»Wenigstens einen. Einer genügt«, antwortete Yor.
»Aber wozu?« wollte Bastian wissen.
Der Bergmann wandte ihm sein Gesicht zu, das jetzt nur noch vom Schein des kleinen Feuers auf dem Herd erleuchtet wurde. Seine blinden Augen blickten wieder durch Bastian hindurch wie in weite Ferne.»Hör zu, Bastian Balthasar Bux«, sagte er, »ich rede nicht gern viel. Die Stille ist mir lieber. Aber dieses eine Mal sage ich es dir. Du suchst das Wasser des Lebens. Du möchtest lieben können, um zurückzufinden in deine Welt.
Lieben - das sagt sich so ! Das Wasser des Lebens wird dich fragen: Wen?
Lieben kann man nämlich nicht einfach so irgendwie und allgemein. Aber du hast alles vergessen außer deinem Namen. Und wenn du nicht antworten kannst, wirst du nicht trinken dürfen. Drum kann dir nur noch ein vergessener Traum helfen, den du wiederfindest, ein Bild, das dich zur Quelle führt. Aber dafür wirst du das Letzte vergessen müssen, was du noch hast: Dich selbst. Und das bedeutet harte und geduldige Arbeit. Bewahre meine Worte gut, denn ich werde sie nie wieder aussprechen.« Danach legte er sich auf seine Holzpritsche und schlief ein. Bastian blieb nichts anderes übrig, als mit dem harten, kalten Boden als Lagerstätte vorlieb zu nehmen.
Aber das machte ihm nichts aus.
Als er am nächsten Morgen mit klammen Gliedern erwachte, war Yor schon fort gegangen. Wahrscheinlich war er in die Grube Minroud eingefahren. Bastian nahm sich selber einen Teller der heißen Suppe, die ihn erwärmte, aber ihm nicht besonders mundete. In ihrer Salzigkeit erinnerte sie ein wenig an den Geschmack von Tränen und Schweiß. Dann ging er hinaus und wanderte durch den Schnee der weiten Ebene an den unzähligen Bildern vorüber. Eines nach dem anderen betrachtete er aufmerksam, denn nun wußte er ja, was für ihn davon abhing, aber er konnte keines entdecken, das ihn in irgendeiner Weise besonders anrührte.
Sie waren ihm alle ganz gleichgültig.
Gegen Abend sah er Yor in einem Förderkorb aus dem Schacht des Bergwerks aufsteigen. Auf dem Rücken trug er in einem Gestell einige verschieden große Tafeln des hauchdünnen Marienglases. Bastian begleitete ihn schweigend, während er noch einmal weit hinausging auf die Ebene und seine neuen Funde mit größter Behutsamkeit am Ende einer Reihe in den weichen Schnee bettete. Eines der Bilder stellte einen Mann dar, dessen
Brust ein Vogelkäfig war, in dem zwei Tauben saßen. Ein anderes zeigte eine steinerne Frau, die auf einer großen Schildkröte ritt. Ein sehr kleines Bild ließ nur einen Schmetterling erkennen, dessen Flügel Flecken in der Form von Buchstaben aufwiesen. Es waren noch einige andere Bilder da, aber keines sagte Bastian irgend etwas.
Als er mit dem Bergmann wieder in der Hütte saß, fragte er:
»Was geschieht mit den Bildern, wenn der Schnee schmilzt?«
»Hier ist immer Winter«, entgegnete Yor.
Das war ihre ganze Unterhaltung an diesem Abend.
Während der folgenden Tage suchte Bastian weiter unter den Bildern nach einem, das er wiedererkannte oder das ihm wenigstens etwas Besonderes bedeutete - aber vergebens. Abends saß er mit dem Bergmann in der Hütte, und da dieser schwieg, gewöhnte Bastian sich daran, ebenfalls zu schweigen. Auch die behutsame Art sich zu bewegen, um kein Geräusch zu machen, das die Bilder zerfallen lassen könnte, übernahm er nach und nach von Yor. »Jetzt habe ich alle Bilder gesehen«, sagte Bastian eines Abends, »für mich ist keines darunter.«
»Schlimm«, antwortete Yor.
»Was soll ich tun?« fragte Bastian, »soll ich auf die neuen Bilder warten, die du heraufbringst?«
Yor überlegte eine Weile, dann schüttelte er den Kopf.
»Ich an deiner Stelle«, flüsterte er, »würde selbst in die Grube Minroud einfahren und vor Ort graben.«
»Aber ich habe nicht deine Augen«, meinte Bastian, »ich kann in der Finsternis nicht sehen.« »Hat man dir denn kein Licht gegeben auf deiner weiten Reise?« fragte Yor und blickte wieder durch Bastian hindurch,
»keinen leuchtenden Stein, gar nichts, was dir jetzt helfen könnte?«
»Doch«, antwortete Bastian traurig, »aber ich habe Al’Tsahir zu etwas anderem gebraucht.« »Schlimm«, wiederholte Yor mit steinernem Gesicht.
»Was rätst du mir?« wollte Bastian wissen.
Der Bergmann schwieg wieder lange, ehe er erwiderte:
»Dann mußt du eben im Dunkeln arbeiten.«
Bastian überlief ein Schauder. Zwar hatte er noch immer alle Kraft und Furchtlosigkeit, die ihm AURYN verliehen hatte, doch bei der Vorstellung, so tief, tief dort unten im Inneren der Erde in völliger Finsternis zu liegen, wurde das Mark seiner Knochen zu Eis. Er sagte nichts mehr, und beide legten sich schlafen.
Am nächsten Morgen rüttelte ihn der Bergmann an der Schulter.Bastian richtete sich auf. »Iß deine Suppe und komm!« befahl Yor kurz angebunden.
Bastian tat es.
Er folgte dem Bergmann zu dem Schacht, bestieg mit ihm zusammen den Förderkorb, und dann fuhr er in die Grube Minroud ein. Tiefer und tiefer ging es hinunter. Längst war der letzte spärliche Lichtschein, der durch die Öffnung des Schachtes drang, geschwunden, und noch immer sank der Korb in der Finsternis abwärts. Dann endlich zeigte ein Ruck, daß sie auf dem Grunde angelangt waren. Sie stiegen aus.
Hier unten war es sehr viel wärmer als oben auf der winterlichen Ebene, und schon nach kurzem begann Bastian der Schweiß am ganzen Körper auszubrechen, während er sich bemühte, den Bergmann, der rasch vor ihm herging, nicht im Dunkeln zu verlieren. Es war ein verschlungener Weg durch zahllose Stollen, Gänge und bisweilen auch Hallen, wie aus einem leisen Echo ihrer Schritte zu erraten war. Bastian stieß sich mehrmals sehr schmerzhaft an Vorsprüngen und Stützbalken, doch Yor nahm keine Notiz davon.
An diesem ersten Tag und auch noch an einigen folgenden unterwies der Bergmann ihn schweigend, nur indem er Bastians Hände führte, in der Kunst, die feinen, hauchzarten Marienglasschichten voneinander zu trennen und behutsam abzuheben. Es gab dazu Werkzeuge, die sich wie hölzerne oder hörnerne Spachtel anfühlten, zu Gesicht bekam er sie niemals, denn sie blieben an der Arbeitsstelle liegen, wenn das Tagewerk getan war. Nach und nach erlernte er, sich dort unten in der völligen Dunkelheit zurechtzufinden. Er erkannte die Gänge und Stollen mit einem neuen Sinn, den er nicht hätte erklären können. Und eines Tages wies Yor ihn-wortlos, nur durch Berührung mit seinen Händen an, von nun an allein in einem niedrigen Stollen zu arbeiten, in den man nur kriechend eindringen konnte.
Bastian gehorchte. Es war sehr eng vor Ort, und über ihm lag die Bergeslast des Urgesteins. Eingerollt wie ein ungeborenes Kind im Leib seiner Mutter
lag er in den dunklen Tiefen der Grundfesten Phantásiens und schürfte geduldig nach einem vergessenen Traum, einem Bild, das ihn zum Wasser des Lebens führen konnte.
Da er nichts sehen konnte in der ewigen Nacht des Erdinneren, konnte er auch keine Auswahl und keine Entscheidung treffen. Er mußte darauf hoffen, daß der Zufall oder ein barmherziges Schicksal ihn irgendwann den rechten Fund machen lassen würde. Abend für Abend brachte er nach oben ans verlöschende Tageslicht, was er in den Tiefen der Grube Minroud abzulösen vermocht hatte. Und Abend für Abend war seine Arbeit umsonst gewesen. Doch Bastian klagte nicht und empörte sich nicht.
Er hatte alles Mitleid mit sich selbst verloren. Er war geduldig und still geworden. Obwohl seine Kräfte unerschöpflich waren, fühlte er sich oft sehr müde.
Wie lange diese harte Zeit dauerte, läßt sich nicht sagen, denn solche Arbeit läßt sich nicht nach Tagen oder Monaten bemessen. Jedenfalls geschah es eines Abends, daß er ein Bild mitbrachte, das ihn auf der Stelle so sehr aufwühlte, daß er sich zurückhalten mußte, keinen Uberraschungslaut auszustoßen und damit alles zu zerstören.
Auf der zarten Marienglastafel - sie war nicht sehr groß, hatte nur etwa das Format einer gewöhnlichen Buchseite - war sehr klar und deutlich ein Mann zu sehen, der einen weißen Kittel trug. In der einen Hand hielt er ein Gipsgebiß. Er stand da, und seine Haltung und der stille, bekümmerte Ausdruck in seinem Gesicht griffen Bastian ans Herz. Aber das, was ihn am meisten betroffen machte, war, daß der Mann in einen glasklaren Eisblock eingefroren war. Ganz und gar und von allen Seiten umgab ihn eine undurchdringliche, aber vollkommen durchsichtige Eisschicht.
Während Bastian das Bild betrachtete, das vor ihm im Schnee lag, erwachte in ihm Sehnsucht nach diesem Mann; den er nicht kannte. Es war ein Gefühl, das wie aus weiter Ferne herankam, wie eine Springflut im Meer, die man anfangs kaum wahrnimmt, bis sie näher und näher kommt und zuletzt zur gewaltigen, haushohen Woge wird, die alles mit sich reißt und hinwegschwemmt. Bastian ertrank fast darin und rang nach Luft. Das Herz tat ihm weh, es war nicht groß genug für eine so riesige Sehnsucht. In dieser Flutwelle ging alles unter, was er noch an Erinnerung an sich selbst besaß. Und er vergaß das Letzte, was er noch hatte : Seinen eigenen Namen.
Als er später zu Yor in die Hütte trat, schwieg er. Auch der Bergmann sagte nichts, aber er blickte lange nach ihm hin, wobei seine Augen wieder wie in weite Ferne zu schauen schienen, und dann ging zum ersten Mal in all dieser Zeit ein kurzes Lächeln über seine steingrauen Züge.
In dieser Nacht konnte der Junge, der nun keinen Namen mehr hatte, trotz aller Müdigkeit nicht einschlafen. Immerfort sah er das Bild vor sich.