Denn erst durch diese Vereinigung entstand die Fortbewegungskraft. Und wollten sie schnellere Fahrt machen, so mußten mehrere von ihnen
zusammenwirken. Normalerweise arbeiteten sie in Schichten zu je drei, die übrigen ruhten sich aus, denn es war, auch wenn es so leicht und anmutig aussah, eine schwere und anstrengende Arbeit, die große und ununterbrochene Konzentration erforderte. Aber es war die einzige Art, wie der Skaidan befahren werden konnte.
Und Bastian ging bei den Nebelschiffern in die Schule und erlernte das Geheimnis ihrer Gemeinsamkeit: den Tanz und das wortlose Lied.
Nach und nach während der langen Überfahrt wurde er einer der ihren.
Es war eine ganz eigentümliche, unbeschreibliche Empfindung von Selbstvergessenheit und Harmonie, wenn er während des Tanzes fühlte, wie seine eigene Vorstellungskraft mit der der anderen zusammenschmolz und sich zu einem Ganzen vereinigte. Er fühlte sich wirklich aufgenommen in ihre Gemeinschaft und zu ihnen gehörig - und gleichzeitig schwand aus seinem Gedächtnis jede Erinnerung daran, daß es in der Welt, aus der er gekommen war, und in die er nun den Rückweg suchen wollte, Menschen gab, Menschen, die alle ihre eigenen Vorstellungen und Meinungen hatten.
Das einzige, woran er sich noch dunkel erinnern konnte, war sein Zuhause und seine Eltern.
Doch tief auf dem Grunde seines Herzens lebte noch ein anderer Wunsch als der, nicht mehr allein zu sein. Und dieser andere Wunsch begann sich nun leise zu regen.
Das geschah an dem Tag, als er zum ersten Mal bemerkte, daß die Yskálnari ihre Gemeinsamkeit nicht dadurch erlangten, daß sie ganz verschieden geartete
Vorstellungsweisen zusammenklingen ließen, sondern weil sie einander so völlig glichen, daß es sie keine Anstrengung kostete, sich als Gemeinschaft zu fühlen. Im Gegenteil, es gab für sie gar nicht die Möglichkeit, miteinander zu streiten oder uneins zu sein, denn keiner von ihnen fühlte sich als einzelner. Sie mußten keine Gegensätze überwinden, um Harmonie untereinander zu finden, und gerade diese Mühelosigkeit erschien Bastian nach und nach unbefriedigend. Ihre Sanftheit erschien ihm fade und die immer gleiche Melodie ihrer Lieder monoton. Er fühlte, daß ihm etwas an alledem fehlte, daß ihn nach etwas hungerte, doch konnte er noch nicht sagen, was es war.
Das wurde ihm erst klar, als einige Zeit später eine Riesen-Nebelkrähe am Himmel gesichtet wurde. Alle Yskálnari bekamen Angst und
versteckten sich unter Deck, so rasch sie konnten. Aber einem gelang es nicht mehr rechtzeitig, der ungeheure Vogel stieß mit einem Schrei herab, packte den Unglücklichen und trug ihn im Schnabel fort.
Als die Gefahr vorüber war, kamen die Yskálnari wieder hervor und setzten die Reise mit Gesang und Tanz fort, als ob nichts geschehen wäre.
Ihre Harmonie war nicht gestört, sie trauerten nicht und klagten nicht, sie verloren kein einziges Wort über den Vorfall. »Nein«, sagte einer, als Bastian ihn deshalb befragte, »uns fehlt keiner. Worüber sollten wir klagen?«
Der einzelne zählte bei ihnen nichts. Und da sie sich nicht unterschieden, war keiner unersetzlich.
Aber Bastian wollte ein einzelner sein, ein Jemand, nicht bloß einer wie alle anderen. Er wollte gerade dafür geliebt werden, daß er so war, wie er war. In dieser Gemeinschaft der Yskálnari gab es Harmonie, aber keine Liebe.
Er wollte nicht mehr der Größte, der Stärkste oder der Klügste sein. Das alles hatte er hinter sich. Er sehnte sich danach, so geliebt zu werden, wie er war, gut oder schlecht, schön oder häßlich, klug oder dumm, mit all seinen Fehlern - oder sogar gerade wegen ihnen.Aber wie war er denn?
Er wußte es nicht mehr. Er hatte so vieles in Phantasien bekommen, und nun konnte er unter all den Gaben und Kräften sich selbst nicht wiederfinden.
Von da an beteiligte er sich nicht mehr am Tanz der Nebelschiffer. Er saß ganz vorn im Bug und blickte über den Skaidan, alle Tage und manchmal auch die Nächte hindurch. Und endlich war das andere Ufer erreicht. Das Nebelschiff legte an, Bastian bedankte sich bei den Yskálnari und ging an Land.
Es war ein Land voller Rosen, Wälder von Rosen in allen Farben. Und mitten durch diesen unendlichen Rosenhag lief ein geschwungener Pfad.
Bastian folgte ihm.
24. Dame Aiuóla
Xayídes Ende ist rasch erzählt, doch schwer zu verstehen und voller Widersprüche wie so vieles in Phantasien. Bis zum heutigen Tag zerbrechen sich die Gelehrten und die Geschichtsschreiber den Kopf darüber, wie es möglich war, manche bezweifeln sogar die Tatsachen oder versuchen ihnen eine andere Deutung zu geben. Hier soll berichtet werden, was wirklich geschehen ist, und jeder mag versuchen, sich die Dinge zu erklären, so gut er es kann.
Zu derselben Zeit, als Bastian bereits in der Stadt Yskál bei den Nebelschiffern ankam, erreichte Xayíde mit ihren schwarzen Riesen die Stelle auf der Heide, wo das Metallpferd unter Bastian in Stücke zerfallen war. In diesem Augenblick ahnte sie bereits, daß sie ihn nicht mehr finden würde. Als sie wenig später den Erdwall erblickte, auf den Bastians Spuren hinaufführten, wurde diese Ahnung zur Gewißheit. Wenn er in der Alten Kaiser Stadt angekommen war, so war er für ihre Pläne verloren, ganz gleich, ob er für immer dort bleiben würde oder ob es ihm gelungen war, aus der Stadt zu entweichen. Im ersten Fall war er machtlos geworden wie alle dort und konnte nichts mehr wünschen - im anderen Fall waren alle Wünsche nach Macht und Größe in ihm erloschen. In beiden Fällen war das Spiel für sie, Xayíde, zu Ende.
Sie befahl ihren Panzerriesen stehenzubleiben, doch unbegreiflicherweise gehorchten sie ihrem Willen nicht, sondern marschierten weiter. Da wurde sie zornig, sprang aus ihrer Sänfte und stellte sich ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen. Die gepanzerten Riesen aber, Fußvolk wie Reiter, stampften weiter, als wäre sie nicht vorhanden, und traten sie unter ihre Füße und Hufe. Und erst als Xayíde ihr Leben ausgehaucht hatte, blieb der ganze lange Zug plötzlich stehen wie ein abgelaufenes Uhrwerk.
Als später Hýsbald, Hýdorn und Hýkrion mit den Resten des Heeres nachgekommen waren, sahen sie, was hier geschehen war, und konnten es nicht fassen, denn es war ja allein Xayídes Wille gewesen, der die leeren Riesen bewegte und also auch über sie hinwegstampfen hatte lassen. Doch
war langes Nachdenken nicht die besondere Stärke der drei Herren, so zuckten sie schließlich die Achseln und ließen die Sache auf sich beruhen.
Sie berieten, was nun zu tun sei, und kamen zu dem Ergebnis, daß der Feldzug offensichtlich sein Ende gefunden habe. Also entließen sie das restliche Heer und empfahlen jedem, nach Hause zu gehen. Sie selbst, die Bastian ja einen Treueeid geleistet hatten, den sie nicht brechen wollten, beschlossen, ihn in ganz Phantasien zu suchen. Doch konnten sie sich über die einzuschlagende Richtung nicht einig werden und entschieden deshalb, daß jeder auf eigene Faust weiterziehen sollte. Sie verabschiedeten sich voneinander, und jeder humpelte in einer anderen Richtung davon. Alle drei erlebten noch viele Abenteuer, und es gibt in Phantasien unzählige Berichte, die von ihrer Suche ohne Sinn handeln. Doch das sind andere Geschichten und sollen ein andermal erzählt werden.
Die schwarzen, leeren Metallriesen aber standen seit dieser Zeit unbeweglich an der Stelle in der Heide, nahe der Alten Kaiser Stadt. Regen und Schnee fiel auf sie, sie verrosteten und versanken nach und nach schief oder gerade im Erdboden. Aber noch heute sind etliche von ihnen zu sehen.
Der Platz gilt als verrufen, und jeder Wanderer macht einen Bogen darum.
Aber kehren wir nun zu Bastian zurück.
Während er auf seinem Weg durch den Rosenhag den sanften Biegungen des Pfades folgte, erblickte er etwas, das ihn in Erstaunen setzte, weil er auf seinem ganzen Weg durch Phantasien noch nie etwas Derartiges gesehen hatte, nämlich einen Wegweiser mit einer geschnitzten Hand, die in eine Richtung zeigte.
»Zum Änderhaus«, stand darauf.
Bastian folgte der angegebenen Richtung ohne Eile. Er atmete den Duft der unzähligen Rosen ein und fühlte sich zunehmend vergnügter, so als stände ihm eine frohe Überraschung bevor. Schließlich gelangte er in eine schnurgerade Allee aus kugelrunden Bäumen, die voller rotbackiger Äpfel hingen. Und ganz am Ende der Allee tauchte ein Haus auf. Beim Näherkommen stellte Bastian fest, daß es wohl das drolligste Haus war, das er je gesehen hatte. Ein hohes spitzes Dach saß wie eine Zipfelmütze auf einem Gebäude, das eher einem Riesenkürbis glich, denn es war kugelig, und die Wände hatten an vielen Stellen Beulen und Ausbuchtungen, sozusagen dicke Bäuche, was dem Haus ein behäbiges und gemütliches Aussehen verlieh. Es gab auch ein paar Fenster und eine Haustür, alles
irgendwie schief und krumm, als wären diese Öffnungen ein wenig ungeschickt in den Kürbis hineingeschnitten. Während Bastian auf das Haus zuging, beobachtete er, daß es in einer stetigen, langsamen Veränderung war. Etwa mit der Geruhsamkeit, mit der eine Schnecke ihre Fühler hervorschiebt, bildete sich auf der rechten Seite ein kleiner Auswuchs, der allmählich zu einem Erkertürmchen wurde. Zugleich schloß sich auf der linken Seite ein Fenster und verschwand nach und nach. Aus dem Dach wuchs ein Schornstein hervor, und über der Haustür bildete sich ein Balkönchen mit Gitterbalustrade. Bastian war stehengeblieben und beobachtete die fortwährenden Veränderungen mit Staunen und Belustigung. Jetzt war ihm klar, warum dieses Haus den Namen
»Änderhaus« trug.
Während er noch so stand, hörte er aus dem Inneren eine warme, schöne Frauenstimme singen:
»Hundert Jahre, lieber Gast,
warten wir auf dich.
Da du hergefunden hast,
bist du’s sicherlich.