Erst als sie am Küchentisch saßen und der Junge heiße Milch trank und Frühstückssemmeln aß, die der Vater ihm fürsorglich dick mit Butter und Honig strich, bemerkte Bastian, wie blaß und mager das Gesicht des Vaters war. Seine Augen waren gerötet und sein Kinn unrasiert. Aber sonst sah er noch genauso aus wie damals, als Bastian fortgegangen war. Und er sagte es ihm.
»Damals?« fragte der Vater verwundert, »was meinst du damit?«
»Wie lange war ich denn fort?«»Seit gestern, Bastian. Seit du in die Schule gegangen bist. Aber als du nicht zurückkamst, habe ich die Lehrer angerufen und erfahren, daß du dort gar nicht warst. Ich habe den ganzen Tag und die ganze Nacht nach dir gesucht, mein Junge. Ich hab’ die Polizei
losgeschickt, weil ich schon das Schlimmste befürchtete. O Gott, Bastian, was war nur los? Ich bin fast verrückt geworden aus Sorge um dich. Wo warst du denn nur?« Und nun begann Bastian zu erzählen, was er erlebt hatte. Er erzählte alles ganz ausführlich, und es dauerte viele Stunden.
Der Vater hörte ihm zu, wie er ihm noch nie zugehört hatte. Er verstand, was Bastian ihm erzählte.
Gegen Mittag unterbrach er einmal, aber nur, um die Polizei anzurufen und mitzuteilen, daß sein Sohn zurückgekehrt und alles in Ordnung sei.
Dann machte er für sie beide Mittagessen, und Bastian fuhr fort, zu erzählen. Der Abend brach schon herein, als Bastian mit seinem Bericht bei den Wassern des Lebens angekommen war und erzählte, wie er davon dem Vater hatte mitbringen wollen und es dann doch verschüttet hatte.
Es war schon fast dunkel in der Küche. Der Vater saß reglos. Bastian stand auf und knipste das Licht an. Und nun sah er etwas, was er noch nie zuvor gesehen hatte.
Er sah Tränen in den Augen seines Vaters.
Und er begriff, daß er ihm das Wasser des Lebens doch hatte bringen können. Der Vater zog ihn stumm auf seinen Schoß und drückte ihn an sich, und sie streichelten sich gegenseitig.
Nachdem sie lange so gesessen hatten, atmete der Vater tief auf, schaute Bastian ins Gesicht und begann zu lächeln. Es war das glücklichste Lächeln, das Bastian je bei ihm gesehen hatte. »Von jetzt an«, sagte der Vater mit einer ganz veränderten Stimme, »von jetzt an wird alles anders werden mit uns, meinst du nicht?«
Und Bastian nickte. Sein Herz war zu voll, als daß er hätte sprechen können. Am nächsten Morgen war der erste Schnee gefallen. Weich und rein lag er auf dem Fensterbrett vor Bastians Zimmer. Alle Geräusche der Straße klangen gedämpft herauf. »Weißt du was, Bastian?« sagte der Vater vergnügt beim Frühstück, »ich finde, wir beide haben wahrhaftig allen Grund zum Feiern. So ein Tag wie heute kommt nur einmal im Leben vor -
und bei manchen nie. Deshalb schlage ich vor, daß wir beide zusammen was ganz Großartiges unternehmen. Ich laß’ heute die Arbeit Arbeit sein, und du brauchst nicht in die Schule. Ich schreib dir eine Entschuldigung.
Was hältst du davon?«
»In die Schule?« fragte Bastian. »Gibt’s die denn noch? Als ich gestern durch die Klassenzimmer gelaufen bin, war keine Menschenseele da. Nicht mal der Hausmeister.« »Gestern?« antwortete der Vater, »aber gestern war doch der erste Advent, Bastian.« Der Junge rührte gedankenvoll in seinem Frühstückskakao. Dann meinte er leise: »Ich glaub’, es dauert noch ein bißchen, bis ich mich wieder richtig eingewöhnt hab’.« »Eben«, sagte der Vater und nickte, »und deshalb machen wir uns einen Festtag, wir beide.
Was würdest du am liebsten unternehmen? Wir könnten irgendeinen Ausflug machen, oder wollen wir in den Tierpark fahren? Mittags leisten wir uns das großartigste Menü, das die Welt je gesehen hat. Nachmittags könnten wir einkaufen gehen, alles was du willst. Und abends - sollen wir abends ins Theater?«
Bastians Augen glänzten. Dann sagte er entschlossen:
»Aber erst muß ich noch etwas anderes tun. Ich muß zu Herrn Koreander gehen und ihm sagen, daß ich das Buch gestohlen und verloren habe.«
Der Vater griff nach Bastians Hand.
»Hör mal, Bastian, wenn du willst, dann erledige ich das für dich.«
Bastian schüttelte den Kopf.
»Nein«, entschied er, »das ist meine Angelegenheit. Ich will das selbst machen. Und am besten tu ich’s gleich.«
Er stand auf und zog sich den Mantel an. Der Vater sagte nichts, aber der Blick, mit dem er seinen Sohn ansah, war überrascht und respektvoll. Nie zuvor hatte sein Junge sich so verhalten.
»Ich glaube«, meinte er schließlich, »auch bei mir wird es noch ein bißchen dauern, bis ich mich an die Veränderung gewöhnt habe.«»Ich komm’ bald zurück«, rief Bastian, schon auf dem Flur, »es wird bestimmt nicht lang dauern. Diesmal nicht.«
Als er vor Herrn Koreanders Buchhandlung stand, sank ihm doch noch einmal der Mut. Er blickte durch die Scheibe, auf der die geschnörkelten Buchstaben standen, ins Innere des Ladens. Herr Koreander hatte gerade einen Kunden, und Bastian wollte lieber warten, bis der gegangen war. Er begann vor dem Antiquariat auf und ab zu gehen. Es fing wieder zu schneien an.
Endlich verließ der Kunde den Laden.
»Jetzt!« befahl sich Bastian.
Er dachte daran, wie er Graógramán in der Farbenwüste Goab entgegengetreten war. Entschlossen drückte er auf die Klinke.
Hinter der Bücherwand, die den dämmerigen Raum am anderen Ende begrenzte, war ein Husten zu hören. Bastian näherte sich ihr, dann trat er, ein wenig blaß, aber ernst und gefaßt, vor Herrn Koreander hin, der wieder in seinem abgewetzten Ledersessel saß wie bei ihrer ersten Begegnung.
Bastian schwieg. Er hatte erwartet, daß Herr Koreander zornrot auf ihn losfahren würde, daß er ihn anschreien würde: »Dieb! Verbrecher!« oder irgend etwas Derartiges. Statt dessen zündete sich der alte Mann umständlich seine gebogene Pfeife an, wobei er den Jungen durch seine lächerliche kleine Brille aus halb zugekniffenen Augen musterte. Als die Pfeife endlich brannte, paffte er eine Weile angelegentlich und knurrte dann: »Na? Was gibt’s? Was willst du denn schon wieder hier?«
»Ich -«, begann Bastian stockend, »ich habe Ihnen ein Buch gestohlen.
Ich wollte es Ihnen zurückbringen, aber das geht nicht. Ich hab’s verloren oder vielmehr - jedenfalls ist es nicht mehr da.«
Herr Koreander hörte zu paffen auf und nahm die Pfeife aus dem Mund.
»Was für ein Buch?« fragte er.
»Es war das, in dem Sie gerade gelesen haben, als ich das letzte Mal hier war. Ich habe es mitgenommen. Sie sind nach hinten zum Telefonieren gegangen, und es lag da auf dem Sessel, und ich hab’s einfach mitgenommen.«
»Soso«, sagte Herr Koreander und räusperte sich. »Mir fehlt aber kein Buch. Was für ein Buch soll denn das gewesen sein?«
»Es heißt Die Unendliche Geschichte«, erklärte Bastian, »es ist von außen aus kupferfarbener Seide und schimmert so, wenn man es hin und her bewegt. Zwei Schlangen sind darauf, eine helle und eine dunkle, die sich gegenseitig in den Schwanz beißen. Innen ist es in zwei verschiedenen Farben gedruckt-mit ganz großen, schönen Anfangsbuchstaben.« »Ziemlich sonderbare Sache!« meinte Herr Koreander. »So ein Buch hab’ ich nie besessen. Also kannst du mir’s auch nicht gestohlen haben. Vielleicht hast du’s woanders geklaut.« »Bestimmt nicht!« versicherte Bastian. »Sie müssen sich doch erinnern. Es ist -«, er zögerte, aber dann sprach er es doch aus, »es ist ein Zauberbuch. Ich bin in die Unendliche Geschichte
hineingeraten beim Lesen, aber als ich dann wieder herauskam, war das Buch weg.« Herr Koreander beobachtete Bastian über seine Brille hinweg.
»Du machst dich doch nicht etwa lustig über mich, wie?«
»Nein«, antwortete Bastian fast bestürzt, »ganz bestimmt nicht. Es ist wahr, was ich sage. Sie müssen es doch wissen!«