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Von einem Donnerschlag geweckt, fuhr Bastian in die Höhe. Tiefste Finsternis umgab ihn, doch all die Wolkenmassen, die sich seit Tagen angesammelt hatten, schienen in wilden Aufruhr geraten zu sein.

Ununterbrochen zuckten Blitze, die Donner polterten und grollten, daß die Erde bebte, der Sturm heulte über die Heide hin und bog die Wacholderbäume zu Boden. Regengüsse wehten wie graue Vorhänge über die Landschaft.

Bastian erhob sich. In seinen schwarzen Mantel gewickelt stand er da, das Wasser lief ihm übers Gesicht.

Ein Blitzstrahl fuhr direkt vor ihm in einen Baum und spaltete den knorrigen Stamm, die Zweige gingen sofort in Flammen auf, der Wind fegte einen Funkenregen über die nächtliche Heide hin, den die Wassergüsse sofort erstickten.

Bastian war von dem fürchterlichen Krachen auf die Knie geworfen worden. Nun begann er mit beiden Händen die Erde aufzugraben. Als das Loch tief genug war, band er das Schwert Sikánda von seiner Hüfte und legte es hinein.

»Sikánda!« sagte er leise in das Sturmgeheul, »ich nehme für immer Abschied von dir. Nie wieder soll Unheil kommen durch einen, der dich gegen einen Freund zieht. Und niemand soll dich hier finden, ehe vergessen ist, was durch dich und mich geschah.«

Dann grub er das Loch wieder zu und legte zuletzt Moos und Zweige über die Stelle, damit niemand sie entdecken sollte.

Und dort liegt Sikánda noch heute. Denn erst in einer fernen Zukunft wird einer kommen, der es ohne Gefahr berühren darf-doch das ist eine andere Geschichte und wird ein andermal erzählt werden.

Bastian ging durch die Dunkelheit fort.

Das Gewitter ließ gegen Morgen nach, der Wind legte sich, der Regen tropfte von den Bäumen, und es wurde still.

Mit dieser Nacht begann für Bastian eine lange, einsame Wanderung.

Zurück zu den Wegund Kampfgenossen, zurück zu Xayíde wollte er nicht mehr. Er wollte jetzt den Rückweg in die Menschenwelt suchen -aber er wußte nicht wie und wo. Gab es denn irgendwo ein Tor, eine Furt, eine Grenzscheide, die ihn hinüberführen konnte?

Er mußte es sich wünschen, das wußte er. Aber darüber hatte er keine Gewalt. Er fühlte sich wie ein Taucher, der auf dem Meeresgrund nach einem versunkenen Schiff sucht, der aber immer wieder nach oben getrieben wird, ehe er noch etwas finden konnte.

Er wußte auch, daß ihm nur noch wenige Wünsche blieben, deshalb achtete er sorgfältig darauf, keinen Gebrauch von AURYN zu machen. Die wenigen Erinnerungen, die ihm noch verblieben waren, durfte er nur opfern, wenn er dadurch seiner Welt näher kam, und nur dann, wenn es unbedingt nötig war.

Aber Wünsche kann man nach Belieben weder hervorrufen noch unterdrücken. Sie kommen aus tieferen Tiefen in uns als alle Absichten, mögen diese nun gut oder schlecht sein. Une’ sie entstehen unbemerkt.

Ohne daß Bastian dessen gewahr wurde, bildete sich in ihm ein neuer Wunsch und nahm nach und nach deutliche Gestalt an.

Die Einsamkeit, in der er schon seit vielen Tagen und Nächten dahin-wanderte, bewirkte, daß er sich wünschte, zu irgendeiner Gemeinschaft zu gehören, aufgenommen zu sein in eine Gruppe, nicht als Herr oder Sieger oder überhaupt als ein Besonderer, sondern nur als einer unter anderen, vielleicht als der Kleinste oder am wenigsten Wichtige, aber als einer, der selbstverständlich dazugehört und an der Gemeinschaft teilhat.

Da geschah es eines Tages, daß er an einen Meeresstrand gelangte.

Jedenfalls glaubte er das anfangs. Es war eine steile Felsenküste, auf der er stand, und vor seinen Augen dehnte sich ein Meer aus weißen, erstarrten Wogen. Erst später bemerkte er, daß diese Wogen nicht wirklich reglos waren, sondern sich sehr langsam bewegten, daß es Strömungen gab und Wirbel, die sich drehten, so unmerklich wie die Zeiger einer Uhr.

Es war das Nebelmeer!

Bastian wanderte an der Steilküste entlang. Die Luft war warm und ein wenig feucht, kein Windhauch regte sich. Es war noch früh am Vormittag,

und die Sonne schien auf die schneeweiße Nebelfläche, die sich bis zum Horizont dehnte.

Bastian ging einige Stunden und gelangte gegen Mittag zu einer kleinen Stadt, die auf hohen Pfählen ein Stück vom Festland entfernt draußen im Nebelmeer stand. Eine lange, freischwebende Hängebrücke verband sie mit einem vorspringenden Teil der Felsenküste. Sie schwankte leise, als Bastian sie nun überschritt.

Die Häuser waren verhältnismäßig klein, die Türen, die Fenster, die Treppen, alles schien wie für Kinder gemacht. Und m der Tat, die Leute, die in den Straßen umhergingen, hatten alle die Größe von Kindern, obgleich es sich um ausgewachsene Männer mit Bärten und Frauen mit hochgesteckten Frisuren handelte. Auffallend war, daß man sie kaum unterscheiden konnte, so sehr ähnelten sie sich untereinander. Ihre Gesichter waren dunkelbraun wie nasse Erde und sahen sehr sanft und still aus. Wenn sie Bastian erblickten, nickten sie ihm zu, aber keiner redete ihn an. Überhaupt schienen sie sehr schweigsam zu sein, nur selten war ein Wort oder ein Zuruf auf den Straßen und Gassen zu vernehmen, trotz des regen Treibens, das dort herrschte. Auch sah man niemals einen allein, immer gingen sie in kleinen oder größeren Gruppen umher, untergehakt oder sich an den Händen haltend.

Als Bastian die Häuser genauer besah, stellte er fest, daß sie alle aus einer Art von Korbgeflecht bestanden, manche aus gröberem, andere aus feinerem, ja sogar der Boden der Straßen war von derselben Beschaffenheit. Und schließlich bemerkte er auch, daß sogar die Kleidung der Leute, Hosen, Röcke, Jacken und Hüte aus dem nämlichen Geflecht gemacht waren, in diesem Fall allerdings aus sehr feinem und kunstvoll gewobenem. Offenbar machte man hier schlechthin alles aus dem gleichen Material. Da und dort konnte Bastian einen Blick in verschiedene Werkstätten von Handwerkern werfen, und alle waren mit dem Herstellen geflochtener Dinge beschäftigt, sie machten Schuhe, Krüge, Lampen, Tassen, Regenschirme - alles aus diesem Flechtwerk. Und niemals arbeitete einer allein, denn alle diese Dinge konnten nur durch die Zusammenarbeit mehrerer hergestellt werden. Es war ein Vergnügen, zuzusehen, wie geschickt sie einander in die Hände arbeiteten und einer immer die Tätigkeit des anderen ergänzte. Dabei sangen sie meist eine einfache Melodie ohne Worte.

Die Stadt war nicht sehr groß, und so hatte Bastian bald ihren Rand erreicht. Und der Anblick, der sich ihm hier bot, zeigte unverkennbar, daß es sich um eine Seefahrerstadt handelte, denn hier gab es Hunderte von Schiffen j eder Form und Größe. Doch war es eine ziemlich ungewöhnliche Seefahrerstadt, denn alle diese Schiffe waren an riesigen Angelruten aufgehängt und schwebten, leise schwankend, eines neben dem anderen, über der Tiefe, in der die weißen Nebelmassen hinzogen. Übrigens schienen auch diese Schiffe allesamt aus Korbgeflecht zu bestehen und hatten weder Segel noch Masten, noch Ruder oder Steuer. Bastian hatte sich über ein Geländer gebeugt und blickte auf das Nebelmeer hinunter. Wie hoch die Pfähle waren, auf denen die Stadt ruhte, konnte er aus den Schatten sehen, die sie im Schein der Sonne auf die weiße Fläche dort unten warfen.

»Nachts«, hörte er eine Stimme neben sich sagen, »steigen die Nebel bis auf die Höhe der Stadt. Dann können wir in See stechen. Tags zehrt die Sonne die Nebel auf und der Meeresspiegel sinkt. Das wolltest du doch wissen, Fremder, nicht wahr?«

Neben Bastian standen drei Männer an das Geländer gelehnt, die ihn sanft und freundlich anblickten. Er kam mit ihnen ins Gespräch und erfuhr, daß diese Stadt den Namen Yskál trug oder auch Korbstadt genannt wurde.

Ihre Einwohner hießen Yskálnari. Das Wort bedeutete etwa »die Gemeinsamen«. Von Beruf waren die drei Nebelschiffer. Bastian wollte seinen Namen nicht nennen, um nicht erkannt zu werden, und sagte, er hieße Einer. Die drei Seeleute erklärten ihm, daß sie überhaupt keine Namen für jeden einzelnen hätten und das auch gar nicht nötig fänden. Sie seien alle zusammen die Yskálnari, und das genüge ihnen. Da es gerade Mittagsessenszeit war, luden sie Bastian ein, mit ihnen zu gehen, und er nahm dankbar an. In einem nahegelegenen Gasthaus setzten sie sich zu Tisch, und während der Mahlzeit erfuhr Bastian alles über die Stadt Yskál und ihre Bewohner.

Das Nebelmeer, das bei ihnen der Skaidan hieß, war ein riesiger Ozean aus weißem Dunst, der zwei Teile Phantásiens voneinander trennte. Wie tief der Skaidan war, hatte noch niemand erforscht, und auch nicht, woher diese ungeheure Nebelmasse stammte. Zwar konnte man unterhalb der Oberfläche durchaus atmen, und man konnte von der Küste aus, wo der Nebel noch verhältnismäßig flach war, ein Stück weit auf dem Grund in das Meer hineingehen, doch nur, wenn man an ein Seil festgebunden war, an

dem man zurückgezogen werden konnte. Der Nebel hatte nämlich die Eigenschaft, einen binnen kurzem jeglicher Orientierungsfähigkeit zu berauben. Viele Wagemutige oder Leichtsinnige waren im Lauf der Zeiten schon bei dem Versuch umgekommen, allein und zu Fuß den Skaidan zu durchqueren. Nur wenige hatte man retten können. Die einzige Art, wie man auf die andere Seite des Nebelmeeres kommen konnte, war die der Yskálnari.

Das Korbgeflecht nämlich, aus dem die Häuser der Stadt Yskál, alle Gebrauchsgegenstände, die Kleider und auch die Schiffe bestanden, wurde aus einer Art von Binsen gemacht, die nahe dem Ufer unter der Oberfläche des Nebelmeeres wuchsen, und die - wie nach dem vorher Gesagten leicht einzusehen ist - nur unter Lebensgefahr geschnitten werden konnten. Diese Binsen, obgleich außerordentlich biegsam und in der normalen Luft sogar schlaff, standen im Nebel aufrecht, weil sie leichter waren als dieser und auf ihm schwammen. Somit schwammen natürlich auch die Schiffe, die aus ihnen gebaut waren. Die Kleidung, die die Yskálnari trugen, war also zugleich eine Art Schwimmweste, für den Fall, daß jemand in den Nebel hineingeriet.

Aber das war noch nicht das eigentliche Geheimnis der Yskálnari und erklärte noch nicht den Grund für die eigentümliche Gemeinsamkeit, die alle ihre Tätigkeiten bestimmte. Wie Bastian bald bemerkte, schienen sie das Wörtchen »ich« nicht zu kennen, jedenfalls benützten sie es niemals, sondern sprachen immer nur per »wir«. Woher das kam, fand er erst später heraus.

Als er den Reden der drei Nebelschiffer entnahm, daß sie noch diese Nacht in See stechen würden, fragte er sie, ob sie ihn nicht als Schiffsjungen anheuern könnten. Sie erklärten ihm, daß eine Fahrt auf dem Skaidan sich beträchtlich von jeder anderen Seefahrt unterschied, weil man niemals wissen könne, wie lang man unterwegs sei und wo man schließlich ankäme. Bastian meinte, das sei ihm ganz recht, und so willigten die Seeleute ein, ihn mit auf ihr Schiff zu nehmen.

Bei Einbruch der Nacht begannen die Nebel wie erwartet zu steigen und hatten gegen Mitternacht die Höhe der Korbstadt erreicht. Nun schwammen alle die Schiffe, die vorher in der Luft gehangen hatten, auf der weißen Oberfläche. Das Schiff, auf dem Bastian sich befand

- es war ein etwa dreißig Meter langer, flacher Kahn - wurde von seinen Tauen losgemacht und trieb langsam auf die Weite des nächtlichen Nebelmeeres hinaus.

Schon beim ersten Anblick hatte Bastian sich gefragt, mit welchem Antrieb diese Art von Schiff sich wohl fortbewegen mochte, da es weder Segel noch Ruder oder Schiffsschrauben gab. Segel, wie er erfuhr, hätten nichts genützt, da über dem Skaidan fast immer Windstille herrschte, und mit Rudern oder Schrauben konnte man erst recht nicht über den Nebel kommen. Die Kraft, mit der das Schiff fortbewegt wurde, war eine gänzlich andere. Auf der Mitte des Decks befand sich eine kreisrunde, etwas erhöhte Fläche. Bastian hatte sie schon zu Beginn bemerkt und für eine Kommandobrücke oder dergleichen gehalten. Tatsächlich standen während der ganzen Fahrt mindestens zwei der Nebelschiffer dort oben, manchmal aber auch drei, vier oder noch mehr. (Die gesamte Besatzung zählte vierzehn Mann

- ohne Bastian natürlich.) Die auf der runden Fläche hatten einander die Arme um die Schultern gelegt und blickten in Fahrtrichtung. Wenn man nicht sehr genau hinsah, konnte man glauben, sie stünden unbeweglich. Erst bei aufmerksamer Beobachtung war zu bemerken, daß sie sich sehr langsam und vollkommen übereinstimmend in einer Art Tanz wiegten. Dazu sangen sie eine immerfort wiederkehrende, einfache Melodie, die sehr schön und sanft war.

Bastian hatte dieses merkwürdige Verhalten zunächst für eine besondere Zeremonie oder Sitte gehalten, deren Sinn ihm verborgen war. Erst am dritten Tag der Reise fragte er einen seiner drei Freunde, der sich neben ihn gesetzt hatte. Der schien seinerseits verwundert über Bastians Staunen und erklärte ihm, daß die Männer das Schiff mit ihrer Vorstellungskraft antrieben. Bastian konnte diese Erklärung zunächst nicht verstehen und fragte, ob sie irgendwelche verborgenen Räder in Bewegung setzten.

»Nein«, antwortete der Nebelschiffer, »wenn du deine Beine bewegen willst, genügt es dir doch auch, es dir vorzustellen - oder mußt du deine Beine durch Räderwerke betreiben?« Der Unterschied zwischen dem eigenen Körper und einem Schiff bestand lediglich darin, daß mindestens zwei Yskálnari ihre Vorstellungskraft völlig zu einer werden lassen mußten.

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