Atréju überlegte und fragte dann:
»Dieses große Felsentor mit den Sphinxen, das du mir gezeigt hast-ist das der Eingang?« »Schon besser!« antwortete Engywuck, »so kommen wir weiter. Das Felsentor ist der Eingang, aber danach kommen noch zwei andere Tore, und erst hinter dem dritten wohnt die Uyulála - wenn man von ihr überhaupt sagen kann, daß sie wohnt.«
»Bist du selbst schon einmal bei ihr gewesen?«
»Wo denkst du hin!« erwiderte Engywuck, schon wieder etwas verstimmt, »arbeite schließlich wissenschaftlich. Habe alle Berichte gesammelt von denen, die drin waren. Sofern sie zurückgekommen sind, versteht sich. Sehr wichtige Arbeit! Kann mir kein persönliches Risiko erlauben. Könnte meine Arbeit beeinflussen.«
»Ich verstehe«, sagte Atréju. »Und was hat es nun mit diesen drei Toren auf sich?« Engywuck stand auf, verschränkte die Arme auf dem Rücken und begann auf und ab zu gehen, während er folgendes erklärte:
»Das erste heißt das Große Rätsel Tor. Das zweite heißt das Zauber Spiegel Tor. Und das dritte heißt das Ohne Schlüssel Tor…«
»Seltsam«, unterbrach ihn Atréju, »soweit ich sehen konnte, war hinter dem Felsentor nichts weiter als eine leere Ebene. Wo sind denn diese anderen Tore?«
»Ruhe!« herrschte ihn Engywuck an, »wenn du dauernd unterbrichst, kann man nichts erklären. Alles sehr schwierig! Die Sache ist so: Das zweite Tor ist erst da, wenn man durch das erste durch ist. Und das dritte erst, wenn man das zweite hinter sich hat. Und die Uyulála erst, wenn man durch das dritte gekommen ist. Vorher ist nichts von allem da. Es ist einfach nicht da, verstehst du?«
Atréju nickte, zog es aber vor zu schweigen, um den Gnom nicht von neuem ärgerlich zu machen.
»Das erste, das Große Rätsel Tor, hast du durch mein Fernrohr gesehen.
Auch die zwei Sphinxen. Dieses Tor ist immer offen - versteht sich von selbst. Hat ja gar keine Torflügel. Kann aber trotzdem niemand durch, außer
-«, hier streckte Engywuck ein winziges Zeigefingerchen in die Höhe, »-
außer die Sphinxen schließen die Augen. Und weißt du, warum? Der Blick einer Sphinx ist was ganz und gar anderes, als der Blick irgendeines anderen Wesens. Wir beide und alle anderen, wir nehmen durch unseren Blick etwas auf. Wir sehen die Welt. Aber eine Sphinx sieht nichts, sie ist in gewissem Sinne blind. Dafür senden ihre Augen etwas aus. Und was ist das, was ihr Blick aussendet? Alle Rätsel der Welt. Deshalb schauen die beiden Sphinxen sich immerfort gegenseitig an. Denn den Blick einer Sphinx kann nur eine andere Sphinx ertragen. Und nun stell dir vor, was aus einem wird, der es einfach wagt, in den Blickwechsel dieser beiden hineinzulaufen! Er erstarrt auf der Stelle und kann sich nicht wieder rühren, ehe er nicht alle
Rätsel der Welt gelöst hat. Na, du wirst die Spuren solcher armen Teufel vorfinden, wenn du hinkommst.«
»Aber sagtest du nicht«, warf Atréju ein, »daß sie manchmal ihre Augen schließen? Müssen sie nicht bisweilen schlafen?«
»Schlafen?« Engywuck schüttelte sich vor Kichern. »Du meine Güte, eine Sphinx und schlafen. Nein, wahrhaftig nicht. Bist wirklich ein ahnungsloser Bursche. Ist aber trotzdem nicht ganz verkehrt, deine Frage.
Ist sogar genau der Punkt, dem meine Forschung gewidmet ist. Bei manchen Besuchern schließen die Sphinxen ihre Augen und lassen ihn durch. Die Frage, die bis heute aber noch niemand geklärt hat, ist die: Warum gerade den einen und warum nicht den anderen? Ist nämlich keineswegs so, daß sie etwa die Weisen, die Tapferen, die Guten vorbeilassen, und die Dummen, die Feigen oder die Bösewicht ausschließen. Ja, Pustekuchen! Hab’s mit eigenen Augen beobachtet, und mehr als einmal, daß sie gerade irgendeinem albernen Schwachkopf oder einem niederträchtigen Halunken den Zutritt erlaubt haben, während die anständigsten und vernünftigsten Leute oft monatelang vergebens warteten und zuletzt unverrichteter Dinge abzogen. Auch ob einer aus Not und Bedrängnis zum Orakel will oder es nur mal so aus Jux versucht, scheint gar keine Rolle zu spielen.« »Und deine Forschungen«, fragte Atréju,
»haben sie keinerlei Anhaltspunkt ergeben?« Sofort bekam Engywuck wieder seinen zornig funkelnden Blick.
»Hörst du zu oder nicht? Hab’ doch eben gesagt, daß niemand die Frage bis heute geklärt hat. Habe natürlich einige Theorien ausgearbeitet im Lauf der Jahre. Dachte zunächst, der entscheidende Punkt, nach dem die Sphinxen urteilen, wären vielleicht bestimmte körperliche Merkmale -
Größe, Schönheit, Stärke oder so was. Mußte ich aber bald wieder fallen lassen. Hab’ dann versucht, bestimmte Zahlenverhältnisse festzustellen, zum Beispiel, daß von fünf en immer drei ausgeschlossen bleiben, oder daß nur die mit Primzahlen Zutritt bekommen. Ging auch ganz gut, was die Vergangenheit betrifft, nur bei der Vorhersage hat es absolut nicht geklappt.
Bin inzwischen der Ansicht, die Entscheidung der Sphinxen ist ganz und gar zufällig und hat überhaupt keinen Sinn. Aber mein Weib behauptet, das wäre eine lästerliche und obendrein unphantásische Meinung und hätte mit Wissenschaft nichts mehr zu tun.« »Kommst du schon wieder mit deinem Unsinn?« hörte man das Gnomenweibchen aus der Höhle keifen. »Schäm
dich! Nur weil dein bißchen Hirn dir im Kopf eingetrocknet ist, meinst du, solche großen Geheimnisse einfach ableugnen zu können, alter Schwachkopf!« »Da hörst du’s!« sagte Engywuck seufzend. »Und das Schlimme ist, daß sie recht hat.« »Und das Amulett der Kindlichen Kaiserin?« fragte Atréju. »Glaubst du, sie werden es nicht respektieren?
Schließlich sind auch sie Geschöpfe Phantàsiens.«
»Schon«, meinte Engywuck und wiegte sein apfelgroßes Köpfchen,
»aber dazu müßten sie es sehen. Und sie sehen doch nichts. Aber ihr Blick würde dich treffen. Bin auch nicht sicher, daß die Sphinxen der Kindlichen Kaiserin gehorchen. Vielleicht sind sie größer als sie. Weiß nicht, weiß nicht. Ist jedenfalls sehr bedenklich.«
»Was rätst du mir also?« wollte Atréju wissen.
»Du wirst tun müssen, was alle tun müssen«, antwortete der Gnom.
»Warten, wie sie entscheiden - ohne zu wissen warum.«
Atréju nickte nachdenklich.
Die kleine Urgl kam aus der Höhle. Sie schleppte ein Eimerchen mit einer dampfenden Flüssigkeit, unter dem anderen Arm hatte sie einige Bündel getrockneter Pflanzen. Vor sich hinmurmelnd ging sie zu dem Glücksdrachen hinüber, der noch immer reglos schlief. Sie begann auf ihm herumzuklettern und die Umschläge auf seinen Wunden zu erneuern. Ihr riesenhafter Patient seufzte nur einmal zufrieden und streckte sich aus, sonst schien er von der Behandlung kaum etwas zu bemerken.
»Könntest dich lieber auch ein bißchen nützlich machen«, sagte sie zu Engywuck, als sie noch einmal in die Küche zurücklief, »anstatt hier herumzuhocken und Unsinn zu schwätzen.« »Mache mich sehr nützlich«, rief ihr Mann ihr nach, »vielleicht nützlicher als du, aber das wirst du nie begreifen, einfältiges Weib!«
Und zu Atréju gewandt fuhr er fort: »Sie kann nur ans Praktische denken.
Für die großen Überblicke hat sie einfach keinen Sinn.«
Die Turmuhr schlug drei.
Wenn überhaupt, dann hatte der Vater spätestens jetzt gemerkt, daß Bastian nicht nach Hause gekommen war. Ob er sich wohl Sorgen machte?
Vielleicht würde er losgehen und ihn suchen. Vielleicht hatte er schon die
Polizei benachrichtigt. Am Ende wurden schon Fahndungsmeldungen im Rundfunk durchgegeben. Bastian fühlte einen Stich in der Magengrube.
Und wenn es so war, wo würden sie ihn suchen? In der Schule?
Vielleicht sogar hier auf dem Dachboden?Hatte er überhaupt die Tür abgeschlossen, als er vom Klo zurückkam ? Er konnte sich nicht mehr erinnern. Er stand auf, um nachzusehen. Ja, die Tür war verschlossen und verriegelt.
Draußen begann es schon langsam dämmerig zu werden. Das Licht, das durch die Dachluke hereinkam, wurde unmerklich schwächer.