aber die tiefe Stimme sprach unerbittlich weiter und nun hörte er ganz deutlich, wie sie sagte:
»… Manieren hast du nicht für fünf Pfennig, sonst hättest du dich wenigstens erst mal vorgestellt.«
»Ich heiße Bastian«, sagte der Junge, »Bastian Balthasar Bux.«
In diesem Augenblick machte Bastian eine schwerwiegende Erfahrung: Man kann davon überzeugt sein, sich etwas zu wünschen - vielleicht jahrelang - solang man weiß, daß der Wunsch unerfüllbar ist. Steht man aber plötzlich vor der Möglichkeit, daß der Wunschtraum Wirklichkeit wird, dann wünscht man sich nur noch eins: Man hätte es sich nie gewünscht. So jedenfalls erging es Bastian.
Jetzt, wo es unerbittlicher Ernst wurde, wäre er am liebsten davongelaufen. Nur, daß es in diesem Fall kein »davon« mehr gab. Und deshalb tat er, was ihm freilich ganz und gar nichts nützen konnte: Er stellte sich einfach tot wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt. Er wollte so tun, als gäbe es ihn nicht, er wollte sich still halten und so klein wie möglich machen.
Der Alte vom Wandernden Berge fuhr fort zu erzählen und zugleich von neuem aufzuschreiben, wie Bastian das Buch gestohlen hatte, wie er auf den Speicher des Schulhauses geflohen war und dort zu lesen anfing. Und nun begann Atréjus Suche noch einmal, er kam zur Uralten Morla und fand Fuchur in Ygramuls Netz am Tiefen Abgrund, wo er Bastians Schreckensruf hörte. Noch einmal wurde er von der alten Urgl geheilt und von Engywuck belehrt. Er schritt durch die drei Magischen Tore und ging in Bastians Bild hinein und redete mit der Uyulála. Und dann kamen die Windriesen und Spukstadt und Gmork und Atréjus Rettung und Rückkehr zum Elfenbeinturm. Und dazwischen geschah auch alles das, was Bastian erlebt hatte, das Anzünden der Kerzen und wie er die Kindliche Kaiserin gesehen hatte und sie vergeblich darauf wartete, daß er käme. Und noch einmal machte sie sich auf, um den Alten vom Wandernden Berge zu suchen, noch einmal stieg sie die Buchstabenleiter empor und trat in das Ei und noch einmal vollzog sich das ganze Gespräch, Wort für Wort, das die beiden miteinander geführt hatten und das damit endete, daß der Alte vom Wandernden Berge die Unendliche Geschichte zu schreiben und zu erzählen
begann. Und hier fing alles wieder von vorne an - unverändert und unabänderlich -und wiederum endete alles bei der Begegnung der Kindlichen Kaiserin mit dem Alten vom Wandernden Berge, der abermals die Unendliche Geschichte zu schreiben und zu erzählen begann…
… .und es würde in alle Ewigkeit so fortgehen, denn es war ja ganz unmöglich, daß etwas sich am Ablauf der Dinge ändern konnte. Nur er allein, Bastian, konnte eingreifen’. Und er mußte es tun, wenn er nicht selbst in diesem Kreislauf eingeschlossen bleiben wollte. Ihm kam es so vor, als habe sich die Geschichte schon tausendmal wiederholt, nein, als gäbe es kein Vorher und kein Nachher, sondern als sei alles für immer gleichzeitig da. Jetzt begriff er, warum die Hand des Alten gezittert hatte.
Der Kreis der ewigen Wiederkehr war das Ende ohne Ende! Bastian fühlte nicht, daß ihm Tränen über das Gesicht liefen. Fast besinnungslos schrie er plötzlich: »Mondenkind! Ich komme!«
Im selben Augenblick geschahen mehrere Dinge zugleich.
Die Schale des großen Eis wurde von einer ungeheuren Gewalt in Stücke gesprengt, wobei ein dunkles Donnergrollen zu hören war. Dann brauste ein Sturmwind von fern heran
und fuhr aus den Seiten des Buches heraus, das Bastian auf den Knieen hielt, so daß sie wild zu flattern begannen. Bastian fühlte den Sturm in seinem Haar und Gesicht, er nahm ihm fast den Atem, die Kerzenflammen des siebenarmigen Leuchters tanzten und legten sich waagrecht, und dann fuhr ein zweiter, noch gewaltigerer Sturmwind in das Buch hinein und die Lichter erloschen. Die Turmuhr schlug zwölf.
13. Perelin der Nachtwald
Mondenkind,ich komme!« sagte Bastian noch einmal leise in die Dunkelheit hinein. Er fühlte von diesem Namen eine unbeschreiblich süße, tröstliche Kraft ausgehen, die ihn ganz erfüllte. Darum sagte er ihn gleich noch ein paarmal vor sich hin:
»Mondenkind ! Mondenkind! Ich komme, Mondenkind! Ich bin schon da.« Aber wo war er?
Er konnte nicht den geringsten Lichtschein sehen, aber was ihn umgab, war nicht mehr die frostige Finsternis des Speichers, sondern ein samtenes, warmes Dunkel, in dem er sich geborgen und glücklich fühlte.
Alle Angst und Beklemmung war von ihm abgefallen. Er erinnerte sich nur noch daran, wie an etwas längst Vergangenes. Ihm war so heiter und leicht zumut, daß er sogar leise lachte. »Mondenkind, wo bin ich?« fragte er.
Er fühlte die Schwere seines Körpers nicht mehr. Er tastete mit den Händen herum und wurde sich bewußt, daß er schwebte. Da waren keine Matten mehr und kein fester Boden. Es war eine wunderbare, nie gekannte Empfindung, ein Gefühl von Losgelöstheit und grenzenloser Freiheit.
Nichts, was ihn je belastet und beengt hatte, konnte ihn nun noch erreichen.
Schwebte er am Ende irgendwo im Weltall? Aber im Weltall gab es doch Sterne und er konnte nichts dergleichen sehen. Es gab nur noch das samtene Dunkel und ihm war so wohl, so wohl wie nie zuvor in seinem Leben. War er vielleicht gestorben?
»Mondenkind, wo bist du?«
Und nun hörte er eine vogelzarte Stimme, die ihm antwortete und vielleicht schon mehrmals geantwortet hatte, ohne daß er dessen
innegeworden war. Er hörte sie ganz nah und hätte doch nicht sagen können, aus welcher Richtung sie kam:
»Hier bin ich, mein Bastian.«
»Mondenkind, bist du’s?«
Sie lachte auf eine eigentümlich singende Art.
»Wer sollte ich wohl sonst sein. Du hast mir doch eben erst diesen schönen Namen gegeben. Ich danke dir dafür. Sei mir willkommen, mein Retter und mein Held.«
»Wo sind wir, Mondenkind?«»Ich bin bei dir, und du bist bei mir.«
Es war wie ein Gespräch im Traum, und doch wußte Bastian ganz sicher, daß er wach war und nicht träumte.
»Mondenkind«, flüsterte er, »ist das nun das Ende?«
»Nein«, antwortete sie, »es ist der Anfang.«
»Wo ist Phantasien, Mondenkind? Wo sind die anderen alle? Wo ist Atréju und Fuchur? Ist denn alles verschwunden? Und der Alte vom Wandernden Berge und sein Buch? Gibt es sie nicht mehr?«
»Phantasien wird aus deinen Wünschen neu entstehen, mein Bastian.
Durch mich werden sie Wirklichkeit.«
»Aus meinen Wünschen?« wiederholte Bastian staunend.
»Du weißt doch«, hörte er die süße Stimme, »daß man mich die Gebieterin der Wünsche nennt. Was wirst du dir wünschen?«
Bastian dachte nach, dann fragte er vorsichtig:
»Wieviele Wünsche habe ich denn frei?«
»Soviele du willst-je mehr, desto besser, mein Bastian. Um so reicher und vielgestaltiger wird Phantasien sein.«
Bastian war überrascht und überwältigt. Aber gerade weil er sich plötzlich einer Unendlichkeit von Möglichkeiten gegenüber sah, fiel ihm überhaupt kein Wunsch ein. »Ich weiß nichts«, sagte er schließlich.