Dann trat er durch die Tür hinaus. Draußen war es über Nacht Winter geworden. Der Schnee lag knietief, und von dem blühenden Rosenhag waren nur noch schwarze Dornenhecken übrig. Kein Wind regte sich. Es war bitterkalt und sehr still.
Bastian wollte zurück ins Haus, um seinen Mantel zu holen, aber Türen und Fenster waren verschwunden. Es hatte sich rundum geschlossen.
Fröstelnd machte er sich auf den Weg.
25. Das Bergwerk der Bilder
Yor, der Blinde Bergmann, stand vor seiner Hütte und lauschte in die Weite der Schneefläche hinaus, die sich nach allen Seiten erstreckte. Die Stille war so vollkommen, daß sein feines Ohr eines Wanderers Schritte im Schnee knirschen hörte, der noch sehr weit entfernt war. Doch die Schritte kamen auf die Hütte zu.
Yor war ein großer, alter Mann, doch war sein Gesicht bartlos und ohne Furchen. Alles an ihm, sein Kleid, sein Gesicht, sein Haar war grau wie Stein. Wie er so reglos dastand, sah er aus, als sei er aus einem großen Stück Lava gemeißelt. Nur seine blinden Augen waren dunkel, und in ihrer Tiefe war ein Glimmen wie von einer kleinen Flamme. Als Bastian - denn er war der Wanderer - herangekommen war, sagte er:
»Guten Tag. Ich habe mich verirrt. Ich suche nach der Quelle, wo das Wasser des Lebens entspringt. Kannst du mir helfen?«
Der Bergmann horchte auf die Stimme hin, die da sprach.
»Du hast dich nicht verirrt«, flüsterte er. »Aber sprich leise, sonst zerfallen meine Bilder.« Er winkte Bastian, und der trat hinter ihm in die Hütte.
Sie bestand aus einem einzigen kleinen Raum, der schmucklos und äußerst karg eingerichtet war. Ein Holztisch, zwei Stühle, eine Pritsche zum Schlafen und ein Brettergestell, in dem allerhand Nahrungsmittel und Geschirr aufbewahrt wurden. Auf einem offenen Herd brannte ein kleines Feuer, darüber hing ein Kessel, in dem eine Suppe dampfte.
Yor schöpfte zwei Teller voll für sich und Bastian, stellte sie auf den Tisch und forderte den Gast mit einer Handbewegung zum Essen auf.
Schweigend nahmen sie ihre Mahlzeit ein. Dann lehnte sich der Bergmann zurück, seine Augen blickten durch Bastian hindurch in eine weite Ferne, flüsternd fragte er:
»Wer bist du?«
»Ich heiße Bastian Balthasar Bux.«
»Ah, deinen Namen weißt du also noch.«
»Ja. Und wer bist du?«
»Ich bin Yor, den man den Blinden Bergmann nennt. Aber ich bin nur im Licht blind. Unter Tag in meinem Bergwerk, wo vollkommene Finsternis herrscht, kann ich schauen.« »Was ist das für ein Bergwerk?«»Es heißt die Grube Minroud. Es ist das Bergwerk der Bilder.«
»Das Bergwerk der Bilder?« wiederholte Bastian verwundert, »so etwas habe ich noch nie gehört.«
Yor schien immerfort auf etwas zu lauschen.
»Und doch«, raunte er, »ist es gerade für solche wie dich da. Für Menschen, die den Weg zum Wasser des Lebens nicht finden können.«
»Was für Bilder sind es denn?« wollte Bastian wissen.
Yor schloß die Augen und schwieg eine Weile. Bastian wußte nicht, ob er seine Frage wiederholen sollte. Dann hörte er den Bergmann flüstern :
»Nichts geht verloren in der Welt. Hast du jemals etwas geträumt und beim Aufwachen nicht mehr gewußt, was es war?«
»Ja«, antwortete Bastian, »oft.«
Yor nickte gedankenvoll. Dann erhob er sich und machte Bastian ein Zeichen, ihm zu folgen. Ehe sie aus der Hütte traten, faßte er ihn mit hartem Griff an der Schulter und raunte ihm ins Ohr:
»Aber kein Wort, kein Laut, verstanden? Was du sehen wirst, ist meine Arbeit von vielen Jahren. Jedes Geräusch kann sie zerstören. Darum schweige und tritt leise auf!« Bastian nickte, und sie verließen die Hütte.
Hinter dieser war ein hölzerner Förderturm errichtet, unter dem ein Schacht senkrecht in die Erdentiefe hinunterführte. Sie gingen daran vorbei in die Weite der Schneefläche hinaus. Und nun sah Bastian die Bilder, die hier lagen wie in weiße Seide eingebettet, als wären es kostbare Juwelen.
Es waren hauchdünne Tafeln aus einer Art Marienglas, durchsichtig und farbig und in allen Größen und Formen, rechteckige und runde, bruchstückartige und unversehrte, manche groß wie Kirchenfenster, andere klein wie Miniaturen auf einer Dose. Sie lagen, ungefähr nach Größe und Form geordnet, in Reihen, die sich bis zum Horizont der weißen Ebene erstreckten.
Was diese Bilder darstellten war rätselhaft. Da gab es vermummte Gestalten, die in einem großen Vogelnest dahinzuschweben schienen, oder Esel, die Richtertalare trugen, es gab Uhren, die wie weicher Käse zerflossen, oder Gliederpuppen, die auf grell beleuchteten, menschenleeren Plätzen standen. Da waren Gesichter und Köpfe, die ganz aus Tieren zusammengesetzt waren, und andere, die eine Landschaft bildeten. Aber es gab auch ganz gewöhnliche Bilder, Männer, die ein Kornfeld abmähten, und Frauen, die auf einem Balkon saßen. Es gab Gebirgsdörfer und Meereslandschaften, Kriegsszenen und Zirkusaufführungen, Straßen und Zimmer und immer wieder Gesichter, alte und junge, weise und einfältige, Narren und Könige, finstere und heitere. Da waren grausige Bilder, Hinrichtungen und Totentänze, und lustige Bilder von jungen Damen auf einem Walroß, oder von einer Nase, die herumspazierte und von allen Vorübergehenden gegrüßt wurde. Je länger sie an den Bildern entlangwanderten, desto weniger konnte Bastian ergründen, was es mit ihnen auf sich hatte. Nur eines war ihm klar: Es gab einfach alles auf ihnen zu sehen, wenn auch meistens in eigentümlicher Zusammenstellung.
Nachdem er viele Stunden neben Yor an den Reihen der Tafeln vorübergegangen war, senkte sich die Dämmerung über die weite Schneefläche. Sie kehrten zur Hütte zurück. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, fragte Yor mit leiser Stimme:
»War eines dabei, das du erkannt hast?«
»Nein«, erwiderte Bastian.
Der Bergmann wiegte bedenkenvoll den Kopf.
»Warum?« wollte Bastian wissen, »was sind das für Bilder?«
»Es sind die vergessenen Träume aus der Menschenwelt«, erklärte Yor.
»Ein Traum kann nicht zu nichts werden, wenn er einmal geträumt wurde.
Aber wenn der Mensch, der ihn geträumt hat, ihn nicht behält -wo bleibt er dann? Hier bei uns in Phantasien, dort unten in der Tiefe unserer Erde. Dort lagern sich die vergessenen Träume ab in feinen, feinen Schichten, eine über der anderen. Je tiefer man hinuntergräbt, desto dichter liegen sie. Ganz Phantasien steht auf Grundfesten aus vergessenen Träumen.«
»Sind auch meine dabei?« fragte Bastian mit großen Augen.
Yor nickte nur.
»Und du meinst, ich muß sie finden?« forschte Bastian weiter.