Herr Koreander überlegte eine Weile, dann schüttelte er den Kopf.
»Das mußt du mir alles genauer erklären. Setz dich doch, mein Junge.
Bitte, nimm Platz!« Er wies mit dem Stiel seiner Pfeife auf einen zweiten Sessel, der dem seinen gegenüber stand. Bastian setzte sich.
»Also«, sagte Herr Koreander, »und nun erzähl’ mir mal, was das alles bedeuten soll. Aber langsam und der Reihe nach, wenn ich bitten darf.«
Und Bastian begann zu erzählen.
Er tat es nicht so ausführlich wie beim Vater, aber da Herr Koreander immer größeres Interesse bekundete und immer noch Genaueres erfahren wollte, dauerte es doch mehr als zwei Stunden, bis Bastian damit fertig war.
Wer weiß warum, aber merkwürdigerweise wurden sie während dieser ganzen Zeit durch keinen einzigen Kunden gestört.
Als Bastian seinen Bericht beendet hatte, paffte Herr Koreander lange Zeit vor sich hin. Er schien tief in Gedanken versunken. Schließlich räusperte er sich wieder, setzte seine kleine Brille zurecht, blickte Bastian eine Weile prüfend an und sagte dann:»Eins steht fest: Du hast mir dieses Buch nicht gestohlen, denn es gehört weder mir noch dir, noch sonst irgendeinem anderen. Wenn ich mich nicht irre, dann stammte es selbst schon aus Phantasien. Wer weiß, vielleicht hat es in genau diesem Augenblick gerade jemand anders in der Hand und liest darin.«
»Dann glauben Sie mir also?« fragte Bastian.
»Selbstverständlich«, antwortete Herr Koreander, »jeder vernünftige Mensch würde das tun.« »Ehrlich gesagt«, meinte Bastian, »damit habe ich nicht gerechnet.«
»Es gibt Menschen, die können nie nach Phantasien kommen«, sagte Herr Koreander, »und es gibt Menschen, die können es, aber sie bleiben für immer dort. Und dann gibt es noch einige, die gehen nach Phantasien und kehren wieder zurück. So wie du. Und die machen beide Welten gesund.«
»Ach«, sagte Bastian und wurde ein wenig rot, »ich kann eigentlich nichts dafür. Um ein Haar wäre ich nicht zurückgekommen. Wenn Atréju nicht gewesen wäre, säße ich jetzt bestimmt für immer in der Alten Kaiser Stadt.«
Herr Koreander nickte und paffte nachdenklich vor sich hin.
»Tja«, brummte er, »du hast Glück, daß du einen Freund in Phantasien hast. Das hat, weiß Gott, nicht jeder.«
»Herr Koreander«, fragte Bastian, »woher wissen Sie das alles? - Ich meine - waren Sie auch schon mal in Phantasien?«
»Selbstverständlich«, sagte Herr Koreander.
»Aber dann«, meinte Bastian, »dann müssen Sie doch auch Mondenkind kennen!« »Ja, ich kenne die Kindliche Kaiserin«, sagte Herr Koreander,
»allerdings nicht unter diesem Namen. Ich habe sie anders genannt. Aber das spielt keine Rolle.«
»Dann müssen Sie doch auch das Buch kennen!« rief Bastian, »dann haben Sie ja doch die Unendliche Geschichte gelesen!«
Herr Koreander schüttelte den Kopf.
»Jede wirkliche Geschichte ist eine Unendliche Geschichte.« Er ließ seinen Blick über die vielen Bücher schweifen, die bis unter die Decke hinauf an den Wänden standen, dann zeigte er mit dem Stiel seiner Pfeife darauf und fuhr fort:
»Es gibt eine Menge Türen nach Phantasien, mein Junge. Es gibt noch mehr solche Zauberbücher. Viele Leute merken nichts davon. Es kommt eben darauf an, wer ein solches Buch in die Hand bekommt.«
»Dann ist die Unendliche Geschichte also für jeden anders?«
»Das will ich meinen«, versetzte Herr Koreander, »außerdem gibt es nicht nur Bücher, es gibt noch andere Möglichkeiten, nach Phantasien und wieder zurück zu kommen. Das wirst du noch merken.«
»Meinen Sie?« fragte Bastian hoffnungsvoll, »aber dann müßte ich Mondenkind doch noch mal begegnen, und jeder begegnet ihr doch nur ein einziges Mal.«
Herr Koreander beugte sich vor und dämpfte seine Stimme.
»Laß dir etwas von einem alten, erfahrenen Phantásienreisenden sagen, mein Junge! Es ist ein Geheimnis, das in Phantasien niemand wissen kann.
Wenn du nachdenkst, wirst du auch verstehen, warum das so ist. Zu Mondenkind kannst du kein zweites Mal kommen, das ist richtig -solang sie Mondenkind ist. Aber wenn du ihr einen neuen Namen geben kannst, wirst du sie wiedersehen. Und so oft dir das gelingt, wird es jedesmal wieder das erste und einzige Mal sein.«
Über Herrn Koreanders Bulldoggengesicht lag für einen Augenblick ein weicher Schimmer, der es jung und beinahe schön erscheinen ließ.
»Danke, Herr Koreander!« sagte Bastian.
»Ich muß mich bei dir bedanken, mein Junge«, antwortete Herr Koreander. »Ich fände es nett, wenn du dich ab und zu hier bei mir blicken lassen würdest, damit wir unsere Erfahrungen austauschen. Es gibt nicht so viele Leute, mit denen man über solche Dinge sprechen kann.« Er streckte Bastian die Hand hin. »Abgemacht?«
»Gern«, sagte Bastian und schlug ein. »Ich muß jetzt gehen. Mein Vater wartet. Aber ich komm’ bald wieder.«
Herr Koreander begleitete ihn bis zur Tür. Als sie darauf zugingen, sah Bastian durch die spiegelverkehrte Schrift der Glasscheibe, daß der Vater auf der anderen Straßenseite stand und ihn erwartete. Sein Gesicht war ein einziges Strahlen.
Bastian riß die Tür auf, daß die Traube der Messingglöckchen wild zu bimmeln begann, und rannte auf dieses Strahlen zu.
Herr Koreander schloß die Tür behutsam und blickte den beiden nach.»Bastian Balthasar Bux«, brummte er, »wenn ich mich nicht irre, dann wirst du noch manch einem den Weg nach Phantasien zeigen, damit er uns das Wasser des Lebens bringt.«
Und Herr Koreander irrte sich nicht.
Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.
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Einleitung
1. Phantasien in Not