»Dann bitte ich dich fortzugehen. Ich möchte nicht, daß du zusiehst, wenn es jetzt mit mir zum Letzten kommt. Willst du mir diesen Gefallen tun?«
Atréju stand langsam auf. Der Kopf des Pferdchens lag jetzt schon halb im schwarzen Wasser.
»Leb wohl, Atréju, mein Herr!« sagte es, »- und danke!«
Atréju preßte die Lippen aufeinander. Er vermochte nichts zu sagen. Er nickte Artax noch einmal zu, dann wandte er sich ab und ging fort.
Bastian schluchzte. Er konnte es nicht unterdrücken. Seine Augen waren voll Tränen, und er konnte nicht weiterlesen. Er mußte erst sein Taschentuch hervorziehen und sich die Nase putzen, ehe er fortfahren konnte.
Wie lange er weiter, einfach immer weiter gewatet war, wußte Atréju nicht. Er war wie blind und taub. Der Nebel wurde immer dichter, und Atréju hatte das Gefühl, schon seit Stunden im Kreis herumzuirren. Er achtete nicht mehr darauf, wohin sein Fuß trat, und doch sank er niemals tiefer ein als bis zum Knie. Auf eine ihm unbegreifliche Art führte ihn das Zeichen der Kindlichen Kaiserin den richtigen Weg.Dann stand er ganz plötzlich vor einem hohen, ziemlich steilen Berghang. Er zog sich an den rissigen Felsen empor und kletterte auf die runde Kuppe. Anfangs bemerkte er nicht, aus was diese Felsen bestanden. Erst als er ganz oben ankam und den Berg überblickte, sah er, daß es gewaltige Hornplatten waren, in deren Rissen und Schrunden Moos wucherte.
Er hatte also den Hornberg gefunden!
Doch er empfand keine Genugtuung bei dieser Entdeckung. Das Ende seines treuen Pferdchens ließ ihn diese Tatsache fast gleichgültig hinnehmen. Nun mußte er noch herausfinden, wer und wo die Uralte Morla war, die hier hauste.
Während er noch überlegte, spürte er plötzlich eine leise Erschütterung durch den Berg gehen, dann vernahm er ein ungeheures Blasen und Schmatzen und eine Stimme, die aus den tiefsten Eingeweiden der Erde zu kommen schien:
»Schau mal, Alte, da krabbelt was rum auf uns.«
Atréju eilte auf das Ende des Bergrückens zu, von woher die Laute gekommen waren. Dabei glitt er auf einem Moospolster aus und geriet ins Rutschen. Es gelang ihm nicht, sich festzuhalten, er rutschte immer schneller und stürzte schließlich ab. Glücklicherweise fiel er in einen der Bäume, die unten standen. Dessen Äste fingen ihn auf.
Vor sich sah Atréju eine riesenhafte Höhle im Berg, in der das schwarze Wasser schlappte und platschte, denn dort drin regte sich etwas und kam langsam heraus. Es sah aus wie ein Felsbrocken von der Größe eines Hauses. Erst als es ganz zum Vorschein gekommen war, erkannte Atréju, daß es ein Kopf war, der an einem langen, faltigen Hals saß, der Kopf einer Schildkröte. Ihre Augen waren groß wie schwarze Teiche. Ihr Maul triefte von Schlick und Algen. Dieser ganze Hornberg - das begriff Atréju nun plötzlich - war ein einziges ungeheuerliches Tier, eine gewaltige Sumpfschildkröte: die Uralte Morla!
Dann war wieder diese blasende, gurgelnde Stimme zu hören :
»Kleiner, was machst du da?«
Atréju griff nach dem Amulett auf seiner Brust und hielt es so, daß ihr teichgroßes Auge es sehen mußte.
»Kennst du das, Morla?«
Es dauerte eine Weile, ehe sie antwortete:
»Schau mal, Alte - AURYN - wir haben’s lang nicht mehr gesehen, das Zeichen der Kindlichen Kaiserin - lang nicht mehr.«
»Die Kindliche Kaiserin ist krank«, versetzte Atréju, »wußtest du das?«
»Ist uns gleich, nicht wahr, Alte?« erwiderte die Morla. Sie schien auf diese eigentümliche Art mit sich selbst zu reden, vielleicht, weil sie keinen
anderen Gesprächspartner hatte, wer weiß, seit wie langer Zeit schon.
»Wenn wir sie nicht retten, wird sie sterben«, setzte Atréju dringlicher hinzu.
»Auch recht«, antwortete die Morla.
»Aber mit ihr wird Phantasien untergehen«, rief Atréju, »die Vernichtung breitet sich schon überall aus. Ich habe es selbst gesehen.«
Die Morla starrte ihn aus ihrem riesigen, leeren Auge an.
»Wir haben nichts dagegen, nicht wahr, Alte?« gurgelte sie.
»Dann werden wir alle zugrunde gehen!« schrie Atréju, »wir alle!«
»Schau mal, Kleiner«, antwortete die Morla, »was kümmert uns das noch? Ist alles nicht mehr wichtig für uns. Ist doch alles gleich, ist alles ganz gleich.«
»Auch du wirst vernichtet werden, Morla!« schrie Atréju zornig, »auch du ! Oder meinst du, weil du so alt bist, wirst du Phantasien überleben?«
»Schau mal«, gurgelte die Morla, »wir sind alt, Kleiner, viel zu alt.
Haben lang genug gelebt. Haben zu viel gesehen. Wer so viel weiß wie wir, dem ist nichts mehr wichtig. Alles wiederholt sich ewig, Tag und Nacht, Sommer und Winter, die Welt ist leer und ohne Sinn. Alles dreht sich im Kreis. Was entsteht, muß wieder vergehen, was geboren wird, muß sterben.
Hebt sich alles auf, das Gute und das Böse, das Dumme und das Weise, das Schöne und das Häßliche. Ist alles leer. Nichts ist wirklich. Nichts ist wichtig.«
Atréju wußte nicht, was er antworten sollte. Der riesenhafte, dunkle und leere Blick der Uralten Morla lahmte alle seine Gedanken. Nach einer Weile hörte er, daß sie wieder sprach : »Du bist jung, Kleiner. Wir sind alt. Wenn du alt wärst wie wir, dann wüßtest du, daß es nichts gibt als die Traurigkeit.
Schau mal. Warum sollen wir nicht sterben, du, ich, die Kindliche Kaiserin, alle, alle? Ist dochailes nur Schein, nur ein Spie! im Nichts. Ist alles ganz gleich. Laß uns in Ruh’, Kleiner, geh fort.«
Atréju spannte all seinen Willen an, um sich der Lähmung, die von ihrem Blick ausging, zu widersetzen.
»Wenn du so viel weißt«, sagte er, »weißt du dann auch, worin die Krankheit der Kindlichen Kaiserin besteht und ob es ein Heilmittel für sie gibt?«
»Wissen wir, nicht wahr, Alte, wissen wir«, schnaufte die Morla, »ist aber gleich, ob sie gerettet wird oder nicht. Wozu sollen wir’s also sagen?«
»Wenn es dir wirklich ganz gleich ist«, drang Atréju in sie, »dann könntest du es mir ebensogut sagen.«
»Könnten wir auch, Alte, nicht wahr?« grunzte die Morla, »haben aber keine Lust dazu.« »Dann«, rief Atréju, »ist es dir eben nicht wirklich gleich! Dann glaubst du selber nicht, was du sagst!«
Es blieb lange still, dann hörte er ein tiefes Gurgeln und Rülpsen. Es muß wohl eine Art Lachen gewesen sein, falls die Uralte Morla überhaupt noch Gelächter kannte. Jedenfalls sagte sie: