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»Aber ich bin am Ende!« beteuerte der Junge.

»Und wir?« antwortete der Chor, »was sind wir?«

»Geht weg!« rief der Junge, »ich kann mich nicht mehr um euch kümmern!« »Dann mußt du uns zurückverwandeln!« erwiderten die schrillen Stimmen, »dann wollen wir lieber wieder Arachai werden. Der Tränensee ist ausgetrocknet, und Amargánth sitzt auf dem Trockenen. Und niemand spinnt mehr das feine Silberfiligran. Wir wollen wieder Arachai sein.«

»Ich kann’s nicht mehr!« antwortete der Junge. »Ich habe keine Macht mehr in Phantasien.« »Dann«, brüllte der ganze Schwärm und wirbelte durcheinander, »nehmen wir dich mit uns!« Hunderte von kleinen Händen packten ihn und versuchten ihn in die Höhe zu reißen. Der Junge wehrte sich aus Leibeskräften, und die Motten flogen nach allen Seiten. Aber hartnäckig wie gereizte Wespen kehrten sie immer wieder zurück.

Mitten in dieses Gezeter und Gekreische hinein ließ sich plötzlich von fernher ein leiser und doch mächtiger Klang vernehmen, der wie das Dröhnen einer großen Bronzeglocke tönte. Und im Handumdrehen ergriffen die Schlamuffen die Flucht und verschwanden als dunkler Schwärm am Himmel.

Der Junge, der keinen Namen mehr hatte, kniete im Schnee. Vor ihm lag, zu Staub zerfallen, das Bild. Nun war alles verloren. Es gab nichts mehr, was ihn den Weg zum Wasser des Lebens führen konnte.

Als er aufblickte, sah er durch seine Tränen undeutlich in einiger Entfernung zwei Gestalten auf dem Schneefeld vor sich, eine große und eine kleine. Er wischte sich die Augen und sah noch einmal hin.

Es waren Fuchur, der weiße Glücksdrache, und Atréju.

26. Die Wasser des Lebens

Zögernd stand der Junge, der keinen Namen mehr hatte, auf und ging ein paar Schritte auf Atréju zu. Dann blieb er stehen. Atréju tat nichts, er blickte ihm nur aufmerksam und ruhig entgegen. Die Wunde auf seiner Brust blutete nicht mehr.

Lange standen sie sich gegenüber, und keiner von beiden sagte ein Wort.

Es war so still, daß jeder die Atemzüge des anderen hörte.

Langsam griff der Junge ohne Namen nach der goldenen Kette, die um seinen Hals lag, und nahm AURYN ab. Er bückte sich nieder und legte das Kleinod sorgsam vor Atréju in den Schnee. Dabei betrachtete er noch einmal die beiden Schlangen, die helle und die dunkle, die einander in den Schwanz bissen und ein Oval bildeten. Dann ließ er es los.

Im gleichen Augenblick wurde der goldene Glanz AURYNS so über alle Maßen hell und strahlend, daß er geblendet die Augen schließen mußte, als hätte er in die Sonne geschaut. Als er sie wieder öffnete, sah er, daß er in einer Kuppelhalle stand, groß wie das Himmelsgewölbe. Die Quader dieses Bauwerks waren aus goldenem Licht. Mitten in diesem unermeßlichen Raum aber lagen, riesig wie eine Stadtmauer, die beiden Schlangen. Atréju, Fuchur und der Junge ohne Namen standen nebeneinander auf der Seite des schwarzen Schlangenkopfes, der in seinem Rachen das Ende der weißen Schlange hielt. Das starre Auge mit der senkrechten Pupille war auf die drei gerichtet. Im Vergleich zu ihm waren sie winzig, sogar der Glücksdrache erschien klein wie ein weißes Räupchen. Die reglosen Riesenleiber der Schlangen glänzten wie unbekanntes Metall, nachtschwarz die eine, silberweiß die andere. Und das Verderben, das sie hervorrufen konnten, war nur gebannt, weil sie sich gegenseitig gefangenhielten. Wenn sie sich ]e losließen, dann würde die Welt untergehen. Das war gewiß.

Aber indem sie sich gegenseitig fesselten, hüteten sie zugleich das Wasser des Lebens. Denn in der Mitte, um die sie lagen, rauschte ein mächtiger Springquell, dessen Strahl auf und nieder tanzte und im Fallen Tausende von Formen bildete und wieder auflöste, viel schneller, als das

Auge zu folgen vermochte. Die schäumenden Wasser zerstiebten zu feinem Nebel, in dem das goldene Licht sich in allen Regenbogenfarben brach. Es war ein Brausen und Jubeln und Singen und Jauchzen und Lachen und Rufen mit tausend Stimmen der Freude.Der Junge ohne Namen schaute wie ein Verdurstender nach diesem Wasser hin - aber wie sollte er zu ihm gelangen? Der Schlangenkopf regte sich nicht.

Plötzlich hob Fuchur den Kopf. Seine rubinroten Augenbälle begannen zu funkeln. »Könnt ihr auch verstehen, was die Wasser sagen?« fragte er.

»Nein«, antwortete Atréju, »ich nicht.«

»Ich weiß nicht, wie es kommt«, raunte Fuchur, »aber ich verstehe es ganz deutlich. Vielleicht, weil ich ein Glücksdrache bin. Alle Sprachen der Freude sind miteinander verwandt.«

»Was sagen die Wasser!« fragte Atréju.

Fuchur horchte aufmerksam und sprach langsam und Wort für Wort mit, was er hörte: »Wir, die Wasser des Lebens! Quelle, die aus sich selbst entspringt und um so reicher fließt, je mehr ihr aus uns trinkt.«

Wieder lauschte er eine Weile und sagte:

»Sie rufen immerfort: Trink! Trink! Tu, was du willst!«

»Wie können wir denn hinkommen?« fragte Atréju.

»Sie fragen uns nach unseren Namen«, erklärte Fuchur.

»Ich bin Atréju!« rief Atréju.

»Ich bin Fuchur!« sagte Fuchur.

Der Junge ohne Namen blieb stumm.

Atréju sah ihn an, dann nahm er ihn bei der Hand und rief:

»Er ist Bastian Balthasar Bux.«

»Sie fragen«, übersetzte Fuchur, »warum er nicht selber spricht.«

»Er kann es nicht mehr«, sagte Atréju, »er hat alles vergessen.«

Fuchur horchte wieder eine Weile auf das Rauschen und Brausen.

»Ohne Erinnerung, sagen sie, kann er nicht eintreten. Die Schlangen lassen ihn nicht durch.« »Ich habe alles für ihn bewahrt«, rief Atréju, »alles, was er mir von sich und seiner Welt erzählt hat. Ich stehe für ihn ein.«

Fuchur lauschte.

»Sie fragen - mit welchem Recht du das tust.«

»Ich bin sein Freund«, sagte Atréju.

Wieder verging eine Weile, während Fuchur aufmerksam lauschte.

»Es scheint nicht gewiß«, flüsterte er Atréju zu, »ob sie das gelten lassen.

- Jetzt sprechen sie von deiner Wunde. Sie wollen wissen, wie es dazu kam.«

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