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»Ist er - wie du?«

»Er ist wie ich«, erwiderte sie, »denn er ist in allem mein Gegenteil.«

Atréju sah ein, daß er auf diese Weise nichts von ihr erfahren würde.

Außerdem beunruhigte ihn ein anderer Gedanke:

»Du bist todkrank, Goldäugige Gebieterin der Wünsche«, sagte er beinahe streng, »und allein wirst du nicht weit kommen können. Soweit ich sehe, haben dich alle deine Diener und Getreuen verlassen. Fuchur und ich werden dich gern begleiten wohin auch immer, aberehrlich gesagt-ich weiß nicht, ob Fuchurs Kräfte noch ausreichen. Und mein Fuß - nun, du hast ja selbst gesehen, daß er mich nicht mehr trägt.«

»Danke, Atréju«, erwiderte sie, »danke für dein tapferes und treues Angebot. Aber ich gedenke nicht, euch mitzunehmen. Den Alten vom Wandernden Berg findet man nur allein. Und Fuchur ist auch schon nicht mehr dort, wo du ihn zurückgelassen hast. Er befindet sich jetzt an einem Ort, wo all seine Wunden heilen und all seine Kräfte erneuert werden. Und auch du, Atréju, wirst bald an jenem Ort sein.«

Ihre Finger spielten mit AURYN.

»Welcher Ort ist das?«

»Das brauchst du jetzt nicht zu wissen. Du wirst schlafend dort hingelangen. Der Tag wird kommen, an dem du erkennen sollst, wo du warst.«

»Aber wie kann ich schlafen«, rief Atréju und vor Besorgtheit vergaß er jede rücksichtsvolle Ausdrucksweise, »wenn ich weiß, daß du jeden

Augenblick sterben kannst!«Die Kindliche Kaiserin lachte wieder leise.

»Ich bin nicht ganz so verlassen, wie du glaubst. Ich sagte dir schon, daß es manches gibt, was für dich unsichtbar ist. Ich habe meine sieben Mächte um mich, die zu mir gehören wie zu dir deine Erinnerung oder dein Mut oder deine Gedanken. Du kannst sie nicht sehen, noch hören, und doch sind sie alle bei mir in diesem Augenblick. Drei von ihnen will ich bei dir und Fuchur lassen, damit sie euch betreuen. Vier nehme ich mit mir und sie werden mich begleiten. Du aber, Atréju, kannst getrost schlafen.«

Bei diesen Worten der Kindlichen Kaiserin fiel plötzlich alle Müdigkeit, die während der Großen Suche in ihm entstanden war, über Atréju wie ein dunkler Schleier. Aber es war nicht die steinschwere Müdigkeit der Erschöpfung, sondern eine ruhevolle und friedliche Sehnsucht nach Schlaf.

So vieles hatte er die Goldäugige Gebieterin der Wünsche noch fragen wollen, doch nun war ihm, als habe sie durch ihr Wort allen Wünschen in seinem Herzen Einhalt geboten und nur einen einzigen, übermächtigen übrig gelassen, den nach Schlaf. Die Augen fielen ihm zu und sitzend, ohne umzusinken, war er schon ins Dunkel hinübergeglitten.

Die Turmuhr schlug elf.

Wie aus weiter Ferne hörte Atréju noch, daß die Kindliche Kaiserin mit leiser, sanfter Stimme einen Befehl gab, dann fühlte er sich von mächtigen Armen behutsam emporgehoben und fortgetragen.

Lange war es dunkel und warm um ihn. Viel, viel später erwachte er einmal halb, als ein köstliches Naß seine trockenen, aufgesprungenen Lippen berührte und durch seine Kehle rann. Undeutlich sah er um sich etwas, wie eine große Höhle, deren Wände nur aus Gold zu bestehen schienen. Und er sah den weißen Glücksdrachen neben sich liegen. Und dann sah er oder ahnte es mehr, daß in der Mitte der Höhle eine Quelle sprudelte, und um diese Quelle lagen zwei Schlangen, die einander in den Schwanz bissen, eine helle und eine dunkle… Aber dann strich eine unsichtbare Hand über seine Augen, und das tat unsagbar gut, und Atréju versank wieder in tiefen traumlosen Schlaf.

Zur gleichen Zeit verließ die Kindliche Kaiserin den Elfenbeinturm. Sie lag auf weiche, seidene Kissen gebettet in einer Sänfte aus Glas, die

von vieren ihrer unsichtbaren Diener getragen wurde, so dais es den Anschein hatte, als schwebte diese Sänfte langsam von selbst dahin.

Sie durchquerten das Gartenlabyrinth, oder vielmehr, das was davon noch übrig war, oft mußten sie Umwege machen, da viele der Pfade schon ins Nichts mündeten. Als sie schließlich den äußersten Rand der Ebene erreichten und das Labyrinth verließen, hielten die unsichtbaren Träger inné. Sie schienen auf einen Befehl zu warten. Die Kindliche Kaiserin richtete sich in ihren Kissen auf und warf einen Blick zurück auf den Elfenbeinturm.

Und während sie in ihre Kissen zurücksank, sagte sie: »Geht weiter!

Geht einfach weiter irgendwohin!« Ein Windstoß fuhr in ihr schneeweißes Haar. Es wehte lang und schwer wie eine Fahne hinter der gläsernen Sänfte her.

12. Der Alte vom wandernden Berge Lawinen stürzten donnernd über zerklüftete Bergwände, Schneestürme tobten zwischen den Felsentürmen eisgepanzerter Gipfelgrate, verfingen sich heulend in Höhlen und Schluchten, und fegten von neuem über die weiten Flächen der Gletscher. Es war für diese Landschaft durchaus kein ungewöhnliches Wetter, denn das Schicksalsgebirge - so war sein Name -

war das größte und höchste in ganz Phantasien und sein mächtigster Gipfel reichte buchstäblich bis in Himmelshöhen hinauf.

In diese Region des ewigen Eises wagten sich auch die kühnsten Bergsteiger nicht. Oder genauer gesagt: Es war schon so undenkbar lange Zeit her, daß einem der Aufstieg gelungen war, daß niemand mehr davon wußte. Denn dies war eines der unbegreiflichen Gesetze, von denen es im phantåsischen Reich viele gab: Das Schicksalsgebirge konnte erst dann von einem Gipfelstürmer bezwungen werden, wenn der vorhergehende, der es vermocht hatte, ganz und gar vergessen war und auch keine steinerne oder eherne Inschrift mehr von ihm zeugte. So war jeder, der es vollbrachte, immer der erste.

Hier oben konnte kein lebendes Wesen existieren, außer einigen riesenhaften Eisbolden - falls man diese überhaupt zu den lebenden Wesen rechnen wollte, denn sie bewegten sich so unvorstellbar langsam, daß sie Jahre zu einem einzigen Schritt brauchten und Jahrhunderte zu einem kleinen Spaziergang. So war es klar, daß sie nur mit ihresgleichen verkehren konnten und vom Vorhandensein der übrigen phantåsischen Welt nicht die geringste Ahnung hatten. Sie hielten sich für die einzigen Lebewesen des Universums.

Um so fassungsloser glotzten sie nun auf jenes winzige Pünktchen hinunter, das sich auf gewundenen Wegen, auf kaum betretbaren Felsvorsprüngen

an

eisglänzenden

senkrechten

Wänden,

über

messerscharfe Grate und durch tiefe Schluchten und Risse, immer mehr dem Gipfel näherte.

Es war die gläserne Sänfte, in der die Kindliche Kaiserin ruhte und die von vieren ihrer unsichtbaren Mächte getragen wurde. Sie hob sich kaum von der Umgebung ab, denn das Glas der Sänfte glich einem klaren Stück Eis, und das weiße Gewand und die Haare der Kindlichen Kaiserin waren vom Schnee ringsum fast nicht zu unterscheiden. Lang war sie nun schon unterwegs, viele Tage und Nächte, durch Regen und Sonnenglut, durch Finsternisse und Mondlicht hatten die vier Mächte ihre Sänfte getragen, immer weiter, wie sie es befohlen hatte, immer weiter, irgendwohin. Sie machte keinen Unterschied zwischen dem, was für sie erträglich und dem, was für sie unerträglich sein mochte, so wie sie früher alles in ihrem Reich, das Finstere und das Lichte, das Schöne und das Häßliche hatte gleich gelten lassen. Sie war bereit, sich allem auszusetzen, denn der Alte vom Wandernden Berge konnte überall und nirgends sein.

Dennoch war die Wahl des Weges, den ihre vier unsichtbaren Mächte einschlugen, nicht ganz zufällig. Immer häufiger ließ das Nichts, das nun schon ganze Länder verschlungen hatte, ihnen nur einen einzigen Pfad als Ausweg frei. Manchmal war es eine Brücke, eine Höhle oder ein Tor gewesen, durch das sie gerade noch hatten entschlüpfen können, manchmal waren es sogar die Wellen eines Sees oder eines Meeresarms, über die die Mächte die Sänfte mit der Todkranken hintrugen, denn für diese Träger gab es keinen Unterschied zwischen fest und flüssig.

Und so waren sie schließlich in die eisstarrende Gipfelwelt des Schicksalsgebirges emporgestiegen und stiegen weiter, unaufhaltsam und unermüdlich. Und ehe die Kindliche Kaiserin ihnen keinen anderslautenden Befehl gab, würden sie sie immer weiter emportragen. Aber sie lag in ihren Kissen, hatte die Augen geschlossen und regte sich nicht. So lag sie schon seit langem. Und das letzte Wort, das sie gesprochen hatte, war jenes

»irgendwohin« gewesen, das sie beim Abschied vom Elfenbeinturm befohlen hatte.

Die Sänfte bewegte sich jetzt durch eine tiefe Klamm, einen Einschnitt zwischen zwei Felswänden, die kaum weiter auseinander standen, als die Sänfte breit war. Der Boden war mit lockerem Schnee bedeckt, der metertief sein mochte, aber die unsichtbaren Träger sanken nicht ein und hinterließen noch nicht einmal Fußstapfen. Es war sehr dunkel am Grunde

dieser Felsenspalte, denn das Tageslicht war nur ein schmaler Streifen hoch droben. Der Weg führte sacht aufwärts und je höher die Sänfte kam, desto näher rückte der Streifen Tageslicht. Dann, fast unerwartet, traten die Felswände plötzlich ganz beiseite und gaben den Blick auf eine weite, weißglitzernde Fläche frei. Dies war die höchste Stelle, denn das Schicksalsgebirge gipfelte nicht in einer Spitze, wie die meisten anderen Berge, sondern in dieser Hochebene, die so weit war wie ein Land.

Jetzt aber erhob sich mitten auf dieser Fläche überraschenderweise ein kleinerer Berg von eigentümlichem Aussehen. Er war ziemlich schmal und hoch, ähnlich wie der Elfenbeinturm, aber von leuchtendem Blau. Er bestand aus vielen bizarr geformten Zacken, die wie lauter riesenhafte umgekehrte Eiszapfen in den Himmel ragten. Etwa auf halber Höhe dieses Berges stand auf drei solchen Zackenspitzen ein Ei von der Größe eines Hauses.

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