Um seine Unruhe loszuwerden, lief Bastian ein bißchen im Speicher hin und her. Dabei entdeckte er eine Menge Sachen, die eigentlich gar nichts mit den Schulgegenständen zu tun hatten, die sonst hier waren. So zum Beispiel ein altes, verbeultes Trichtergrammophon - wer weiß, wann und von wem es hierhergebracht worden war? In einer Ecke standen mehrere Gemälde in verschnörkelten Goldrahmen, auf denen fast nichts mehr zu sehen war, außer da und dort ein blasses, streng blickendes Gesicht, das aus dem dunklen Hintergrund hervorschimmerte. Es gab auch einen von Rost zerfressenen siebenarmigen Kerzenleuchter, in dem noch die Stümpfe dicker Wachslichter steckten, die lange Tropfenbärte gebildet hatten.
Dann erschrak Bastian, denn in einem dunklen Winkel bewegte sich eine Gestalt. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, daß dort ein großer, halbblinder Spiegel stand, in dem er undeutlich sich selbst gesehen hatte. Er ging näher heran und betrachtete sich eine Weile. Schön war er wahrhaftig nicht mit seiner dicken Figur und den X-Beinen und diesem käsigen Gesicht. Er schüttelte langsam den Kopf und sagte laut:
»Nein!«
Dann ging er zu seinem Mattenlager zurück. Er mußte das Buch jetzt schon nahe an seine Augen halten, um weiterlesen zu können.
»Wo waren wir stehengeblieben?« fragte Engywuck.
»Beim Großen Rätsel Tor«, erinnerte ihn Atréju.
»Richtig! Nehmen wir an, es ist dir gelungen, durchzukommen. Dann -
und erst dann - wird für dich das zweite Tor da sein. Das Zauber Spiegel Tor. Kann dir darüber, wie gesagt, nichts aus eigener Beobachtung sagen,
sondern nur das, was ich an Berichten gesammelt habe. Dieses zweite Tor ist sowohl offen als auch geschlossen. Hört sich verrückt an, wie? Vielleicht sagt man besser, es ist weder geschlossen noch offen. Obwohl es dadurch nicht weniger verrückt wird. Kurzum: Es handelt sich dabei um einen großen Spiegel oder so was, obwohl die Sache weder aus Glas noch aus Metall besteht. Woraus, hat mir nie jemand sagen können. Jedenfalls, wenn man davorsteht, dann sieht man sich selbst -aber eben nicht wie in einem gewöhnlichen Spiegel, versteht sich. Man sieht nicht sein Äußeres, sondern man sieht sein wahres inneres Wesen, so wie es in Wirklichkeit beschaffen ist. Wer da durch will, der muß - um es mal so auszudrücken - in sich selbst hineingehen.«
»Jedenfalls«, meinte Atréju, »scheint mir dieses Zauber Spiegel Tor leichter zu durchschreiten als das erste.«
»Irrtum!« rief Engywuck und begann wieder aufgeregt hin-und her zu laufen, »ganz gewaltiger Irrtum, mein Freund! Habe erlebt, daß gerade solche Besucher, die sich für besonders untadelig hielten, schreiend vor dem Ungeheuer geflohen sind, das ihnen in dem Spiegel ent gegengrinste.
Manche mußten wir sogar wochenlang kurieren, ehe sie überhaupt wieder in der Lage waren, die Heimreise anzutreten.«
»Wir!« brummte die Urgl, die eben mit einem neuen Eimerchen vorbeikam, »ich höre immer wir. Wen hast du denn kuriert?«
Engywuck winkte nur mit der Hand ab.
»Andere«, fuhr er in seinem Vortrag fort, »haben offenbar noch viel Schrecklicheres gesehen, hatten aber den Mut, trotzdem durchzugehen. Für manche war es auch weniger erschreckend, aber Überwindung kostete es jeden. Man kann darüber nichts sagen, was für alle Geltung hätte. Ist für jeden anders.«
»Gut«, sagte Atréju, »aber man kann jedenfalls hindurchgehen durch diesen Zauberspiegel?« »Kann man«, bestätigte der Gnom, »natürlich kann man, sonst war’s ja kein Tor. Logisch, nicht wahr?«
»Man kann ja auch außen herumgehen«, meinte Atréju, »oder nicht?«
»Kann man«, wiederholte Engywuck, »kann man durchaus! Nur ist dann dahinter nichts mehr. Das dritte Tor ist erst da, wenn man durch das zweite gegangen ist, wie oft muß man dir das noch sagen!«
»Und was hat es mit diesem dritten Tor auf sich?«
»Hier wird die Sache überhaupt erst richtig schwierig! Das Ohne Schlüssel Tor ist nämlich zu. Einfach zu. Punktum! Da gibt’s keine Klinke und keinen Knauf und kein Schlüsselloch, nichts ! Nach meiner Theorie besteht der einzige Türflügel, der fugenlos schließt, aus phantásischem Selen. Du weißt vielleicht, daß es nichts gibt, womit man phantásisches Selen zerstören, verbiegen oder auflösen kann. Ist absolut unzerstörbar.«
»Also kann man überhaupt nicht durch dieses Tor?«
»Langsam, langsam, mein Junge! Es sind ja Leute hineingekommen und haben mit der Uyulála gesprochen, nicht wahr? Also kann man die Tür öffnen.«
»Aber wie?«
»Hör zu: Phantásisches Selen reagiert nämlich auf unseren Willen.
Gerade unser Wille ist es, der es so unnachgiebig macht. Je mehr einer hinein will, desto fester schließt die Tür. Aber wenn es einer fertigbringt, jede Absicht zu vergessen und gar nichts zu wollen - vor dem öffnet sich die Tür ganz von selbst.«
Atréju senkte den Blick und sagte leise : »Wenn das wahr ist - wie soll es mir dann möglich sein, hindurchzukommen? Wie könnte ich es nicht wollen?«
Engywuck nickte seufzend.
»Sagte ja schon: Das Ohne Schlüssel Tor ist am schwersten.«
»Und wenn es mir dennoch gelingen sollte«, fuhr Atréju fort, »bin ich dann im Südlichen Orakel?«
»Ja«, sagte der Gnom.
»Und werde ich mit der Uyulála sprechen können?«
»Ja«, sagte der Gnom.
»Und wer oder was ist die Uyulála?«
»Keine Ahnung«, sagte der Gnom, und seine Augen funkelten wütend,
»niemand von allen, die bei ihr waren, hat es mir verraten wollen. Wie soll da einer sein wissenschaftliches Werk zu Ende bringen, wenn alle sich in geheimnisvolles Schweigen hüllen, he? Es ist zum Haareausraufen - wenn man noch welche hat. Wenn du bis zu ihr vordringst, Atréju, wirst du mir’s
dann endlich sagen ? Wirst du ? Ich komm noch um vor Wißbegier, und niemand, niemand will mir helfen. Bitte, versprich mir, daß du mir’s sagen wirst!«
Atréju stand auf und blickte zu dem Großen Rätsel Tor hinüber, das im hellen Mondschein lag.
»Ich kann es dir nicht versprechen, Engywuck«, sagte er leise, »obgleich ich dir gern meine Dankbarkeit beweisen würde. Aber wenn niemand je darüber gesprochen hat, wer oder was die Uyulála ist, so muß es einen Grund dafür geben. Und ehe ich den nicht kenne, kann ich nicht darüber entscheiden, ob einer es wissen darf, der nicht selbst vor ihr gestanden hat.«
»Dann mach, daß du wegkommst!« schrie der Gnom ihn an, und seine Äuglein sprühten förmlich Funken. »Nichts als Undank erntet man! Da bemüht man sich ein Leben lang, ein Geheimnis von allgemeinem Interesse zu erforschen. Aber Hilfe bekommt man nicht. Ich hätte mich überhaupt nicht um dich kümmern sollen!«
Damit rannte er in die kleine Höhle hinein, in deren Innerem das heftige Zuschlagen eines Türchens zu hören war.