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»Für jedes Gift gibt es ein Gegengift«, antwortete der weiße Drache, »du wirst sehen, daß alles gutgehen wird.«

»Ich wüßte nicht wie«, meinte Atréju.

»Ich auch nicht«, erwiderte der Drache, »aber das ist gerade das Schöne.

Von jetzt an wird dir alles gelingen. Schließlich bin ich ein Glücksdrache.

Auch als ich im Netz hing, habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben - und wie du siehst, mit Recht.«

Atréju lächelte.

»Sag mir, warum hast du dich hierher versetzt - und nicht an einen anderen, besseren Ort, wo du vielleicht Heilung finden könntest?«

»Mein Leben gehört dir«, sagte der Drache, »wenn du es annehmen willst. Ich dachte mir, du wirst ein Reittier brauchen für die Große Suche.

Und du wirst sehen, es ist ein ganz anderes Ding, ob man auf zwei Beinen durch die Gegend krabbelt, sogar ob man auf einem guten Pferd dahingaloppiert, oder ob man auf dem Rücken eines Glücksdrachen durch die Himmelslüfte braust. Abgemacht?«

»Abgemacht!« antwortete Atréju.

»Übrigens«, fügte der Drache hinzu, »mein Name ist Fuchur.«

»Gut, Fuchur«, sagte Atréju, »aber während wir reden, verrinnt die wenige Zeit, die uns noch bleibt. Ich muß etwas tun. Aber was?«

»Glück haben«, antwortete Fuchur, »was sonst?«

Doch Atréju hörte ihn nicht mehr. Er war niedergefallen und lag reglos, eingerollt in die weichen Krümmungen des Drachenleibes.

Ygramuls Gift tat seine Wirkung.

Als Atréju - wer weiß wie lange Zeit später - seine Augen wieder aufschlug, sah er zunächst nichts als ein höchst sonderbares Gesicht über das seine geneigt. Es war das schrumpeligste und faltigste Gesicht, das er je gesehen hatte, aber es war nur ungefähr so groß wie seine Faust. Es war dunkelbraun wie ein Bratapfel, und die Äuglein darin glitzerten wie Sterne.

Auf dem Kopf saß so etwas wie eine Haube aus welken Blättern.

Dann fühlte Atréju, daß ihm ein kleines Trinkgefäß an die Lippen gehalten wurde. »Schöne Medizin, gute Medizin!« murmelten die faltigen kleinen Lippen in dem runzeligen Gesichtchen, »trink nur, mein Kind, trink.

Tut gut!«

Atréju nippte. Es schmeckte eigenartig, ein wenig süß und doch herb.

»Was ist mit dem weißen Drachen?« brachte er mühsam heraus.

»Schon in Ordnung,« antwortete das raunende Stimmchen, »mach dir keine Sorgen, mein Jungchen. Wird wieder gesund. Werdet beide wieder gesund. Habt das Schlimmste schon hinter euch. Trink nur, trink!«

Atréju nahm noch einen Schluck und fiel sofort wieder in Schlaf, aber diesmal war es der tiefe, erquickende Schlaf der Genesung.

Die Turmuhr schlug zwei.

Bastian konnte es nicht mehr länger unterdrücken: Er mußte dringend aufs Klo. Er mußte schon seit einer ganzen Weile, aber er hatte einfach nicht aufhören können zu lesen. Und außerdem fürchtete er sich ein bißchen davor, ins Schulhaus hinunterzugehen. Er sagte sich selbst, daß es dafür keinen Grund gab, es war ja leer, niemand würde ihn sehen. Und trotzdem hatte er Angst, so als ob das Schulhaus selbst ein Wesen wäre, das ihn beobachten würde. Aber da half nun alles nichts, er mußte einfach!

Er legte das Buch mit den offenen Seiten auf die Turnmatte, stand auf und ging zur Speichertür. Mit klopfendem Herzen lauschte er eine Weile.

Alles war still. Er schob den Riegel zurück und drehte langsam den großen Schlüssel im Schloß. Als er auf die Klinke drückte, öffnete sich die Tür mit lautem Knarren.

Er huschte strumpfsockig hinaus und ließ die Tür hinter sich offen, um nicht noch einmal unnötigen Lärm zu machen. Dann schlich er die Treppe hinunter in den ersten Stock. Vor ihm lag der lange Gang mit den spinatgrün

gestrichenen Türen zu den Klassenzimmern. Die Schülertoilette war am anderen Ende. Es war höchste Eisenbahn, und Bastian lief, so schnell er konnte. Er erreichte das rettende Örtchen buchstäblich im letzten Augenblick. Während er auf dem Klo saß, überlegte er sich, warum die Helden in solchen Geschichten eigentlich nie mit derartigen Problemen zu tun hat-ten. Einmal - als er noch viel kleiner gewesen war-hatte er sogar im Religionsunterricht gefragt, ob der Herr Jesus eigentlich auch wie ein gewöhnlicher Mensch gemußt hätte, weil er doch auch wie ein gewöhnlicher Mensch gegessen und getrunken hat. Die Klasse hatte gebrüllt vor Lachen, und der Religionslehrer hatte ihm einen Verweis wegen »ungebührlichen Betragens« ins Klassenbuch geschrieben. Eine Antwort hatte Bastian nicht bekommen. Dabei hatte er sich wirklich nicht ungebührlich betragen wollen.

»Wahrscheinlich«, sagte sich Bastian jetzt, »sind diese Sachen einfach zu nebensächlich und unwichtig, als daß sie in solchen Geschichten erwähnt zu werden brauchen.« Obwohl sie für ihn manchmal von verzweifelter und beschämender Wichtigkeit sein konnten. Er war fertig, zog an der Kette und wollte eben hinausgehen, als er draußen auf dem Korridor plötzlich Schritte hörte. Eine Klassenzimmertür nach der anderen wurde geöffnet und wieder geschlossen, und die Schritte kamen immer näher.

Bastians Herz klopfte bis zum Hals. Wo sollte er sich verstecken? Er blieb wie gelähmt stehen, wo er stand.

Die Klotür ging auf, glücklicherweise gerade so, daß sie Bastian verdeckte. Der Hausmeister der Schule kam herein. Nach der Reihe warf er einen Blick in die einzelnen Zellen. Als er an die kam, wo das Wasser noch lief und die Kette schaukelte, stutzte er einen Augenblick. Er brummte etwas vor sich hin, doch als er merkte, daß das Wasser zu laufen aufhörte, zuckte er die Achseln und ging hinaus. Seine Schritte verhallten auf der Treppe.

Bastian hatte die ganze Zeit über nicht zu atmen gewagt, jetzt holte er tief Luft. Als er hinausgehen wollte, merkte er, daß ihm die Knie zitterten.

Vorsichtig und so schnell er konnte, huschte er den Gang mit den spinatgrün gestrichenen Türen entlang, die Treppe hinauf und in den Speicher zurück. Erst als er die Tür wieder verschlossen und verriegelt hatte, wich die Spannung von ihm.

Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich wieder auf seinem Lager aus Turnmatten nieder, hüllte sich in die Militärdecken und griff nach dem Buch.

Als Atréju abermals erwachte, fühlte er sich vollkommen frisch und kräftig. Er richtete sich auf.

Es war Nacht, der Mond schien hell, und Atréju sah, daß er sich an der nämlichen Stelle befand, an der er neben dem weißen Drachen zusammengebrochen war. Auch Fuchur lag noch immer so da, aber er atmete ruhig und tief und schien fest zu schlafen. Alle seine Wunden waren verbunden.

Atréju bemerkte, daß auch seine eigene Schulter auf die gleiche Art versorgt war, nicht mit Stoff, sondern mit Krautern und Pflanzenfasern.

Nur wenige Schritte entfernt befand sich im Felsen eine kleine Höhle, aus deren Eingang gedämpfter Lichtschein fiel.

Ohne den linken Arm zu bewegen, stand Atréju vorsichtig auf und ging zu dem niedrigen Höhleneingang. Er beugte sich nieder und erblickte im Inneren einen Raum, der wie eine Alchemistenküche im Miniaturmaßstab aussah. Im Hintergrund prasselte in einem offenen Kamin ein lustiges Feuerchen. Überall standen und lagen Tiegel, Töpfe und wunderlich geformte Flaschen herum. In einem Regal waren Bündel von getrockneten Pflanzen verschiedener Art aufgestapelt. Das Tischchen in der Mitte und die übrigen Möbel schienen aus Wurzelstrünken zusammengebastelt. Im ganzen machte die Wohnstätte einen höchst behaglichen Eindruck.

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