»Aber woran erkennst du, daß es die Stelle von gestern ist?«
»Ich fühle es, wie ich eine Stelle an meinem Leib fühle. Die Wüste ist ein Teil von mir.« Bastian stieg von Graógramáns Rücken und setzte sich auf den olivgrünen Gipfel. Der Löwe lagerte sich neben ihn, er war nun ebenfalls olivgrün. Bastian stützte das Kinn in die Hand und schaute nachdenklich zum Horizont.
»Kann ich dich etwas fragen, Graógramán?« sagte er nach langem Schweigen. »Dein Diener hört«, gab der Löwe zur Antwort.
»Bist du wirklich schon seit immer hier?«
»Seit immer«, bestätigte Graógramán.
»Und die Wüste Goab, hat es sie auch immer schon gegeben?«
»Ja, auch die Wüste. Warum fragst du?«
Bastian dachte eine Weile nach.
»Ich versteh’s nicht«, gab er schließlich zu. »Ich hätte gewettet, daß sie erst seit gestern morgen da ist.«
»Wie meinst du das, Herr?«
Und nun erzählte ihm Bastian alles, was er erlebt hatte, seit er Mondenkind begegnet war. »Es ist alles so sonderbar«, schloß er seinen Bericht, »mir kommt irgendein Wunsch und dann passiert immer gleich etwas, das dazu paßt und den Wunsch erfüllt. Ich denk’ mir das nicht aus, weißt du? Das könnte ich gar nicht. Nie hätte ich all die verschiedenen Nachtpflanzen in Perelïn erfinden können. Oder die Farben von Goab - oder dich! Alles ist viel großartiger und wirklicher, als ich mir’s vorstellen könnte. Und trotzdem, alles ist immer erst da, wenn ich mir was gewünscht habe.«
»Das kommt, weil du AURYN, den Glanz, trägst«, sagte der Löwe.
»Was ich nicht verstehe, ist etwas anderes«, versuchte Bastian zu erklären. »Ist das alles erst da, wenn ich mir was gewünscht habe? Oder war es vorher schon da und ich hab’s nur irgendwie erraten?«
»Beides«, sagte Graógramán.
»Aber wie kann denn das sein?« rief Bastian fast ungeduldig. »Du bist doch schon wer weiß wie lang hier in der Farbenwüste Goab. Das Zimmer in deinem Palast hat auf mich seit jeher gewartet. Das Schwert Síkanda war seit undenklichen Zeiten für mich bestimmt - das hast du doch selbst gesagt!«
»So ist es, Herr.«
»Aber ich, ich bin doch erst seit gestern nacht in Phantasien! Dann gibt es das alles doch nicht erst, seit ich hier bin!«
»Herr«, antwortete der Löwe ruhig, »weißt du nicht, daß Phantasien das Reich der Geschichten ist? Eine Geschichte kann neu sein und doch von uralten Zeiten erzählen. Die Vergangenheit entsteht mit ihr.«
»Dann müßte ja auch Perelïn schon immer bestanden haben«, meinte Bastian ratlos. »Von dem Augenblick an, da du ihm seinen Namen gabst, Herr«, erwiderte Graógramán, »hat er seit jeher bestanden.«
»Willst du damit sagen, daß ich ihn geschaffen habe?«
Der Löwe schwieg eine Weile, ehe er antwortete: »Das kann dir nur die Kindliche Kaiserin sagen. Von ihr hast du alles empfangen.«
Er erhob sich.
»Es ist Zeit, Herr, daß wir zu meinem Palast zurückkehren. Die Sonne neigt sich schon und der Weg ist weit.«
An diesem Abend blieb Bastian bei Graógramán, der sich wieder auf dem schwarzen Felsblock niedergelassen hatte. Sie sprachen nicht mehr viel miteinander. Bastian holte sich die Speisen und das Getränk aus dem Schlafgemach, wo das niedrige Tischchen wieder wie von Geisterhand gedeckt stand. Er verzehrte die Mahlzeit auf den Stufen sitzend, die zu dem Felsblock emporführten.
Als das Licht der Ampeln düsterer wurde und wie ein immer langsamer werdender Herzschlag zu pulsieren begann, stand er auf und legte stumm seine Arme um den Hals des Löwen. Die Mähne war hart und sah aus wie
erstarrte Lava. Und dann kam wieder dieser schreckliche Laut, aber Bastian kannte keine Furcht mehr. Was ihm abermals die Tränen in die Augen trieb, war Trauer über die Unabänderlichkeit der Leiden Graógramáns.Später in der Nacht tastete Bastian sich wieder ins Freie hinaus und schaute lange Zeit dem lautlosen Wachstum der leuchtenden Nachtpflanzen zu. Dann kehrte er in die Höhle zurück und legte.sich wieder zwischen den Pranken des versteinerten Löwen schlafen.
Viele Tage und Nächte blieb er beim Bunten Tod zu Gast und sie wurden Freunde. Manche Stunde in der Wüste verbrachten sie mit wilden Spielen.
Bastian versteckte sich zwischen den Sanddünen, aber Graógramán fand ihn immer. Sie liefen um die Wette, aber der Löwe war tausendmal schneller. Sie kämpften sogar zum Spaß miteinander, sie rangen und balgten sich - und hier war Bastian ihm ebenbürtig. Obwohl es natürlich nur Spiel war, mußte Graógramán alle seine Kräfte anstrengen, um sich dem Jungen gewachsen zu zeigen. Keiner von beiden konnte den anderen besiegen.
Einmal, nachdem sie so getobt hatten, setzte sich Bastian etwas außer Atem hin und fragte: »Kann ich nicht für immer bei dir bleiben?«
Der Löwe schüttelte die Mähne.
»Nein, Herr.«
»Warum nicht?«
»Hier gibt es nur Leben und Tod, nur Perelín und Goab, aber keine Geschichte. Du mußt deine Geschichte erleben. Du darfst nicht hier bleiben.«
»Aber ich kann doch nicht fort«, meinte Bastian. »Die Wüste ist viel zu groß, als daß irgend jemand aus ihr hinaus könnte. Und du kannst mich nicht bringen, weil du die Wüste mit dir trägst.«
»Die Wege Phantásiens«, sagte Graógramán, »kannst du nur durch deine Wünsche finden. Und du kannst immer nur von einem Wunsch zum nächsten gehen. Was du nicht wünschst, ist für dich unerreichbar. Das bedeuten hier die Worte >nah< und >fern<. Und es genügt auch nicht, nur von einem Ort fortgehen zu wollen. Du mußt zu einem anderen hinstreben.
Du mußt dich von deinen Wünschen führen lassen.«
»Aber ich wünsche mich gar nicht fort«, antwortete Bastian.
»Du wirst deinen nächsten Wunsch finden müssen«, erwiderte Graógramán beinahe streng. »Und wenn ich ihn finde«, fragte Bastian, »wie werde ich dann von hier fortgehen können?« »Höre, Herr«, sprach Graógramán leise, »es gibt in Phantasien einen Ort, der überall hinführt und von überall her erreicht werden kann. Dieser Ort wird der Tausend Türen Tempel genannt. Niemand hat ihn je von außen gesehen, denn er hat kein Äußeres. Sein Inneres aber besteht aus einem Irrgarten von Türen. Wer ihn kennen lernen will, der muß sich hineinwagen.«
»Wie kann man das, wenn man sich ihm von außen gar nicht nähern kann?« »Jede Tür«, fuhr der Löwe fort, »jede Tür in ganz Phantasien, sogar eine ganz gewöhnliche Stall-oder Küchentür, ja, sogar eine Schranktür kann in einem bestimmten Augenblick zur Eingangspforte in den Tausend Türen Tempel werden. Ist der Augenblick vorüber, so ist sie wieder, was sie vorher war. Darum kann niemand je zum zweiten Mal durch dieselbe Tür gehen. Und keine der tausend Türen führt dorthin zurück, wo man herkam.
Es gibt keine Rückkehr.«