Danach sah die Frau ihren Gast lange lächelnd an. Er schluckte ein paarmal und sagte dann leise:
»So heiße ich.«
»Na, siehst du!« meinte die Frau und schien kein bißchen überrascht.
Die Knospen auf ihrem Hut und an ihrem Kleid öffneten sich plötzlich alle gleichzeitig und blühten auf.
»Aber hundert Jahre«, wandte Bastian unsicher ein, »bin ich doch noch gar nicht in Phantasien.«
»Oh, in Wirklichkeit warten wir schon viel länger auf dich«, antwortete die Dame, »schon meine Großmutter und die Großmutter meiner Großmutter hat auf dich gewartet. Siehst du, jetzt wird dir eine Geschichte erzählt, die neu ist und doch von uralter Vergangenheit berichtet.«
Bastian erinnerte sich an Graógramáns Worte, damals war er noch am Anfang seiner Reise gestanden. Jetzt schien es ihm wirklich, als wäre es hundert Jahre her.
»Übrigens habe ich dir bis jetzt noch nicht gesagt, wie ich heiße. Ich bin Dame Aiuóla.« Bastian wiederholte den Namen und hatte ein bißchen Mühe, bis es ihm gelang, ihn richtig auszusprechen. Dann griff er nach einer neuen Frucht. Er biß hinein, und es kam ihm so vor, als ob immer die, die er gerade aß, von allen die köstlichste war. Ein wenig besorgt sah er, daß er schon die vorletzte aß.
»Möchtest du noch mehr?« fragte Dame Aiuóla, die seinen Blick bemerkt hatte. Bastian nickte. Da griff sie auf ihren Hut und ihr Kleid und pflückte Früchte ab, bis die Schale wieder gefüllt war.
»Wachsen die Früchte denn auf deinem Hut?« erkundigte sich Bastian verblüfft. »Wieso Hut?« Dame Aiuóla blickte ihn verständnislos an. Dann brach sie in lautes, herzliches Lachen aus. »Ach, du meinst wohl, das ist mein Hut, was ich da auf dem Kopf habe? Aber nein, mein schöner Bub, das wächst doch alles aus mir heraus. So wie du Haare hast. Daran kannst du sehen, wie ich mich freue, daß du endlich da bist, darum blühe ich auf.
Wenn ich traurig wäre, würde alles verwelken. Aber bitte, vergiß nicht zu essen!«
»Ich weiß nicht«, meinte Bastian verlegen, »man kann doch nicht etwas essen, was aus jemand herauskommt.«
»Warum nicht?« fragte Dame Aiuóla, »kleine Kinder bekommen doch auch die Milch von ihrer Mutter. Das ist doch wunderschön.«
»Schon«, wandte Bastian ein und errötete ein wenig, »aber doch nur, solange sie noch ganz klein sind.«
»Dann«, sagte Dame Aiuóla strahlend, »wirst du eben jetzt wieder ganz klein werden, mein schöner Bub.«
Bastian griff zu und biß in eine neue Frucht, und Dame Aiuóla freute sich darüber und blühte noch prächtiger auf.Nach einer kleinen Stille meinte sie:
»Mir scheint, es möchte gern, daß wir ins Nebenzimmer umziehen.
Wahrscheinlich hat es etwas für dich vorbereitet.«
»Wer?« fragte Bastian und schaute sich um.
»Das Änderhaus«, erklärte Dame Aiuóla mit Selbstverständlichkeit.
In der Tat war etwas Merkwürdiges geschehen. Die Stube hatte sich verwandelt, ohne daß Bastian etwas davon bemerkt hatte. Die Zimmerdecke war hoch hinaufgerutscht, während die Wände von drei Seiten ziemlich nahe an den Tisch herangerückt waren. Auf der vierten Seite war noch Platz, dort befand sich eine Tür, die jetzt offenstand.
Dame Aiuóla erhob sich - jetzt war zu sehen, wie groß sie war - und schlug vor: »Gehen wir! Es hat seinen Dickkopf. Es nützt nichts, ihm zu widerstreben, wenn es sich eine Überraschung ausgedacht hat. Lassen wir ihm seinen Willen! Es meint’s außerdem meistens gut.«
Sie ging durch die Tür nach nebenan. Bastian folgte ihr, nahm aber vorsorglich die Schale mit den Früchten mit.
Der Raum war groß wie ein Saal, und doch war es ein Speisezimmer, das Bastian irgendwie bekannt vorkam. Befremdlich war nur, daß alle Möbel, die hier standen, auch der Tisch und die Stühle, riesenhaft waren, viel zu groß, als daß Bastian hätte hinaufkommen können. »Schau einer an!« sagte Dame Aiuóla belustigt, »dem Änderhaus fällt doch immer wieder was Neues ein. Jetzt hat es für dich ein Zimmer gemacht, wie es einem kleinen Kind erscheinen muß.«
»Wieso?« fragte Bastian, »war der Saal denn vorher nicht da?«
»Natürlich nicht«, antwortete sie, »weißt du, das Änderhaus ist sehr lebendig. Es beteiligt sich gern auf seine Art an unserer Unterhaltung. Ich glaube, es will dir damit etwas sagen.« Dann setzte sie sich auf einen Stuhl an den Tisch, aber Bastian versuchte vergebens auf den anderen Stuhl hinaufzukommen. Dame Aiuóla mußte ihm helfen und ihn hinaufheben,
und auch dann noch reichte er gerade mit der Nase über die Tischplatte. Er war recht froh, daß er die Schale mit den Früchten mit genommen hatte und behielt sie auf dem Schoß. Wenn sie auf dem Tisch gestanden hätte, wäre sie für ihn unerreichbar gewesen.
»Mußt du oft so umziehen?« fragte er.
»Oft nicht«, antwortete Dame Aiuóla, »höchstens drei-bis viermal pro Tag. Manchmal macht das Änderhaus auch einfach bloß Spaß mit einem, dann sind auf einmal alle Zimmer umgekehrt, der Boden oben und die Decke unten oder dergleichen. Aber das ist reiner Übermut, und es wird auch gleich wieder vernünftig, wenn ich ihm ins Gewissen rede. Im Grunde ist es ein sehr liebes Haus, und ich fühle mich wirklich behaglich darin. Wir haben viel miteinander zu lachen.«
»Aber ist das denn nicht gefährlich?« erkundigte sich Bastian, »ich meine, nachts zum Beispiel, wenn man schläft und das Zimmer wird immer kleiner?«
»Wo denkst du hin, schöner Bub?« rief Dame Aiuóla fast entrüstet, »es mag mich doch gern, und dich mag es auch. Es freut sich über dich.«
»Und wenn es jemand nicht mag?«
»Keine Ahnung«, antwortete sie, »was du aber auch für Fragen stellst!
Bis jetzt war noch niemand hier außer mir und dir.«
»Ach so!« sagte Bastian, »dann bin ich der erste Gast?«
»Natürlich.«
Bastian blickte sich in dem riesigen Raum um.
»Man sollte gar nicht glauben, daß dieses Zimmer überhaupt in das Haus hineinpaßt. Von außen sah es nicht so groß aus.«
»Das Änderhaus«, erklärte Dame Aiuóla, »ist von innen größer als von außen.« Inzwischen war die Abenddämmerung hereingebrochen, und es wurde nach und nach dunkler in dem Zimmer. Bastian lehnte sich in seinen großen Stuhl zurück und stützte den Kopf auf. Er fühlte sich auf eine wunderbare Art schläfrig.
»Warum«, fragte er, »hast du so lang auf mich gewartet, Dame Aiuóla?«