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Bastian erschrak.

»Dame Aiuóla - für alle meine Wünsche, die sich durch AURYN erfüllt haben, habe ich etwas vergessen. Ist das hier auch so?«

Sie nickte langsam.

»Aber ich merke davon gar nichts!«

»Hast du es denn die anderen Male gemerkt? Was du vergessen hast, das kannst du nicht mehr wissen.«

»Und was vergesse ich denn jetzt?«

»Ich will es dir sagen, wenn der rechte Augenblick da ist. Sonst würdest du es festhalten.« »Muß es denn so sein, daß ich alles verliere?«

»Nichts geht verloren«, sagte sie, »alles verwandelt sich.«

»Aber dann«, sagte Bastian beunruhigt, »müßte ich mich vielleicht beeilen. Ich dürfte nicht hier bleiben.«

Sie streichelte sein Haar.

»Mach dir keine Sorgen. Es dauert, solang es dauert. Wenn dein letzter Wunsch erwacht, dann wirst du es wissen - und ich auch.«

Von diesem Tage an begann sich tatsächlich etwas zu ändern, obgleich Bastian selbst noch nichts davon bemerkte. Die verwandelnde Kraft des Änderhauses tat ihre Wirkung. Doch wie alle wahren Veränderungen ging sie leise und langsam vor sich wie das Wachstum einer Pflanze.

Die Tage im Änderhaus verstrichen, und noch immer dauerte der Sommer an. Bastian genoß es auch weiterhin, sich wie ein Kind von Dame Aiuóla verwöhnen zu lassen. Auch ihre Früchte schmeckten ihm noch immer so köstlich wie zu Anfang, doch nach und nach war sein Heißhunger gestillt. Er aß weniger davon. Und sie bemerkte es, ohne jedoch ein Wort darüber zu verlieren. Auch von ihrer Fürsorge und Zärtlichkeit fühlte er sich gesättigt. Und in demselben Maß, wie sein Bedürfnis danach abnahm,

erwachte in ihm eine Sehnsucht ganz anderer Art, ein Verlangen, wie er es bisher noch nie empfunden hatte und das sich in jeder Hinsicht von all seinen bisherigen Wünschen unterschied: DieSehnsucht, selbst lieben zu können. Mit Verwunderung und Trauer wurde er inné, daß er es nicht konnte. Doch der Wunsch danach wurde stärker und stärker.

Und eines Abends, als sie wieder beisammensaßen, sprach er darüber mit Dame Aiuóla. Nachdem sie ihm zugehört hatte, schwieg sie lange. Ihr Blick ruhte mit einem Ausdruck auf Bastian, den er nicht verstand.

»Jetzt hast du deinen letzten Wunsch gefunden«, sagte sie, »dein Wahrer Wille ist es, zu lieben.«

»Aber warum kann ich es nicht, Dame Aiuóla?«

»Das kannst du erst, wenn du vom Wasser des Lebens getrunken hast«, antwortete sie, »und du kannst nicht in deine Welt zurück, ohne anderen davon mitzubringen.«

Bastian schwieg verwirrt. »Aber du?« fragte er, »hast du denn nicht auch schon davon getrunken?«

»Nein«, sagte Dame Aiuóla, »bei mir ist das etwas anderes. Ich brauche nur jemand, dem ich meinen Überfluß schenken kann.«

»War das denn nicht Liebe?«

Dame Aiuóla überlegte eine Weile, dann erwiderte sie:

»Es war, was du dir gewünscht hast.«

»Können phantásische Wesen auch nicht lieben - wie ich?« fragte er bang.

»Es heißt«, entgegnete sie leise, »daß es einige wenige Geschöpfe Phantásiens gibt, die vom Wasser des Lebens trinken durften. Aber niemand weiß, wer sie sind. Und es gibt eine Verheißung, von der wir nur selten sprechen, daß einmal in ferner Zukunft eine Zeit kommen wird, wo die Menschen die Liebe auch nach Phantasien bringen werden. Dann werden beide Welten nur noch eine sein. Doch was das bedeutet, weiß ich nicht.«

»Dame Aiuóla«, fragte Bastian ebenso leise, »du hast versprochen, wenn der rechte Augenblick gekommen ist, willst du mir sagen, was ich vergessen mußte, um meinen letzten Wunsch zu finden. Ist jetzt der rechte Augenblick gekommen?«

Sie nickte.

»Du mußtest Vater und Mutter vergessen. Jetzt hast du nichts mehr als deinen Namen.« Bastian dachte nach.

»Vater und Mutter?« sagte er langsam. Aber die Worte bedeuteten ihm nichts mehr. Er konnte sich nicht erinnern.

»Was soll ich jetzt tun?« fragte er.

»Du mußt mich verlassen«, antwortete sie, »deine Zeit im Änderhaus ist vorüber.« »Und wo soll ich hin?«

»Dein letzter Wunsch wird dich führen. Verliere ihn nicht!«

»Soll ich jetzt gleich gehen?«

»Nein, es ist spät. Morgen früh bei Tagesanbruch. Du hast noch eine Nacht im Änderhaus. Jetzt wollen wir Schlafengehen.«

Bastian stand auf und trat zu ihr. Erst jetzt, als er ihr nah war, bemerkte er in der Dunkelheit, daß all ihre Blüten verwelkt waren.

»Kümmere dich nicht darum!« sagte sie, »auch morgen früh sollst du dich nicht um mich kümmern. Geh deinen Weg! Es ist alles gut und richtig so. Gute Nacht, mein schöner Bub.« »Gute Nacht, Dame Aiuóla«, murmelte Bastian.

Dann ging er in sein Zimmer hinauf.

Als er am nächsten Tag herunterkam, sah er, daß Dame Aiuóla noch immer auf demselben Platz saß. Alle Blätter, Blüten und Früchte waren von ihr abgefallen. Sie hatte die Augen geschlossen und sah aus wie ein schwarzer, abgestorbener Baum. Lange stand Bastian vor ihr und schaute sie an. Dann sprang plötzlich eine Tür auf, die ins Freie führte.

Ehe er hinausging, wandte er sich noch einmal zurück und sagte, ohne zu wissen, ob er Dame Aiuóla oder das Haus meinte oder alle beide:

»Danke, Danke für alles!«

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