Die Urgl kam an Atréju vorbei, kicherte und sagte: »Er meint’s nicht so, der alte Schrumpfkopf. Ist nur wieder mal schrecklich enttäuscht wegen seiner lächerlichen Forschungen. Möchte eben zu gern der sein, der das große Rätsel gelöst hat. Der berühmte Gnom Engywuck. Nimm’s ihm nicht übel!«
»Nein«, sagte Atréju, »sage ihm bitte, daß ich ihm von ganzem Herzen danke für alles, was er für mich getan hat. Und auch dir danke ich. Wenn es mir erlaubt ist, werde ich ihm das Geheimnis sagen - falls ich zurückkomme.«
»Willst du uns denn verlassen?« fragte die alte Urgl.
»Ich muß«, antwortete Atréju, »ich darf keine Zeit verlieren. Ich werde jetzt ins Orakel gehen. Leb wohl! Und hüte mir inzwischen Fuchur, den Glücksdrachen!«
Damit wandte er sich ab und ging fort, auf das Große Rätsel Tor zu.
Die Urgl sah seine aufrechte Gestalt mit dem wehenden Mantel zwischen den Felsen verschwinden. Sie lief ihm nach und rief:
»Viel Glück, Atréju!«
Aber sie wußte nicht, ob er es noch gehört hatte. Während sie in ihre kleine Höhle zurückwatschelte, brummte sie vor sich hin: »Er wird es nötig haben - wahrhaftig, wird viel Glück nötig haben.«
Atréju hatte sich dem Felsentor bis auf etwa fünfzig Schritte genähert. Es war viel riesenhafter, als er es sich aus der Entfernung vorgestellt hatte.
Dahinter lag die vollkommen öde Ebene, die dem Auge keinen einzigen Anhaltspunkt bot, so daß der Blick wie ins Leere stürzte. Vor dem Tor und zwischen den beiden Pfeilern sah Atréju nun unzählige Totenschädel und Gerippe liegen - die Knochenreste der verschiedenartigsten Bewohner Phantasiens, die versucht hatten, das Tor zu durchschreiten und durch den Blick der Sphinxen für immer erstarrt waren.
Aber nicht das war es, was Atréju dazu veranlaß te, stehenzubleiben. Was ihn innehalten ließ, das war der Anblick der Sphinxen.
Atréju hatte manches erfahren auf seiner Großen Suche, er hatte Herrliches und Entsetzliches gesehen, aber was er bis zu dieser Stunde noch nicht gewußt hatte, war, daß es beides in einem gibt, daß Schönheit schrecklich sein kann.
Das Mondlicht überflutete die beiden gewaltigen Wesen, und während er langsam auf sie zuging, schienen sie ins Unendliche zu wachsen. Ihm war, als ob sie mit den Häuptern bis zum Mond emporreichten, und der Ausdruck, mit welchem sie einander anblickten, schien sich mit jedem Schritt, den er näher kam, zu wandeln. Durch die hochaufgerichteten Leiber, vor allem aber durch die menschenähnlichen Gesichter liefen und zuckten Ströme einer furchtbaren, unbekannten Kraft-so als wären sie nicht einfach da, wie Marmorstein eben vorhanden ist, sondern so als wären sie jeden Augenblick im Begriff zu verschwinden und würden gleichzeitig aus sich selbst heraus neu erschaffen. Und es war, als seien sie gerade deshalb viel wirklicher als jeder Fels.
Atréju empfand Furcht.
Es war nicht so sehr die Furcht vor der Gefahr, die ihm drohte, es war eine Furcht, die über ihn selbst hinausging. Er dachte kaum daran, daß er -
falls der Blick der Sphinxen ihn treffen würde - für immer festgebannt und erstarrt stehenbleiben müßte. Nein, es war die Furcht vor dem Unbegreiflichen, vor dem über alle Maßen Großartigen, vor der
Wirklichkeit des Übermächtigen, die seine Schritte immer schwerer machte, bis er sich fühlte, als sei er aus kaltem, grauem Blei.
Dennoch ging er weiter. Er blickte nicht mehr empor. Er hielt den Kopf gesenkt und ging sehr langsam, Fuß vor Fuß, auf das Felsentor zu. Und immer gewaltiger wurde die Last der Furcht, die ihn zu Boden drücken wollte. Doch er ging weiter. Er wußte nicht, ob die Sphinxen ihre Augen geschlossen hatten oder nicht. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Er mußte es darauf ankommen lassen, ob er Zutritt erhalten würde oder ob dies das Ende seiner Großen Suche war.
Und gerade in dem Augenblick, als er glaubte, alle Kraft seines Willens reiche nicht mehr aus, um ihn auch nur noch einen einzigen Schritt vorwärts zu tragen, hörte er den Widerhall dieses Schrittes im Inneren des Felsenbogens. Und zugleich fiel alle Furcht von ihm ab, so völlig und ohne Rest, daß er fühlte, er würde von nun an nie wieder Furcht empfinden, was auch geschehen mochte.
Er hob den Kopf und sah, daß das Große Rätsel Tor hinter ihm lag. Die Sphinxen hatten ihn durchgelassen.
Vor ihm, nur etwa zwanzig Schritte entfernt, stand nun dort, wo zuvor nur die endlose leere Ebene zu sehen gewesen war, das Zauber Spiegel Tor.
Es war groß und rund wie eine zweite Mondscheibe (denn die richtige schwebte noch immer hoch droben am Himmel) und glänzte wie blankes Silber. Es war schwer zu glauben, daß man gerade durch diese metallene Fläche sollte hindurchgehen können, doch Atréju zögerte keinen Augenblick. Er rechnete damit, daß ihm, wie Engywuck es beschrieben hatte, irgendein Entsetzen erregendes Bild seiner selbst in diesem Spiegel ent gegentreten würde, doch das erschien ihm nun - da er alle Furcht zurückgelassen hatte - kaum noch der Beachtung wert.
Indessen, statt eines Schreckbildes sah er etwas, worauf er ganz und gar nicht gefaßt gewesen war und das er auch nicht begreifen konnte. Er sah einen dicken Jungen mit blassem Gesicht etwa ebenso alt wie er selbst - der mit untergeschlagenen Beinen auf einem Mattenlager saß und in einem Buch las. Er war in graue, zerrissene Decken gewickelt. Die Augen dieses Jungen waren groß und sahen sehr traurig aus. Hinter ihm waren einige reglose Tiere im Dämmerlicht auszumachen, ein Adler, eine Eule und ein Fuchs, und noch weiter entfernt schimmerte etwas, das wie ein weißes Gerippe aussah. Genau war es nicht zu erkennen.
Bastian fuhr zusammen, als er begriff, was er da eben gelesen hatte. Das war ja er! Die Beschreibung stimmte in allen Einzelheiten. Das Buch begann in seinen Händen zu zittern. Jetzt ging die Sache entschieden zu weit! Es war doch überhaupt nicht möglich, daß in einem gedruckten Buch etwas stehen konnte, was nur in diesem Augenblick und nur für ihn zutraf.
Jeder andere würde an dieser Stelle dasselbe lesen. Es konnte gar nichts anderes sein als ein verrückter Zufall. Obgleich es ohne Zweifel ein höchst merkwürdiger Zufall war. »Bastian«, sagte er laut vor sich hin, »du bist wirklich ein Spinner.Nimm dich gefälligst zusammen!«
Er hatte es in möglichst strengem Ton zu sagen versucht, aber seine Stimme zitterte ein wenig, denn so ganz überzeugt war er nicht davon, daß es nur ein Zufall war. »Stell dir vor«, dachte er, »wenn sie in Phantasien wirklich etwas von dir wüßten. Das wäre fabelhaft.«
Aber er traute sich nicht, es laut zu sagen.
Nur ein kleines erstauntes Lächeln lag auf Atréjus Lippen, als er in das Spiegelbild hineinging - er war ein wenig verwundert, daß ihm so leicht gelingen sollte, was anderen unüberwindlich schwer geschienen hatte. Doch während er hindurchging, fühlte er ein seltsames, prickelndes Erschauern.
Und er ahnte nicht, was in Wahrheit mit ihm geschehen war: Als er nämlich auf der anderen Seite des Zauber Spiegel Tors stand, da hatte er jede Erinnerung an sich selbst, an sein bisheriges Leben, an seine Ziele und Absichten vergessen. Er wußte nichts mehr von der Großen Suche, die ihn hierhergeführt hatte, und kannte nicht einmal mehr seinen eigenen Namen. Er war wie ein neugeborenes Kind.
Vor sich, nur wenige Schritte entfernt, sah er das Ohne Schlüssel Tor, aber Atréju erinnerte sich weder an diese Bezeichnung noch daran, daß er vorgehabt hatte hindurchzugehen, um ins Südliche Orakel zu kommen . Er wußte überhaupt nicht, was er da wollte oder sollte und warum er hier war.
Er fühlte sich leicht und sehr heiter, und er lachte ohne Grund, nur einfach aus Vergnügen.
Das Tor, das er vor sich sah, war klein und niedrig wie eine gewöhnliche Pforte, die ganz für sich - ohne umgebende Mauern - auf der öden Fläche stand. Und der Türflügel dieser Pforte war geschlossen.
Atréju betrachtete ihn eine Weile. Er schien aus einem Material zu bestehen, das kupferfarben schimmerte. Das war hübsch, doch verlor Atréju nach einiger Zeit das Interesse daran. Er ging um die Pforte herum und betrachtete sie von der Rückseite, aber der Anblick unterschied sich nicht von dem der Vorderseite. Auch gab es weder eine Klinke noch einen Türknauf, noch ein Schlüsselloch darin. Offensichtlich war die Tür nicht zu öffnen, und wozu auch, da sie ja nirgendwohin führte und nur einfach so dastand. Denn hinter der Pforte war nur die weite, glatte und vollkommen leere Ebene.
Atréju hatte Lust, wegzugehen. Er wandte sich zurück, ging auf das runde Zauber Spiegel Tor zu und betrachtete dessen Rückseite einige Zeit, ohne zu begreifen, was es bedeuten solle. Er beschloß, fortzugehen,
»Nein, nein, nicht fortgehen!« sagte Bastian laut, »kehr um, Atréju. Du mußt durch das Ohne Schlüssel Tor!«
wandte sich dann aber doch wieder dem Ohne Schlüssel Tor zu. Er wollte noch einmal den kupfernen Schimmer betrachten. So stand er wieder vor der Pforte, neigte sich nach links und nach rechts und freute sich. Er strich zärtlich über das seltsame Material. Es fühlte sich warm und sogar lebendig an. Und die Tür öffnete sich einen Spalt.
Atréju steckte den Kopf hindurch, und nun sah er etwas, das er vorher, als er um die Pforte herumgegangen war, nicht auf der anderen Seite gesehen hatte. Er zog den Kopf wieder zurück und blickte an der Pforte vorbei: Da war nur die leere Ebene. Er blickte wieder durch den Türspalt und sah einen langen Gang, den unzählige mächtige Säulen bildeten. Und dahinter waren Stufen und andere Säulen und Terrassen und wieder Treppen und ein ganzer Wald von Säulen. Doch keine von diesen Säulen trug ein Dach. Denn darüber war der Nachthimmel zu sehen.
Atréju trat durch die Pforte und blickte voll Staunen umher. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloß.
Die Turmuhr schlug vier.
Das trübe Tageslicht, das durch die Dachluke fiel, war mehr und mehr geschwunden. Es war einfach zu dunkel, um weiterzulesen. Schon die letzte Seite hatte Bastian nur noch mit Mühe entziffern können. Er legte das Buch beiseite.