Im Halbkreis um dieses Ei und dahinter ragten größere blaue Zapfen wie die Pfeifen einer gewaltigen Orgel in die Höhe und bildeten den eigentlichen Gipfel. Das große Ei hatte eine kreisrunde Öffnung, die wie eine Tür oder wie ein Fenster aussah. Und in dieser Öffnung erschien nun ein Gesicht, das der Sänfte entgegenblickte.
Als habe die Kindliche Kaiserin diesen Blick gespürt, schlug sie die Augen auf und erwiderte ihn.
»Halt!« sagte sie leise.
Die unsichtbaren Mächte blieben stehen.
Die Kindliche Kaiserin richtete sich auf.
»Er ist es«, fuhr sie fort. »Es muß sein, daß ich das letzte Stück des Weges allein zu ihm gehe. Wartet hier auf mich, was auch immer geschehen mag.«
Das Gesicht in der kreisrunden Öffnung des Eis war verschwunden.
Die Kindliche Kaiserin stieg aus der Sänfte und machte sich auf den Weg über die weite Schneefläche. Es war ein mühevoller Gang, denn sie war barfuß und der Schnee war harschig. Bei jedem Schritt brach sie durch die Eiskruste und der glasharte Schneeharsch zerschnitt ihre zarten Füße. Der eisige Wind zerrte an ihrem weißen Haar und Gewand.
Endlich hatte sie den blauen Berg erreicht und stand vor den glasglatten Zapfen. Aus der kreisrunden, dunklen Öffnung des großen Eis schob sich eine lange Leiter hervor, viel, viel länger, als sie überhaupt in dem Ei Platz gehabt haben konnte. Schließlich reichte sie bis zum Fuß des blauen Berges hinunter, und als die Kindliche Kaiserin sie ergriff, sah sie, daß sie sich ganz und gar aus aneinanderhängenden Buchstaben zusammensetzte, und jede Sprosse war eine Zeile. Die Kindliche Kaiserin machte sich an den Aufstieg, und während sie Sprosse um Sprosse erklomm, las sie zugleich die Worte:
KEHR UM KEHR UM GEH FORT GEH FORT
ZU KEINER ZEIT AN KEINEM ORT
DARFST DU MICH TREFFEN LASS ES SEIN
GERADE DIR UND DIR ALLEIN
MUSS ICH DEN WEG VERWEHREN
KEHR UM LASS DICH BELEHREN
BEGEGNEST DU MIR ALTEM MANN
GESCHIEHT WAS NICHT GESCHEHEN KANN
DER ANFANG SUCHT DAS ENDE AUF
KEHR UM KEHR UM STEIG NICHT HINAUF
SONST WIRST DU NUR ERREICHEN
VERWIRRUNG OHNEGLEICHEN
Sie hielt inné, um neue Kräfte zu sammeln, und blickte nach oben. Es ging noch sehr hoch hinauf. Bis jetzt hatte sie noch nicht einmal die Hälfte hinter sich gebracht. »Alter vom Wandernden Berge«, sagte sie laut, »wenn du nicht willst, daß wir uns begegnen, dann hättest du mir diese Leiter nicht zu schreiben brauchen. Dein Verbot zu kommen ist es, das mich zu dir bringt.« Und sie stieg weiter.
WAS DU ERSCHAFFST UND WAS DU BIST
BEWAHRE ICH ALS DER CHRONIST
BUCHSTABE TOT UNWANDELBAR
WIRD ALLES WAS EINST LEBEN WAR
WILLST DU ZU MIR NUN STREBEN
ES WIRD EIN UNHEIL GEBEN
HIER ENDET WAS DURCH DICH BEGINNT
DU WIRST NIE ALT SEIN KAISERKIND.
ICH ALTER WAR NIE JUNG WIE DU.
WAS DU ERREGST BRING ICH ZUR RUH
DEM LEBEN IST VERBOTEN
SICH SELBST ZU SEHN IM TOTEN.
Wieder mußte sie innehalten, um zu Atem zu kommen. Sie war nun schon sehr hoch und die Leiter schwankte im Schneesturm wie ein Zweig.
Die Kindliche Kaiserin klammerte sich an den eisigen Buchstaben-Sprossen fest und stieg auch noch das letzte Stück der Leiter empor.
UND HÖRST DU AUF DIE WARNUNG NICHT
DIE SO BEREDT DIE LEITER SPRICHT
UND BIST DU DOCH ZU TUN BEREIT
WAS NICHT SEIN DARF IN RAUM UND ZEIT