»Weil du den Glanz trägst, Herr. AURYN schützt dich - sogar vor dem Tödlichen aller Wesen Phantásiens, vor mir.«
»Willst du damit sagen, wenn ich das Kleinod nicht hätte, müßte auch ich zu einem Häuflein Asche verbrennen?«
»So ist es, Herr, und es würde geschehen, auch wenn ich selbst es beklagen müßte. Denn du bist der erste und einzige, der je mit mir geredet hat.«
Bastian griff nach dem Zeichen. »Danke, Mondenkind!« sagte er leise.
Graograman richtete sich wieder zu seiner vollen Höhe auf und blickte auf Bastian nieder. »Ich glaube, Herr, wir haben uns manches zu sagen.
Vielleicht kann ich dir Geheimnisse enthüllen, die du nicht kennst.
Vielleicht kannst auch du mir das Rätsel meines Daseins erklären, das mir verborgen ist.«
Bastian nickte.
»Wenn es möglich ist, möchte ich nur bitte gern zuerst etwas trinken. Ich bin sehr durstig.« »Dein Diener hört und gehorcht«, antwortete Graograman, »willst du geruhen, Herr, dich auf meinen Rücken zu setzen?
Ich werde dich in meinen Palast tragen, wo du alles finden wirst, dessen du bedarfst.«
Bastian schwang sich auf den Rücken des Löwen. Er hielt sich mit beiden Händen in der Mähne fest, deren einzelne Locken loderten wie Stichflammen. Graograman wandte den Kopf nach ihm.
»Halte dich gut fest, Herr, denn ich bin ein schneller Läufer. Und noch eines will ich dich bitten, Herr: Solang du in meinem Reich bist oder gar mit mir zusammen - versprich mir, daß du aus keinem Grund und auch nicht für den kleinsten Augenblick das schützende Kleinod ablegst!«
»Ich verspreche es dir«, sagte Bastian.
Dann setzte der Löwe sich in Bewegung, erst noch langsam und würdevoll, dann immer schneller und schneller. Staunend beobachtete Bastian, wie bei jedem neuen Sandhügel Fell und Mähne des Löwen die Farbe wechselten, immer der Farbe der Düne entsprechend. Aber schließlich sprang Graograman in mächtigen Sätzen von einem Gipfel zum nächsten, er raste dahin und seine gewaltigen Pranken berührten kaum noch den Boden. Der Wechsel der Farben in seinem Fell vollzog sich immer geschwinder, bis es Bastian vor den Augen zu flimmern begann und er alle Farben zugleich sah, so als wäre das ganze riesige Tier ein einziger irisierender Opal. Er mußte die Augen schließen. Der Wind, heiß wie die Hölle, pfiff ihm um die Ohren und zerrte an seinem Mantel, der hinter ihm dreinflatterte. Er fühlte die Bewegung der Muskeln im Körper des Löwen und roch das Mähnengestrüpp, das einen wilden, erregenden Duft ausströmte. Er stieß einen gellenden, triumphierenden Schrei aus, der wie der eines Raubvogels klang, und Graograman antwortete ihm mit einem Brüllen, das die Wüste erbeben ließ. Für diesen Augenblick waren sie beide eins, wie groß auch sonst der Unterschied zwischen ihnen sein mochte.
Bastian war wie in einem Rausch, aus dem er erst wieder zu sich kam, als er Graograman sagen hörte:
»Wir sind angelangt, Herr. Willst du geruhen, abzusteigen?«
Mit einem Sprung landete Bastian auf dem Sandboden. Vor sich erblickte er einen zerklüfteten Berg aus schwarzem Felsgestein - oder war es die Ruine eines Bauwerks? Er hätte es nicht zu sagen vermocht, denn die Steine, die halb vom bunten Sand verweht umherlagen oder zerfallene Torbogen, Mauern, Säulen und Terrassen bildeten, waren von tiefen Sprüngen und Rissen durchzogen und auf eine Art ausgehöhlt, als habe seit Urzeiten der Sandsturm all ihre Kanten und Unebenheiten abgeschliffen.
»Dies, Herr«, hörte Bastian die Löwenstimme sagen, »ist mein Palast -
und mein Grab. Tritt ein und sei willkommen als der erste und einzige Gast Graogramàns. «
Die Sonne hatte ihre sengende Kraft bereits verloren und stand groß und blaßgelb über dem Horizont. Offenbar hatte der Ritt viel länger gedauert, als er Bastian vorgekommen war. Die Säulenstümpfe oder Felsnadeln, was immer es nun sein mochte, warfen schon lange Schatten. Bald würde es Abend sein.
Als Bastian dem Löwen durch einen dunklen Torbogen folgte, der ins Innere von Graogramàns Palast führte, kam es ihm so vor, als ob dessen Schritte weniger kraftvoll als vorher, ja müde und schwerfällig seien.Durch einen dunklen Gang, über verschiedene Treppen, die abwärts und wieder aufwärts führten, gelangten sie zu einer großen Tür, deren Flügel ebenfalls aus schwarzem Fels zu bestehen schienen. Als Graogramán auf sie zutrat, sprang sie von selbst auf, und als auch Bastian hindurchgegangen war, schloß sie sich wieder hinter ihm.
Sie standen nun in einem weitläufigen Saal, oder besser gesagt, einer Höhle, die durch Hunderte von Ampeln erleuchtet wurde. Das Feuer in ihnen glich dem bunten Flammenspiel in Graogramáns Fell. In der Mitte erhob sich der mit farbigen Fliesen bedeckte Boden stufenförmig zu einer runden Fläche, auf der ein schwarzer Felsblock ruhte. Graograman wandte Bastian langsam seinen Blick zu, der nun wie erloschen wirkte.
»Meine Stunde ist nahe Herr«, sagte er und seine Stimme klang wie ein Raunen, »uns wird keine Zeit mehr bleiben für unser Gespräch. Doch sei unbesorgt und warte auf den Tag. Was immer geschehen ist, wird auch diesmal geschehen. Und vielleicht wirst du mir sagen können, warum.«
Dann wandte er den Kopf nach einer kleinen Pforte am anderen Ende der Höhle. »Tritt dort ein, Herr, du wirst alles für dich bereit finden. Dieses Gemach wartet auf dich seit undenklicher Zeit.«
Bastian ging auf die Pforte zu, doch ehe er sie öffnete, blickte er noch einmal zurück. Graograman hatte sich auf dem schwarzen Steinblock niedergelassen und nun war er selbst schwarz wie der Fels. Mit einer Stimme, die fast nur noch ein Flüstern war, sagte er: »Höre, Herr, es ist möglich, daß du Laute vernehmen wirst, die dich erschrecken. Aber sei ohne Sorge! Dir kann nichts geschehen, solang du das Zeichen trägst.«
Bastian nickte, dann trat er durch die Pforte.
Vor ihm lag ein Raum, der aufs herrlichste ausgeschmückt war. Der Boden war mit weichen, farbenprächtigen Teppichen ausgelegt. Die
schmalen Säulen, welche ein vielfach geschwungenes Gewölbe trugen, waren mit Goldmosaik bedeckt, das das Licht der Ampeln, die auch hier in allen Farben leuchteten, in tausend Brechungen zurückwarf. In einer Ecke stand ein breiter Diwan mit weichen Decken und Kissen aller Art, über den sich ein Zelt aus azurblauer Seide spannte. In der anderen Ecke war der Felsenboden zu einem großen Schwimmbecken ausgehauen, in welchem eine goldfarbene leuchtende Flüssigkeit dampfte. Auf einem niedrigen Tischchen standen Schüsseln und Schalen mit Speisen, auch eine Karaffe mit einem rubinroten Getränk und ein goldener Becher.
Bastian setzte sich im Türkensitz an dem Tischchen nieder und griff .u.
Das Getränk schmeckte herb und wild und löschte auf wunderbare Weiseden Durst. Die Speisen waren ihm alle völlig unbekannt. Er hätte nochnicht einmal sagen können, ob es sich dabei um Pasteten handelte, odergroße Schoten, oder Nüsse. Manches sah zwar aus wie Kürbisse undMelonen, aber der Geschmack war ganz und gar anders, scharf undwürzig. Es schmeckte auf regend und köstlich. Bastian aß bis er sattwar.span>
Dann zog er sich aus - nur das Zeichen nahm er nicht ab - und stieg in das Bad. Eine Weile plätscherte er in der feurigen Flut herum, wusch sich, tauchte unter und prustete wie ein Walroß. Dann entdeckte er kurios aussehende Flaschen, die am Rande des Schwimmbeckens standen. Er hielt sie für Badeessenzen. Unbekümmert schüttete er von jeder Sorte etwas ins Wasser. Ein paarmal gab es grüne, rote und gelbe Flammen, die auf der Oberfläche hin-und herzischten und ein wenig Rauch stieg auf. Es roch nach Harz und bitteren Krautern. Schließlich stieg er aus dem Bad, trocknete sich mit weichen Tüchern ab, die bereit lagen, und zog sich wieder an. Dabei kam es ihm so vor, als ob die Ampeln im Raum plötzlich düsterer brannten. Und dann drang ein Laut an sein Ohr, der ihm einen kalten Schauder über den Rücken lagte: ein Knirschen und Knacken, als ob ein großer Fels vom Eis zersprengt würde, und verklang in einem Ächzen, das immer leiser wurde.
Bastian lauschte mit klopfendem Herzen. Er dachte an Graogramáns Worte, daß er sich nicht beunruhigen solle.
Der Laut wiederholte sich nicht. Aber die Stille war fast noch schrecklicher. Er mußte wissen, was da geschehen war!
Er öffnete die Tür des Schlafgemaches und blickte in die große Höhle hinaus. Zunächst konnte er keine Veränderung entdecken, außer daß die Ampeln trüber brannten und ihr Licht wie ein immer langsamer werdender Herzschlag zu pulsieren begann. Der Löwe saß noch immer m derselben Haltung auf dem schwarzen Felsblock und schien Bastian anzublicken.
»Graograman!« rief Bastian leise, »was geschieht hier? Was war das für ein Laut? Warst du es?«Der Löwe antwortete nicht und regte sich nicht, aber als Bastian zu ihm trat, folgte er ihm mit den Augen.
Bastian streckte zögernd die Hand aus, um die Mähne zu streicheln, doch kaum hatte er sie berührt, fuhr er erschrocken zurück. Sie war hart und eiskalt wie der schwarze Fels. Ebenso fühlten sich Graogramáns Gesicht und Pranken an.
Bastian wußte nicht, was er tun sollte. Er sah, daß die schwarzen Steinflügel der großen Tür sich langsam öffneten. Erst als er schon in dem langen dunklen Gang war und die Treppen hinaufstieg, fragte er sich, was er dort draußen eigentlich sollte. Es konnte ja niemand in dieser Wüste sein, der Graogramán zu retten vermochte.
Aber da war keine Wüste mehr!
In der nächtlichen Dunkelheit begann es überall zu glimmen und zu glitzern. Millionen winziger Pflanzenkeime sproßten aus den Sandkörnern, die nun wieder Samenkörner waren. Perelïn, der Nachtwald, hatte von neuem zu wachsen begonnen!
Bastian ahnte plötzlich, daß die Erstarrung Graogramáns damit auf irgendeine Weise zusammenhing.