Schweren Herzens packte er das Brot wieder ein und steckte es zusammen mit dem Apfel in die Mappe zurück. Dann ließ er sich seufzend auf den Turnmatten nieder und griff wieder nach dem Buch.
3. Die uralte Morla
Caíron, der alte Schwarz-Zentaur, sank, als er den Hufschlag von Atréjus Pferd verhallen hörte, auf sein Lager aus weichen Fellen zurück. Die Anstrengung hatte seine Kräfte erschöpft. Die Frauen, die ihn am nächsten Tag in Atréjus Zelt fanden, bangten um sein Leben. Auch als einige Tage später die Jäger heimkehrten, stand es noch kaum besser um ihn, aber er war immerhin in der Lage, ihnen zu erklären, warum Atréju fortgeritten war und nicht so bald zurückkehren würde. Und da alle den Jungen gern hatten, waren sie von da an ernst und dachten voll Sorge an ihn. Zugleich waren sie aber auch stolz darauf, daß die Kindliche Kaiserin gerade ihn mit der Großen Suche beauftragt hatte - obgleich niemand es ganz verstehen konnte.
Der alte Caíron kehrte übrigens nie wieder in den Elfenbeinturm zurück.
Aber er starb auch nicht und blieb auch nicht bei den Grünhäuten im Gräsernen Meer. Sein Schicksal sollte ihn einen ganz anderen, höchst unvermuteten Weg führen. Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.
Atréju ritt noch in derselben Nacht bis zum Fuß der Silberberge. Es war schon gegen Morgen, als er Rast machte. Artax weidete ein wenig und soff Wasser aus einem klaren Gebirgsbach. Atréju wickelte sich in seinen roten Mantel und schlief ein paar Stunden. Doch als die Sonne aufging, waren sie schon wieder unterwegs.
Am ersten Tag durchquerten sie die Silberberge. Hier war ihnen beiden jeder Weg und jeder Steg bekannt, und sie kamen rasch vorwärts. Als er Hunger bekam, aß der Junge ein Stück getrocknetes Büffelfleisch und zwei kleine Fladen aus Grassamen, die er in einem Sack am Sattel aufbewahrt hatte - eigentlich für seine Jagd.
»Na also!« sagte Bastian, »ab und zu muß der Mensch einfach was essen.« Er holte das Pausebrot aus der Mappe, packte es aus, brach es sorgfältig in zwei Stücke, wickelte das eine wieder ein und steckte es weg.
Das andere aß er auf.
Die Pause war vorbei, Bastian überlegte, was jetzt in der Klasse drankommen würde. Ah, richtig, Erdkunde bei Frau Karge. Man mußte Flüsse und Nebenflüsse aufzählen, Städte und Einwohnerzahlen, Bodenschätze und Industrien. Bastian zuckte die Achseln und las weiter.
Bei Sonnenuntergang lagen die Silberberge hinter ihnen, und sie machten wieder Rast. In dieser Nacht träumte Atréju von den Purpurbüffeln. Er sah sie fern durch das Gräserne Meer ziehen und versuchte, ihnen auf seinem Pferd nahe zu kommen. Aber es war vergebens. Sie blieben immer gleich weit von ihm entfernt, so sehr er sein Pferdchen auch antrieb. Am zweiten Tag kamen sie durch das Land der Singenden Bäume. Jeder von ihnen hatte eine andere Gestalt, andere Blätter, eine andere Rinde, aber der Grund, warum man dieses Land so nannte, war, daß man ihr Wachstum hören konnte wie eine sanfte Musik, die von nah und fern erklang und sich zu einem mächtigen Ganzen vereinte, das an Schönheit mit nichts sonst in Phantasien zu vergleichen war. Es galt als nicht ganz ungefährlich, durch diese Gegend zu ziehen, denn manch einer war schon wie verzaubert sitzen geblieben und hatte alles vergessen. Auch Atréju empfand die Macht dieser wunderbaren Klänge, aber er ließ sich nicht verführen, innezuhalten.
In der darauffolgenden Nacht träumte er wieder von den Purpurbüffeln.
Diesmal war er zu Fuß, und sie zogen in einer großen Herde an ihm vorüber. Aber sie waren außerhalb der Reichweite seines Bogens, und als er näher heranpirschen wollte, merkte er, daß seine Füße wie mit dem Erdboden verwachsen waren und sich nicht bewegen ließen. Über der Anstrengung, sie loszureißen, erwachte er. Es war noch vor Sonnenaufgang, aber er brach sogleich auf.
Am dritten Tag sah er die Gläsernen Türme von Eribo, in denen die Bewohner dieser Gegend das Sternenlicht auffingen und sammelten. Sie machten daraus wunderbar verzierte Gegenstände, von denen aber außer ihnen selbst niemand in Phantasien wußte, wozu sie eigentlich dienten.
Er traf sogar einige dieser Leute, kleine Gestalten, die selber wie aus Glas geblasen aussahen. Sie versorgten ihn außerordentlich freundlich mit
Speise und Trank, aber auf seine Frage, wer über die Krankheit der Kindlichen Kaiserin etwas wissen könnte, versanken sie in trauriges und ratloses Schweigen.
In der Nacht, die darauf folgte, träumte Atréju abermals, daß die Herde der Purpurbüffel an ihm vorüberzog. Er sah, wie eines der Tiere, ein besonders großer, stattlicher Bulle, sich von der Gruppe der anderen löste und auf ihn zukam, langsam und ohne Anzeichen von Angst oder Wut. Und wie alle wahren Jäger, so hatte auch Atréju die Gabe, an jedem Geschöpf sofort die Stelle zu sehen, die er treffen mußte, um es zu erlegen.
Der Purpurbüffel stellte sich sogar so, daß er sie ihm regelrecht zum Ziel bot. Atréju legte den Pfeil auf und spannte den starken Bogen mit aller Kraft - aber er konnte nicht schießen. Seine Finger waren wie mit der Bogensehne verwachsen und ließen sie nicht los.
Und so oder ähnlich erging es ihm in den Träumen aller folgenden Nächte. Er kam dem Purpurbüffel immer näher-es war übrigens genau der, den er in Wirklichkeit hatte erlegen wollen, er erkannte ihn an einem weißen Fleck auf der Stirn - aber aus irgendeinem Grund konnte er den tödlichen Pfeil nicht abschicken.
An den Tagen ritt er weiter und immer weiter, ohne zu wissen wohin und ohne jemanden zu finden, der ihm hätte raten können. Das goldene Amulett, das er trug, wurde von allen Wesen respektiert, die ihm begegneten, aber Antwort auf seine Frage wußte keines. Einmal erblickte er von fern die Flammenstraßen der Stadt Brousch, wo die Geschöpfe wohnten, deren Leiber aus Feuer bestehen, aber dort kehrte er lieber nicht ein. Er durchritt das weite Hochland der Sassafranier, die alt geboren werden und sterben, wenn sie Säuglinge geworden sind. Er kam in den Urwaldtempel von Muamath, in welchem eine große Säule aus Mondstein frei in der Luft schwebt, und er sprach mit den Mönchen, die dort lebten.
Aber auch hier mußte er ohne Auskunft weiterziehen.
Fast eine Woche war er nun schon so kreuz und quer umhergeirrt, als er am siebenten Tag und der darauffolgenden Nacht zwei ganz verschiedene Dinge erlebte, die seine innere und äußere Situation gründlich änderten.
Die Erzählung des alten Caíron von den schrecklichen Vorkommnissen, die sich in allen Teilen Phantåsiens ereigneten, hatte ihn zwar beeindruckt, aber bisher war das alles für ihn eben doch nur ein Bericht gewesen. Am siebenten Tag aber sollte er sie mit eigenen Augen sehen.
Es war um die Mittagszeit, als er durch einen dichten, dunklen Wald ritt, der aus besonders riesenhaften, knorrigen Bäumen bestand. Es war jener Haulewald, in dem sich einige Zeit vorher die vier Boten getroffen hatten.
In dieser Gegend, das wußte Atréju, gab es Borkentrolle. Das waren, wie man ihm gesagt hatte, riesenhafte Kerle und Kerlinnen, die selber wie knorrige Baumstämme aussahen. Falls sie sich, wie es ihre Gewohnheit war, reglos hielten, konnte man sie sogar wirklich für Bäume halten und ahnungslos an ihnen vorüberreiten. Nur wenn sie sich bewegten, sah man, daß sie astartige Arme und krumme, wurzelartige Beine hatten. Sie waren zwar ungeheuer stark, aber nicht gefährlich -höchstens daß sie hin und wieder gern Schabernack mit verirrten Wanderern trieben.
Atréju hatte eben eine Waldwiese entdeckt, durch die sich ein Bächlein schlängelte, und war abgestiegen, um Artax trinken und grasen zu lassen, als er plötzlich ein gewaltiges Prasseln und Knacken hinter sich im Gehölz hörte und sich umwandte.
Aus dem Wald kamen drei Borkentrolle auf ihn zu, bei deren Anblick ihm ein kalter Schauder über den Rücken lief. Dem ersten fehlten die Beine und der Unterleib, so daß er auf seinen Händen gehen mußte. Der zweite hatte ein riesiges Loch in der Brust, durch das man hindurchschauen konnte. Der dritte hüpfte auf seinem einzigen rechten Bein, denn seine gesamte linke Hälfte fehlte, so als sei er mitten entzweigeschnitten worden.
Als sie das Amulett auf Atréjus Brust sahen, nickten sie einander zu und kamen langsam nahe heran.
»Erschrick nicht!« sagte der, der auf den Händen ging, und seine Stimme klang wie das Knarren eines Baumes, »unser Anblick ist gewiß nicht gerade schön, aber es gibt in diesem Teil des Haulewaldes niemanden mehr außer uns, der dich warnen könnte. Darum sind wir gekommen.«
»Warnen?« fragte Atréju, »wovor?«
»Wir haben von dir gehört«, ächzte der mit der durchlöcherten Brust,
»und man hat uns erzählt, weshalb du unterwegs bist. Du darfst hier nicht weiterreiten, sonst bist du verloren.« »Sonst passiert dir das gleiche, was uns passiert ist«, seufzte der Halbierte, »schau uns an! Möchtest du das?«
»Was ist euch denn passiert?« erkundigte sich Atréju.
»Die Vernichtung breitet sich aus«, stöhnte der erste, »wächst und wächst und wird jeden Tag mehr - falls man überhaupt von nichts sagen kann, daß
es mehr wird. Alle anderen sind rechtzeitig geflohen aus dem Haulewald, aber wir wollten unsere Heimat nicht verlassen. Und da hat es uns im Schlaf überrascht und hat das aus uns gemacht, was du jetzt vor dir siehst.« »Tut es sehr weh?« fragte Atréju.
»Nein«, antwortete der zweite Borkentroll, der mit dem Loch in der Brust, »man spürt nichts. Es fehlt einem eben nur etwas. Und jeden Tag fehlt einem mehr, wenn man davon einmal befallen ist. Bald werden wir gar nicht mehr vorhanden sein.«
»Wo ist denn die Stelle im Wald«, wollte Atréju wissen, »wo es angefangen hat?« »Willst du es sehen?« Der dritte Troll, der nur noch halb war, blickte seine Leidensgenossen fragend an. Als die nickten, fuhr er fort:
»Wir werden dich so weit heranführen, daß du es sehen kannst, aber du mußt versprechen, nicht näher zu gehen. Sonst zieht es dich unwiderstehlich an.«
»Gut«, sagte Atréju, »ich verspreche es euch.«
Die drei wandten sich um und bewegten sich auf den Waldrand zu.