumpfen bedeutungsleeren Schall; was er überhaupt wahrnimmt, das nahm er noch nie so wahr; so fühlbar nah, gefärbt, durchtönt, erleuchtet, als ob er es mit allen Sinnen zugleich ergriffe. Alle Werthschätzungen sind verändert und entwerthet; so vieles vermag er nicht mehr zu schätzen, weil er es kaum mehr fühlen kann: er fragt sich ob er so lange der Narr fremder Worte, fremder Meinungen gewesen sei; er wundert sich, dass sein Gedächtniss sich unermüdlich in einem Kreise dreht und doch zu schwach und müde ist, um nur einen einzigen Sprung aus diesem Kreise heraus zu machen. Es ist der ungerechteste Zustand von der Welt, eng, undankbar gegen das Vergangene, blind gegen Gefahren, taub gegen Warnungen, ein kleiner lebendiger Wirbel in einem todten Meere von Nacht und Vergessen: und doch ist dieser Zustand—unhistorisch, widerhistorisch durch und durch—der Geburtsschooss nicht nur einer ungerechten, sondern vielmehr jeder rechten That; und kein Künstler wird sein Bild, kein Feldherr seinen Sieg, kein Volk seine Freiheit erreichen, ohne sie in einem derartig unhistorischen Zustande vorher begehrt und erstrebt zu haben. Wie der Handelnde, nach Goethes Ausdruck, immer gewissenlos ist, so ist er auch wissenlos, er vergisst das Meiste, um Eins zu thun, er ist ungerecht gegen das, was hinter ihm liegt und kennt nur Ein Recht, das Recht dessen, was jetzt werden soll. So liebt jeder Handelnde seine That unendlich mehr als sie geliebt zu werden verdient: und die besten Thaten geschehen in einem solchen Ueberschwange der Liebe, dass sie jedenfalls dieser Liebe unwerth sein müssen, wenn ihr Werth auch sonst unberechenbar gross wäre.

Sollte Einer im Stande sein, diese unhistorische Atmosphäre, in der jedes grosse geschichtliche Ereigniss entstanden ist, in zahlreichen Fällen auszuwittern und nachzuathmen, so vermöchte ein Solcher vielleicht, als erkennendes Wesen, sich auf einen überhistorischen Standpunkt zu erheben, wie ihn einmal Niebuhr als mögliches Resultat historischer Betrachtungen geschildert hat. "Zu einer Sache wenigstens," sagt er, "ist die Geschichte, klar und ausführlich begriffen, nutz: dass man weiss, wie auch die grössten und höchsten Geister unseres menschlichen Geschlechtes nicht wissen, wie zufällig ihr Auge die Form angenommen hat, wodurch sie sehen und wodurch zu sehen sie von Jedermann gewaltsam fordern, gewaltsam nämlich, weil die Intensität ihres Bewusstseins ausnehmend gross ist. Wer dies nicht ganz bestimmt und in vielen Fällen weiss und begriffen hat, den unterjocht die Erscheinung eines mächtigen Geistes, der in eine gegebene Form die höchste Leidenschaftlichkeit bringt." Ueberhistorisch wäre ein solcher Standpunkt zu nennen, weil Einer, der auf ihm steht, gar keine Verführung mehr zum Weiterleben und zur Mitarbeit an der Geschichte verspüren könnte, dadurch dass er die Eine Bedingung alles Geschehens, jene Blindheit und Ungerechtigkeit in der Seele des Handelnden, erkannt hätte; er wäre selbst davon geheilt, die Historie von nun an noch übermässig ernst zu nehmen: hätte er doch gelernt, an jedem Menschen, an jedem Erlebniss, unter Griechen oder Türken, aus einer Stunde des ersten oder des neunzehnten Jahrhunderts, die Frage sich zu beantworten, wie und wozu gelebt werde. Wer seine Bekannten fragt, ob sie die letzten zehn oder zwanzig Jahre noch einmal zu durchleben wünschten, wird leicht wahrnehmen, wer von ihnen für jenen überhistorischen Standpunkt vorgebildet ist: zwar werden sie wohl Alle Nein! antworten, aber sie werden jenes Nein! verschieden begründen. Die Einen vielleicht damit, dass sie sich getrösten "aber die nächsten zwanzig werden besser sein"; es sind die, von denen David Hume spöttisch sagt:

And from the dregs of life hope to receive,

What the first sprightly running could not give.

Wir wollen sie die historischen Menschen nennen; der Blick in die Vergangenheit drängt sie zur Zukunft hin, feuert ihren Muth an, es noch länger mit dem Leben aufzunehmen, entzündet die Hoffnung, dass das Rechte noch komme, dass das Glück hinter dem Berge sitze, auf den sie zuschreiten. Diese historischen Menschen glauben, dass der Sinn des Daseins im Verlaufe eines Prozesses immer mehr ans Licht kommen werde, sie schauen nur deshalb rückwärts, um an der Betrachtung des bisherigen Prozesses die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft heftiger begehren zu lernen; sie wissen gar nicht, wie unhistorisch sie trotz aller ihrer Historie denken und handeln, und wie auch ihre Beschäftigung mit der Geschichte nicht im Dienste der reinen Erkenntniss sondern des Lebens steht.

Aber jene Frage, deren erste Beantwortung wir gehört haben kann auch einmal anders beantwortet werden. Zwar wiederum mit einem Nein! aber mit einem anders begründeten Nein. Mit dem Nein des überhistorischen Menschen, der nicht im Prozesse das Heil sieht, für den vielmehr die Welt in jedem einzelnen Augenblicke fertig ist und ihr Ende erreicht. Was könnten zehn neue Jahre lehren, was die vergangenen zehn nicht zu lehren vermochten!

Ob nun der Sinn der Lehre Glück oder Resignation oder Tugend oder Busse ist, darin sind die überhistorischen Menschen mit einander nie einig gewesen; aber, allen historischen Betrachtungsarten des Vergangenen entgegen, kommen sie zur vollen Einmüthigkeit des Satzes: das Vergangene und das Gegenwärtige ist Eines und dasselbe, nämlich in aller Mannichfaltigkeit typisch gleich und als Allgegenwart unvergänglicher Typen ein stillstehendes Gebilde von unverändertem Werthe und ewig gleicher Bedeutung. Wie die Hunderte verschiedener Sprachen denselben typisch festen Bedürfnissen der Menschen entsprechen, so dass Einer, der diese Bedürfnisse verstände, aus allen Sprachen nichts Neues zu lernen vermöchte: so erleuchtet sich der überhistorische Denker alle Geschichte der Völker und der Einzelnen von innen heraus, hellseherisch den Ursinn der verschiedenen Hieroglyphen errathend und allmählich sogar der immer neu hinzuströmenden Zeichenschrift ermüdet ausweichend: denn wie sollte er es im unendlichen Ueberflusse des Geschehenden nicht zur Sättigung, zur Uebersättigung, ja zum Ekel bringen! so dass der Verwegenste zuletzt vielleicht bereit ist, mit Giacomo Leopardi zu seinem Herzen zu sagen:

"Nichts lebt, das würdig

Wär deiner Regungen, und keinen Seufzer verdient die Erde.

Schmerz und Langeweile ist unser Sein und Koth die Welt—nichts Andres.

Beruhige dich."

Doch lassen wir den überhistorischen Menschen ihren Ekel und ihre Weisheit: heute wollen wir vielmehr einmal unserer Unweisheit von Herzen froh werden und uns als den Thätigen und Fortschreitenden, als den Verehrern des Prozesses, einen guten Tag machen. Mag unsere Schätzung des Historischen nur ein occidentalisches Vorurtheil sein; wenn wir nur wenigstens innerhalb dieser Vorurtheile fortschreiten und nicht stille stehen! Wenn wir nur dies gerade immer besser lernen, Historie zum Zwecke des Lebens zu treiben! Dann wollen wir den Ueberhistorischen gerne zugestehen, dass sie mehr Weisheit besitzen, als wir; falls wir nämlich nur sicher sein dürfen, mehr Leben als sie zu besitzen: denn so wird jedenfalls unsere Unweisheit mehr Zukunft haben, als ihre Weisheit. Und damit gar kein Zweifel über den Sinn dieses Gegensatzes von Leben und Weisheit bestehen bleibe, will ich mir durch ein von Alters her wohlbewährtes Verfahren zu Hülfe kommen und gerades Wegs einige Thesen aufstellen.

Ein historisches Phänomen, rein und vollständig erkannt und in ein Erkenntnissphänomen aufgelöst, ist für den, der es erkannt hat, todt: denn er hat in ihm den Wahn, die Ungerechtigkeit, die blinde Leidenschaft und überhaupt den ganzen irdisch umdunkelten Horizont jenes Phänomens und zugleich eben darin seine geschichtliche Macht erkannt. Diese Macht ist jetzt für ihn, den Wissenden, machtlos geworden: vielleicht noch nicht für ihn, den Lebenden.

Die Geschichte als reine Wissenschaft gedacht und souverän geworden, wäre eine Art von Lebens-Abschluss und Abrechnung für die Menschheit. Die historische Bildung ist vielmehr nur im Gefolge einer mächtigen neuen Lebensströmung, einer werdenden Cultur zum Beispiel, etwas Heilsames und Zukunft-Verheissendes, also nur dann, wenn sie von einer höheren Kraft beherrscht und geführt wird und nicht selber herrscht und führt.

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