Was sollte er jetzt tun?
Sicherlich gab es doch auf diesem Speicher elektrisches Licht. Bastian tappte im Halbdunkel zur Tür und tastete die Wand ab. Er konnte keinen Schalter finden. Auch auf der anderen Seite war keiner.
Bastian holte eine Schachtel Streichhölzer aus der Hosentasche (er hatte immer welche bei sich, weil er gern Feuerchen machte), aber sie waren feucht, und erst das vierte brannte. Beim schwachen Schein der kleinen Flamme suchte er nach einem Lichtschalter, aber da war keiner.
Damit hatte er nicht gerechnet. Bei der Vorstellung, daß er hier den ganzen Abend und die ganze Nacht in völliger Finsternis sitzen sollte, wurde ihm kalt vor Schreck. Er war zwar kein kleines Kind mehr, und zu Hause oder an irgendeinem anderen bekannten Ort fürchtete er sich durchaus nicht vor der Dunkelheit, aber hier oben auf diesem riesigen Speicher mit all den sonderbaren Sachen war das etwas ganz anderes.
Das Streichholz verbrannte ihm die Finger, und er warf es fort.
Eine Weile stand er bloß da und horchte. Der Regen hatte nachgelassen und trommelte nur noch ganz leise auf das große Blechdach.
Dann fiel ihm der siebenarmige, verrostete Kerzenleuchter ein, den er unter dem Gerümpel entdeckt hattte. Er tastete sich zu der Stelle hin, fand ihn und schleppte ihn zu seinen Turnmatten hinüber.
Er zündete die Dochte der dicken Wachsstümpfe an - alle sieben - und alsbald verbreitete sich goldenes Licht. Die Flammen knisterten leise und schwankten manchmal im Luftzug hin und her.
Bastian atmete auf und griff wieder nach dem Buch.
7. Die Stimme der Stille
Glücklich lächelnd wanderte Atréju in den Säulenwald hinein, der im hellen Mondlicht schwarze Schatten warf. Tiefe Stille umgab ihn, er hörte kaum das Tappen seiner bloßen Füße. Er wußte nicht mehr, wer er war und wie er hieß, nicht wie er hierhergekommen war und was er hier suchte.Er war voller Staunen, aber ganz sorglos.
Der Boden war allenthalben mit Mosaik bedeckt, das rätselhaft verschlungene Ornamente oder geheimnisvolle Szenen und Bilder darstellte. Atréju ging darüber hin, stieg breite Treppen hinauf gelangte auf weite Terrassen, stieg wieder Treppen hinunter und ging durch eine lange Allee aus steinernen Säulen. Er betrachtete sie, eine nach der anderen. und freute sich daran, daß jede auf eine andere Art verziert und mit .anderen Zeichen bedeckt war. So bewegte er sich immer weiter fort vom Ohne Schlüssel Tor.
Nachdem er, wer weiß wie lang, immer so gegangen war, vernahm er schließlich aus der Ferne einen schwebenden Klang und blieb lauschend stehen. Der Klang kam näher, es war eine singende Stimme, sehr schön und glockenrein und hoch wie die eines Kindes, aber sie klang unendlich traurig, ja, manchmal schien sie sogar zu schluchzen. Dieses Klagelied liet zwischen den Säulen hm, rasch wie ein Windhauch, dann wieder blieb es an einem Ort stehen, sehwebte auf und nieder, näherte sich und entfernte sich wieder und schien Atréju in einem weiten Bogen zu umkreisen.
Er regte sich nicht und wartete.
Nach und nach wurden die Kreise enger, welche die Stimme um Atréju beschrieb, und nun konnte er die Worte verstehen, die sie sang:
»Ach, alles ereignet sich einmal nur,
aber einmal muß alles geschehen.
Über Berg und Tal, über Feld und Flur
werd’ ich vergehen, verwehen…«
Atréju drehte sich der Stimme nach, die ruhelos zwischen den Säulen hin und her flog, aber er konnte dort niemand sehen.
»Wer bist du?« rief er.
Und wie ein Echo kam die Stimme zurück: »Wer bist du?«
Atréju dachte nach.
»Wer ich bin?« murmelte er, »ich kann es nicht sagen. Es kommt mir vor als ob ich es einmal gewußt hätte. Aber ist das denn wichtig?«Die singende Stimme antwortete:
»Willst du mich fragen insgeheim,
sprich im Gedicht mit mir, im Reim,
denn was man nicht in Versen spricht,
versteh’ ich nicht - versteh’ ich nicht…«
Atréju war nicht sehr geübt darin, Reime und Verse zu machen, und es schien ihm, daß die Unterhaltung sich wohl einigermaßen schwierig gestalten würde, wenn die Stimme nur verstand, was sich reimte. Er mußte erst eine Weile grübeln, ehe er hervorbrachte:
»Wenn mir die Frage gestattet ist,
dann wüßt’ ich gerne, wer du bist.«
Und sogleich antwortete die Stimme:
»Nun nehm’ ich dich wahr!
So versteh’ ich dich klar!«
Und dann sang sie aus einer anderen Richtung:
»Ich danke dir, Freund,
denn gut ist dein Wille.
Du bist mir willkommen als Gast.
Ich bin Uyulála, die Stimme der Stille,im Tiefen Geheimnis Palast.«
Atréju fiel auf, daß die Stimme manchmal lauter und manchmal leiser erklang, aber niemals ganz verstummte. Auch wenn sie keine Worte sang, oder wenn er zu ihr sprach, immerfort schwebte ein Ton um ihn her, der andauerte.