Was ich angefangen habe, muß ich zu Ende führen. Jetzt bin ich schon zu weit gegangen, um noch umzukehren. Ich kann nur noch weitergehen, was auch daraus werden mag.«
Er fühlte sich sehr einsam, und doch war in diesem Gefühl zugleich so etwas wie Stolz, Stolz darauf, daß er stark geblieben war und der Versuchung nicht nachgegeben hatte. Ein ganz klein wenig Ähnlichkeit hatte er doch wohl mit Atréju!
Der Augenblick war gekommen, wo Atréju wirklich nicht mehr weiterkonnte. Vor ihm gähnte der Tiefe Abgrund.
Die großartige Schauerlichkeit des Anblicks läßt sich mit Worten nicht beschreiben. Quer durch das Land der Toten Berge klaffte die Erde in einem Riß, der etwa eine halbe Meile breit sein mochte. Seine Tiefe war nicht zu erkennen.
Atréju lag am Rande auf einem Felsenvorsprung und starrte in die Finsternis hinunter, die bis ins Innerste der Erde zu reichen schien. Er nahm einen kopfgroßen Stein, der in seiner Reichweite lag, und schleuderte ihn so weit hinaus, wie er konnte. Der Stein fiel und fiel und fiel, bis ihn die Dunkelheit verschlang. Atréju lauschte, aber kein Geräusch des Aufpralls drang an sein Ohr, obgleich er lange wartete.
Und dann tat er das einzige, was ihm zu tun übrigblieb: Er begann am Rande des Tiefen Abgrunds entlang zu wandern. Dabei war er jeden Augenblick gewärtig, jenem »entsetzlichsten der Schrecken« zu begegnen, von dem das alte Lied erzählte. Er wußte nicht, um was für eine Art von
Geschöpf es sich handeln mochte, er wußte nur, daß sein Name Ygramul lautete.
Der Tiefe Abgrund verlief in einer gezackten Linie durch die Bergwüste, und natürlich gab es an seinem Rand keinen Weg, sondern auch hier erhoben sich Felsentürme, die er erklimmen mußte und die manchmal bedenklich unter ihm schwankten, oder ihm lagen riesige Gesteinsbrocken im Weg, die er mühsam umgehen mußte, oder es senkten sich Geröllhalden gegen den Erdspalt zu, die in Bewegung gerieten, sobald er sie überquerte.
Mehr als einmal trennte ihn nur noch ein Fußbreit vom Absturz.
Hätte er gewußt, daß ein Verfolger auf seiner Spur war, der ihm Stunde für Stunde näher kam, so hätte er sich vielleicht doch zu irgendeiner Unbedachtheit hinreißen lassen, die ihn bei seinem schwierigen Weg teuer hätte zu stehen kommen können. Es war jenes Wesen aus Finsternis, das ihn verfolgte, seit er aufgebrochen war. Inzwischen hatte sich seine Gestalt so weit verdichtet, daß man ihre Umrisse klar erkennen konnte. Es war ein Wolf, pechschwarz und groß wie ein Ochse. Die Nase immer am Boden, trabte er auf Atréjus Spur durch die Felsenwüste der Toten Berge. Die Zunge hing ihm weit aus dem Maul, er hatte die Lefzen hochgezogen, so daß sein fürchterliches Gebiß zu sehen war. Die Frische der Witterung sagte ihm, daß ihn nur noch wenige Meilen von seinem Opfer trennten. Und der Abstand verringerte sich unerbittlich.
Aber Atréju ahnte nichts von seinem Verfolger und suchte sich seinen Weg vorsichtig und langsam.
Als er gerade in einer engen Höhle steckte, die wie eine gewundene Röhre durch ein Felsenmassiv führte, hörte er plötzlich ein Getöse, das er sich nicht erklären konnte, denn es hatte keine Ähnlichkeit mit irgendeinem anderen Lärm, den er je vernommen hatte. Es war ein Brausen und Brüllen und Klirren, und zugleich fühlte Atréju, wie der ganze Felsen, in dem er steckte, bebte, und er vernahm das Krachen von Steinblöcken, die draußen polternd von den Bergwänden stürzten. Eine Weile wartete er, ob das Erdbeben - oder was immer es sein mochte -nachlassen würde, als es jedoch anhielt, kroch er weiter, erreichte schließlich den Ausgang und streckte vorsichtig den Kopf hinaus.
Und nun sah er: Über der Finsternis des Tiefen Abgrundes, von einem Rand zum anderen gespannt, hing ein ungeheures Spinnennetz. Und in den klebrigen Fäden dieses Netzes, die dick wie Seile waren, wand sich ein
großer weißer Glücksdrache, schlug mit Schwanz und Klauen um sich und verstrickte sich doch nur immer rettungsloser.
Glücksdrachen gehören zu den seltensten Tieren in Phantasien. Sie haben keine Ähnlichkeit mit gewöhnlichen Drachen oder Lindwürmern, die wie riesige, ekelhafte Schlangen in tiefen Erdhöhlen hausen, Gestank verbreiten und irgendwelche wirklichen oder vermeintlichen Schätze hüten. Solche Ausgeburten des Chaos sind meist von boshaftem oder grämlichem Charakter, haben fledermausartige Hautflügel, mit welchen sie sich lärmend und plump in die Luft erheben können, und speien Feuer und Qualm.
Glücksdrachen dagegen sind Geschöpfe der Luft und der Wärme, Geschöpfe unbändiger Freude, und trotz ihrer gewaltigen Körpergröße so leicht wie eine Sommerwolke. Darum brauchen sie keine Flügel zum Fliegen. Sie schwimmen in den Lüften des Himmels wie Fische im Wasser.
Von der Erde aus gesehen gleichen sie langsamen Blitzen. Das Wunderbarste an ihnen ist ihr Gesang. Ihre Stimme klingt wie das goldene Dröhnen einer großen Glocke, und wenn sie leise sprechen, so ist es, als ob man diesen Glockenklang von fern hört. Wer je solchen Gesang vernehmen durfte, vergißt es sein Lebtag nicht mehr und erzählt noch seinen Enkelkindern davon. Aber dieser Glücksdrache, den Atréju jetzt sah, befand sich wahrhaftig nicht in einer Lage, in der ihm nach Singen zumut sein konnte. Der lange, geschmeidige Leib, dessen perlmutterfarbene Schuppen rosig und weiß glitzerten, hing verkrümmt und gefesselt in dem riesigen Spinnennetz. Die langen Barten am Maul des Tieres, die üppige Mähne und die Fransen am Schweif und an den Gliedmaßen waren in die klebrigen Seile verstrickt, so daß es sich kaum noch regen konnte. Nur die Augenbälle in seinem löwenartigen Haupt funkelten rubinrot und zeigten, daß er noch lebendig war.
Das herrliche Tier blutete aus vielen Wunden, denn da war noch etwas anderes, etwas Riesiges, das sich immer von neuem blitzschnell über den weißen Drachenleib stürzte wie eine dunkle Wolke, die ununterbrochen ihre Gestalt änderte. Bald glich sie einer Riesenspinne mit langen Beinen, vielen glühenden Augen und einem dicken Körper, der mit einem schwarzen, verfilzten Haargestrüpp bedeckt war, dann wurde sie zu einer einzigen großen Hand mit langen Klauen, die den Glücksdrachen zu zerquetschen suchte, und im nächsten Augenblick verwandelte sie sich m einen schwarzen Riesenskorpion, der mit seinem Giftstachel nach seinem unglücklichen Opfer schlug.
Der Kampf zwischen den beiden gewaltigen Wesen war fürchterlich. Der Glücksdrache verteidigte sich noch, indem er blaues Feuer spie, das die Borsten des wolkenartigen Geschöpfes versengte. Rauch quoll auf und wirbelte in Schwaden durch die Felsenspalte. Der Gestank machte Atréju das Atmen fast unmöglich. Einmal gelang es dem Glücksdrachen sogar, seinem Gegner eines seiner langen Beine abzubeißen. Doch das abgetrennte Glied fiel nicht etwa in die Tiefe des Abgrunds, sondern bewegte sich einen Augenblick allein in der Luft und kehrte dann an seinen vorigen Platz zurück und vereinigte sich wieder mit dem dunklen Wolkenkörper. Und so geschah es immer wieder, der Drache schien ins Leere zu beißen, sobald er eines der Glieder mit seinen Zähnen fassen konnte.
Nun erst bemerkte Atréju, was ihm bisher entgangen war: Dieses ganze grausige Geschöpf bestand gar nicht aus einem einzigen, festen Körper, sondern aus unzähligen kleinen stahlblauen Insekten, die wie zornige Hornissen summten und im dichten Schwärm immer neue Gestalten bildeten.
Es war Ygramul, und nun wußte Atréju auch, warum sie »die Viele«
genannt wurde. Er sprang aus seinem Versteck hervor, griff nach dem Kleinod auf seiner Brust und schrie, so laut er konnte:
»Halt! Im Namen der Kindlichen Kaiserin! Halt!«
Doch im Brüllen und Fauchen der kämpfenden Geschöpfe ging seine Stimme unter. Er selbst hörte sie kaum.
Ohne zu überlegen, lief er über die klebrigen Seile des Netzes auf die Kämpf enden zu. Das Netz schwirrte unter seinen Füßen. Er verlor das Gleichgewicht, fiel durch die Maschen, hing nur noch an den Händen über der finsteren Tiefe, zog sich wieder hinauf, klebte fest, kämpfte sich wieder frei und eilte weiter.
Ygramul fühlte plötzlich, daß sich ihr etwas näherte. Sie fuhr blitzschnell herum, und ihr Anblick war entsetzlich: Sie war jetzt nur noch ein riesenhaftes stahlblaues Gesicht mit einem einzigen Auge über der Nasenwurzel, das mît einer senkrechten Pupille voll unvorstellbarer Bosheit auf Atréju starrte.
Bastian stieß einen leisen Schreckenslaut aus.
Ein Schreckensschrei hallte durch die Schlucht und wurde als Echo hin-und hergeworfen. Ygramul drehte ihr Auge nach links und rechts, um zu sehen, ob da noch ein anderer Ankömmling war, denn der Junge, der wie gelähmt vor Grausen vor ihr stand, konnte es nicht gewesen sein. Aber da war niemand.
»Sollte es am Ende mein Schrei gewesen sein, den sie gehört hat?«
dachte Bastian zutiefst beunruhigt. »Aber das ist doch überhaupt nicht möglich . «
Und nun hörte Atréju Ygramuls Stimme. Es war eine sehr hohe und etwas heisere Stimme, die ganz und gar nicht zu ihrem Riesengesicht passen wollte. Auch bewegte sie den Mund nicht beim Sprechen. Es war das Surren eines riesigen Hornissenschwarms, das sich zu Worten formte:
»Ein Zweibein!« hörte Atréju, »nach so langer, langer Zeit des Hungers gleich zwei Leckerbissen! Was für ein Glückstag für Ygramul!«
Atréju mußte alle Kraft zusammennehmen. Er hielt den »Glanz« vor das einzige Auge des Ungeheuers und fragte:
»Kennt ihr dieses Zeichen?«
»Komm näher, Zweibein!« surrte der vielstimmige Chor. »Ygramul sieht nicht gut.« Atréju trat einen Schritt weiter auf das Gesicht zu. Es öffnete jetzt den Mund. Anstelle der Zunge hatte es zahllose flimmernde Fühler, Zangen und Greifer.
»Noch näher!« summte der Schwarm.
Noch einmal tat er einen Schritt und stand nun so nahe vor dem Gesicht, daß er deutlich die zahllosen stahlblauen Einzelwesen sehen konnte, die wie wild durcheinander wirbelten. Und doch blieb das schreckliche Gesicht im ganzen reglos.
»Ich bin Atréju«, sagte er, »und stehe im Auftrag der Kindlichen Kaisenn.«
»Du kommst ungelegen«, antwortete das zornige Surren nach einer Weile. »Was willst du von Ygramul? Sie ist sehr beschäftigt, wie du siehst.«
»Ich will diesen Glücksdrachen«, antwortete Atréju, »gebt ihn mir!«