»Wir hatten beide recht«, sagte Atréju, »und haben uns beide geirrt. Aber jetzt hat Bastian AURYN freiwillig abgelegt.«
Fuchur horchte und nickte dann.
»Ja«, sagte er, »jetzt lassen sie es gelten. Dieser Ort ist AURYN. Wir sind willkommen, sagen sie.«
Atréju schaute zu der riesigen Goldkuppel auf.
»Jeder von uns«, flüsterte er, »hat es um den Hals getragen - sogar du, Fuchur, für eine kleine Weile.«
Der Glücksdrache machte ihm ein Zeichen, still zu sein, und horchte wieder auf den Gesang der Wasser.
Dann übersetzte er:
»AURYN ist die Tür, die Bastian suchte. Er hat sie von Anfang an mit sich getragen. Aber nichts aus Phantasien - sagen sie - wird von den Schlangen über die Schwelle gelassen. Darum muß Bastian alles hergeben, was ihm die Kindliche Kaiserin geschenkt hat. Sonst kann er nicht vom Wasser des Lebens trinken.«
»Aber wir sind doch in ihrem Zeichen«, rief Atréju, »ist sie selbst denn nicht hier?« »Sie sagen, hier endet Mondenkinds Macht. Und sie als einzige kann diesen Ort niemals betreten. Sie kann nicht ins Innere des Glanzes, weil sie sich selbst nicht ablegen kann.« Atréju schwieg verwirrt.
»Sie fragen jetzt«, fuhr Fuchur fort, »ob Bastian bereit ist?«
»Ja«, sagte Atréju laut, »er ist bereit.«
In diesem Augenblick begann der riesenhafte schwarze Schlangenkopf sich sehr langsam zu heben, ohne dabei das Ende der weißen Schlange, das er im Rachen hielt, loszulassen. Die gewaltigen Körper bogen sich auf, bis sie ein hohes Tor bildeten, dessen eine Hälfte schwarz und dessen andere weiß war.
Atréju führte Bastian an der Hand durch dieses schauerliche Tor auf den Springquell zu, der nun in seiner ganzen Größe und Herrlichkeit vor ihnen lag. Fuchur folgte den beiden. Und während sie darauf zugingen,fiel mit jedem Schritt von Bastian eine der wunderbaren phantásischen Gaben nach der anderen ab. Aus dem schönen, starken und furchtlosen Helden wurde wieder der kleine, dicke und schüchterne Junge. Sogar seine Kleidung, die in Yors Minroud fast schon zu Lumpen zerfallen war, verschwand und löste sich vollends in Nichts auf. So stand er zuletzt nackt und bloß vor dem großen Goldrund, in dessen Mitte die Wasser des Lebens aufsprangen, hoch wie ein kristallener Baum.
In diesem letzten Augenblick, da er keine der phantåsischen Gaben mehr besaß, aber die Erinnerung an seine Welt und sich selbst noch nicht wiederbekommen hatte, durchlebte er einen Zustand völliger Unsicherheit, in dem er nicht mehr wußte, in welche Welt er gehörte und ob es ihn selbst in Wirklichkeit gab.
Aber dann sprang er einfach in das kristallklare Wasser hinein, wälzte sich, prustete, spritzte und ließ sich den funkelnden Tropfenregen in den Mund laufen. Er trank und trank, bis sein Durst gestillt war. Und Freude erfüllte ihn von Kopf bis Fuß, Freude zu leben und Freude, er selbst zu sein.
Denn jetzt wußte er wieder, wer er war und wohin er gehörte. Er war neu geboren. Und das schönste war, daß er jetzt genau der sein wollte, der er war. Wenn er sich unter allen Möglichkeiten eine hätte aussuchen dürfen, er hätte keine andere gewählt. Denn jetzt wußte er : Es gab in der Welt tausend und tausend Formen der Freude, aber im Grunde waren sie alle eine einzige, die Freude, lieben zu können. Beides war ein und dasselbe. Auch späterhin, als Bastian längst wieder in seine Welt zurückgekehrt war, als er erwachsen und schließlich alt wurde, verließ ihn diese Freude nie mehr ganz. Auch in den schwersten Zeiten seines Lebens blieb ihm eine Herzensfrohheit, die ihn lächeln machte und die andere Menschen tröstete.
»Atréju!« schrie er dem Freund zu, der mit Fuchur am Rande des großen Goldrunds stand, »komm doch auch! Komm! Trink! Es ist wunderbar!«
Atréju schüttelte lachend den Kopf.
»Nein«, rief er zurück, »diesmal sind wir nur zu deiner Begleitung hier.«
»Diesmal?« fragte Bastian, »was meinst du damit?«
Atréju wechselte einen Blick mit Fuchur, dann sagte er:
»Wir beide waren schon einmal hier. Wir haben den Ort nicht gleich wiedererkannt, weil wir damals schlafend hergebracht wurden und schlafend wieder fort. Aber jetzt haben wir uns erinnert.«
Bastian stieg aus dem Wasser.
»Ich weiß jetzt wieder, wer ich bin«, sagte er strahlend.
»Ja«, meinte Atréju und nickte, »jetzt erkenne ich dich auch wieder. Jetzt siehst du so aus wie damals, als ich dich im Zauber Spiegel Tor gesehen habe.«
Bastian schaute zu dem schäumenden, funkelnden Wasser empor.
»Ich möchte es meinem Vater bringen«, rief er in das Tosen, »aber wie?«
»Ich glaube nicht, daß es möglich ist«, antwortete Atréju, »man kann doch aus Phantasien nichts über die Schwelle bringen.«
»Bastian schon!« ließ sich Fuchur vernehmen, dessen Stimme jetzt wieder ihren vollen Bronzeklang hatte, »er wird es können!«
»Du bist eben ein Glücksdrache!« sagte Bastian.
Fuchur machte ihm ein Zeichen, still zu sein und hörte dem tausendstimmigen Rauschen zu. Dann erklärte er:
»Die Wasser sagen, du mußt dich jetzt auf den Weg machen und wir auch.« »Wo ist denn mein Weg?« fragte Bastian.
»Zum anderen Tor hinaus«, übersetzte Fuchur, »dort wo der weiße Schlangenkopf liegt.« »Gut«, sagte Bastian, »aber wie komm’ ich hinaus?
Der weiße Kopf regt sich nicht.« In der Tat lag der Kopf der weißen Schlange bewegungslos. Sie hielt das Ende der schwarzen Schlange im Rachen, und ihr Riesenauge starrte Bastian an.
»Die Wasser fragen dich«, verkündete Fuchur, »ob du alle Geschichten, die du in Phantasien begonnen hast, auch zu Ende geführt hast.«
»Nein«, sagte Bastian, »eigentlich keine.«
Fuchur horchte eine Weile. Sein Gesicht nahm einen bestürzten Ausdruck an. »Sie sagen, dann wird dich die weiße Schlange nicht durchlassen. Du mußt zurück nach Phantasien und alles zu Ende bringen.«»Alle Geschichten?« stammelte Bastian, »dann kann ich nie mehr zurück. Dann war alles umsonst.«
Fuchur lauschte gespannt.
»Was sagen sie?« wollte Bastian wissen.
»Still!« sagte Fuchur.