»Ich weiß, wer du bist, Herr.«
»Woher willst du das wissen?«
»Wenn man bloß ein halber Esel ist wie ich und kein ganzer, dann fühlt man so was. Sogar die Pferde haben etwas gemerkt. Du brauchst mir nichts zu sagen, Herr. Ich würde es gern meinen Kindern und Enkeln erzählen können, daß ich den Retter getragen und als erste begrüßt habe. Leider hat unsereins keine Kinder.«
»Wie heißt du?« fragte Bastian.
»Jicha, Herr.«
»Hör mal, Jicha, verdirb mir nicht den Spaß und behalte vorerst für dich, was du weißt. Willst du?«
»Gern, Herr.«
Und dann setzte die Mauleselin sich in Trab, um die anderen wieder einzuholen. Die Gruppe wartete am Waldrand. Alle blickten bewundernd zu der Stadt Amargánth hinunter, die im Sonnenschein vor ihnen glänzte. Der Waldrand lag auf einer Anhöhe, und von hier aus hatte man einen weiten Ausblick über einen großen, fast veilchenblauen See, der zu allen Seiten von ähnlichen bewaldeten Hügeln umgeben war. Und mitten in diesem See lag die Silberstadt Amargánth. Alle Häuser standen auf Schiffen, die großen Paläste auf breiten Lastkähnen, die kleineren auf Barken und Booten. Und jedes Haus und jedes Schiff bestand aus Silber, aus feinziseliertem und kunstvoll verziertem Silber. Die Fenster und Türen der kleinen und großen Paläste, die Türmchen und Balkone, waren aus Silberfiligran so wundervoller Art, daß es in ganz Phantasien nicht seinesgleichen gab.
Allenthalben auf dem See waren Boote und Barken zu sehen, die Besucher von den Ufern in die Stadt brachten. So beeilte sich nun auch Held Hynreck und seine Begleitung den Strand zu erreichen, wo eine Silberfähre mit
herrlich geschwungenem Bug wartete. Die ganze Gesellschaft samt Pferden und Saumtier fand darauf Platz.
Unterwegs erfuhr Bastian von dem Fährmann, der übrigens ein Kleid aus Silbergewebe trug, daß die veilchenblauen Wasser des Sees so salzig und bitter waren, daß nichts auf die Dauer ihrer zersetzenden Wirkung widerstehen konnte - nichts, außer dem Silber. Der See hieß Murhu oder der Tränensee. In langst vergangenen Zeiten habe man die Stadt Amargánth mitten auf den See hinausgefahren, um sie gegen Überfälle zu sichern, denn wer auch immer auf Holzschiffen oder Eisenkähnen versucht habe, sie zu erreichen, sei untergegangen und verloren gewesen, weil das Wasser Schiff und Besatzung in kurzer Zeit aufgelöst habe. Aber jetzt habe man einen anderen Grund, Amargánth auf dem Wasser zu lassen. Die Bewohner liebten es nämlich, ihre Häuser ab und zu umzugruppieren und Straßen und Plätze neu zusammenzustellen. Wenn zum Beispiel zwei Familien, die an den entgegengesetzten Rändern der Stadt wohnten, sich befreundeten oder miteinander verwandt wurden, weil ihre jungen Leute heirateten, dann verließen sie ihren bisherigen Standort und legten ihre Silberschiffe einfach nebeneinander, wodurch sie Nachbarn wurden. Das Silber war, nebenbei bemerkt, besonderer Art und ebenso einmalig wie die unvergleichliche Schönheit seiner Bearbeitung.
Bastian hätte gern noch mehr darüber gehört, aber die Fähre war in der Stadt angekommen, und er mußte mit seinen Reisegenossen aussteigen.
Zunächst suchten sie nun eine Herberge, um Unterkunft für sich und ihre Tiere zu finden. Das war nicht ganz leicht, denn Amargánth war von Reisenden, die von nah und fern zu den Wettkämpfen gekommen waren, förmlich erobert. Aber schließlich fanden sie doch noch Platz in einem Gasthaus. Als Bastian die Mauleselin in den Stall führte, flüsterte er ihr noch ins Ohr:
»Vergiß nicht, was du versprochen hast, Jicha. Wir sehen uns bald wieder.« Jicha nickte nur mit dem Kopf.
Danach erklärte Bastian seinen Reisegenossen, daß er ihnen nicht länger zur Last fallen wolle, sondern gern auf eigene Faust die Stadt besichtigen würde. Er bedankte sich bei ihnen für ihre Freundlichkeit und verabschiedete sich. In Wirklichkeit brannte er natürlich darauf, Atréju zu finden.
Die großen und kleinen Schiffe waren untereinander durch Stege verbunden, manche schmal und zierlich, so daß jeweils nur eine Person darüber gehen konnte, andere breit und prächtig wie Straßen, auf denen sich die Menge drängte. Es gab auch geschwungene Brücken mit Dächern darüber, und in den Kanälen zwischen den Palastschiffen fuhren Hunderte von kleinen Silbernachen hin und her. Doch wo man auch ging und stand, immerfort fühlte man unter den Sohlen ein leichtes Heben und Senken des Bodens, das einen daran erinnerte, daß die ganze Stadt auf dem Wasser schwamm.
Die Menge der Besucher, von der die Stadt schier überzukochen schien, war so bunt und vielgestaltig, daß ihre Beschreibung ein eigenes Buch füllen würde. Die Amargánther waren leicht zu erkennen, denn sie alle trugen die Kleidung aus Silbergewebe, das fast so schön war wie Bastians Mantel. Auch ihre Haare waren silbern, sie waren groß und wohlgestalt und hatten Augen, so veilchenblau wie Murhu, der Tränensee. Nicht ganz so schön war der größte Teil der Besucher. Da gab es muskelbepackte Riesen mit Köpfen, die zwischen ihren gewaltigen Schultern klein wie Äpfel aussahen. Da liefen finster und verwegen aussehende Nacht-Rabauken herum, einzelgängerische Kerle, denen man ansah, daß mit ihnen nicht gut Kirschen essen war. Da gab es Firlefänze mit flinken Augen und flinken Händen, und Berserker, die breitspurig daherkamen, und denen Rauch aus Mund und Nase stieg. Da wirbelten Spiegelfechter herum wie lebendige Kreisel, und Waldschratte trotteten auf knorrigen Beinen daher, dicke Keulen über den Schultern. Einmal sah Bastian sogar einen Felsenbeißer, dessen Zähne wie stählerne Meißel aus seinem Mund ragten. Der silberne Steg bog sich unter seinem Gewicht, als er seines Weges einherstampfte.
Aber ehe Bastian ihn fragen konnte, ob er vielleicht Pjörnrachzarck hieß, war er im Gedränge verschwunden. Schließlich erreichte Bastian das Zentrum der Stadt. Und hier war es, wo die Wettkämpfe stattfanden. Sie waren bereits in vollem Gang. Auf einem großen, runden Platz, der wie eine riesenhafte Zirkusarena aussah, maßen Hunderte von Wettkämpfern ihre Kräfte und zeigten, was sie konnten. Um das weite Rund drängte sich eine Menge von Zuschauern, welche die Wettkämpfer durch Zurufe anfeuerten, auch die Fenster und Balkone der umliegenden Schiffs-Paläste quollen fast über von Zuschauern, und manchen war es gar gelungen, auf die silberfiligrangeschmückten Dächer hinaufzuklettern.
Aber Bastian war zunächst nicht so sehr an dem Schauspiel interessiert, das die Wettkämpfer boten. Er wollte Atréju finden, der ja gewiß von irgendeinem Punkt aus den Spielen zusah. Und dann beobachtete er, daß die Menge immer wieder erwartungsvoll zu einem bestimmten Palast hinblickte - vor allem dann, wenn einem der Wettstreiter offenbar ein besonders eindrucksvolles Stückchen gelungen war. Aber Bastian mußte sich erst über eine der geschwungenen Brücken drängen und dann an einer Art Laternenpfahl emporklettern, ehe er einen Blick auf jenen Palast werfen konnte.
Auf einem breiten Balkon waren dort zwei hohe Stühle aus Silber aufgestellt. Auf dem einen saß ein sehr alter Mann, dessen silbernes Bart-und Haupthaar bis auf den Gürtel herabwallte. Das mußte Quérquobad, der Silbergreis, sein. Neben ihm saß ein Junge, etwa in Bastians Alter. Er trug lange Hosen aus weichem Leder, sein Oberkörper war nackt, so daß man seine olivgrüne Haut sehen konnte. Der Ausdruck des schmalen Gesichtes war ernst, ja beinahe streng. Das lange, blauschwarze Haar trug er in einem Schöpf, der mit Lederschnüren zusammengebunden war, auf dem Hinterkopf. Um seine Schultern lag ein purpurroter Mantel. Er blickte ruhig und doch eigentümlich angespannt auf den Kampfplatz hinunter. Nichts schien seinen dunklen Augen zu entgehen. Atréju!
In diesem Augenblick erschien in der offenen Balkontür hinter Atréju noch ein anderes, sehr großes Gesicht, das löwenähnlich aussah, nur daß es anstelle eines Fells weiße Perlmutterschuppen hatte und vom Maul lange weiße Barten herunterhingen. Die Augenbälle waren rubinrot und funkelten, und als sich der Kopf nun hoch über Atréju hob, sah man, daß er auf einem langen, geschmeidigen und ebenfalls mit Perlmutterschuppen bedeckten Hals saß, von dem eine Mähne wie weißes Feuer herunterfiel. Es war Fuchur, der Glücksdrache. Und er schien Atréju etwas ins Ohr zu sagen, denn dieser nickte.
Bastian ließ sich wieder von dem Laternenpfahl herabgleiten. Er hatte genug gesehen. Jetzt wandte er seine Aufmerksamkeit den Wettkämpfern zu. Im Grunde genommen handelte es sich dabei nicht so sehr um wahre und wirkliche Kämpfe, als vielmehr um eine Art Zirkusvorstellung in großem Maßstab. Zwar gab es da gerade einen Ringkampf zwischen zwei Riesen, deren Leiber zu einem einzigen gewaltigen Knoten verschlungen waren, der hin und her rollte, zwar gab es da und dort Paare gleicher oder
ganz verschiedener Art, die ihre Kunst im Schwertfechten oder im Handhaben der Keule oder der Lanze vorführten, aber natürlich gingen sie sich dabei nicht ernstlich an Leib und Leben. Es gehörte sogar auch zu den Spielregeln, zu zeigen, wie fair und anständig einer kämpfte und wie gut er sich in der Gewalt hatte. Ein Wettkämpfer, der sich aus Zorn oder Ehrgeiz hätte hinreißen lassen, seinen Kampfpartner ernstlich zu verletzen, wäre sowieso sofort für untauglich erklärt worden. Die meisten waren damit beschäftigt, ihre Fertigkeit im Bogenschießen zu beweisen, oder ihre Kräfte zu zeigen, indem sie riesige Gewichte stemmten, andere führten ihre Talente vor, indem sie akrobatische Kunststücke machten oder allerlei Mutproben ablegten. So verschiedenartig die Bewerber waren, so vielfältig war, was sie zeigten.
Immer wieder mußten einige, die übertroffen worden waren, den Platz verlassen, und so wurden es nach und nach immer weniger. Dann sah Bastian, daß Hýkrion, der Starke, Hýsbald, der Flinke, und Hýdorn, der Zähe, das Rund betraten. Held Hynreck und seine Angebetete, Prinzessin Oglamár, waren nicht bei ihnen.
Zu diesem Zeitpunkt befanden sich noch etwa hundert Wettkämpfer auf dem Platz. Da es sich bei diesen um die Auslese der Besten handelte, fiel es Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn nicht so leicht, wie sie vielleicht geglaubt hatten, sich gegen ihre Gegner zu behaupten. Es dauerte den ganzen Nachmittag, bis Hýkrion sich als der Mächtigste unter den Starken, Hýsbald als der Gewandteste unter den Flinken und Hýdorn als der Ausdauerndste unter den Zähen erwiesen hatte. Das Publikum jubelte und klatschte ihnen begeistert zu, und die drei verbeugten sich in Richtung des Balkons, wo der Silbergreis Quérquobad und Atréju saßen. Atréju erhob sich bereits, um etwas zu sagen, da trat plötzlich noch ein Wettkämpfer auf den Platz. Es war Hynreck. Gespannte Stille breitete sich aus, und Atréju setzte sich wieder. Da nur drei Männer ihn begleitensollten, war nun dort unten einer zu viel. Einer von ihnen würde zurücktreten müssen.
»Meine Herren«, sagte Hynreck mit lauter Stimme, so daß jeder ihn hören konnte, »ich nehme nicht an, daß diese kleine Schaustellung eurer Fähigkeiten, die ihr bereits hinter euch habt, eure Kräfte angegriffen haben könnte. Gleichwohl wäre es meiner nicht würdig, euch unter diesen Umständen einzeln zum Zweikampf herauszufordern. Da ich bisher noch keinen mir angemessenen Gegner unter all diesen Wettkämpfern gesehen
habe, habe ich nicht mitgemacht und bin deshalb noch frisch. Wenn einer von euch sich allzu erschöpft fühlen sollte, so möge er freiwillig ausscheiden. Andernfalls bin ich bereit, es mit euch allen dreien gleichzeitig aufzunehmen. Habt ihr dagegen einen Einwand?«
»Nein«, antworteten die drei wie aus einem Mund.
Und dann gab es ein Gefecht, daß die Funken sprangen. Hýkrions Schläge hatten nicht das Geringste von ihrer Gewalt eingebüßt, aber Held Hynreck war stärker. Hýsbald fuhr wie ein Blitz von allen Seiten auf ihn zu, aber Held Hynreck war schneller. Hýdorn versuchte ihn zu zermürben, aber Held Hynreck war ausdauernder. Das ganze Gefecht hatte kaum zehn Minuten gedauert, da waren alle drei Herren entwaffnet und beugten das Knie vor Held Hynreck. Er blickte stolz umher und suchte offenbar nach einem bewundernden Blick seiner Dame, die wohl irgendwo in der Menge stand. Jubel und Beifall der Zuschauer brauste wie ein Orkan über den Platz. Wahrscheinlich konnte man ihn noch an den entferntesten Ufern des Tränensees Murhu hören.
Als es still wurde, erhob sich Silbergreis Quérquobad und fragte laut:
»Gibt es noch jemand, der es wagen möchte, gegen Held Hynreck anzutreten?« Und in das allgemeine Schweigen hinein hörte man eine Knabenstimme antworten: »Ja, ich!«
Es war Bastian gewesen.
Alle Gesichter wandten sich ihm zu. Die Menge machte ihm eine Bahn frei, und er trat auf den Platz hinaus. Ausrufe des Staunens und der Sorge wurden hörbar. »Seht, wie schön er ist!« - »Schade um ihn!« -»Laßt es nicht zu!«
»Wer bist du?« fragte Silbergreis Quérquobad.
»Meinen Namen«, antwortete Bastian, »will ich erst nachher sagen.«
Er sah, daß Atréjus Augen schmal geworden waren und ihn forschend, aber noch voller Ungewißheit anblickten.
»Junger Freund«, sagte Held Hynreck, »wir haben zusammen gegessen und getrunken. Warum willst du nun, daß ich dich beschäme? Ich bitte dich, nimm dein Wort zurück und geh fort.«
»Nein«, antwortete Bastian, »was ich gesagt habe, gilt.«
Held Hynreck zögerte einen Augenblick. Dann schlug er vor:
»Es wäre nicht recht von mir, wenn ich mich im Kampfspiel mit dir messe. Wir wollen zuerst einmal sehen, wer von uns den Pfeil höher zu schießen vermag.«