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»Aber wenn man einmal drin ist«, fragte Bastian, »kann man denn irgendwo wieder hinaus?« »Ja«, antwortete der Löwe, »doch ist es nicht ganz so einfach wie bei gewöhnlichen Gebäuden. Denn durch den Irrgarten der tausend Türen kann dich nur ein wirklicher Wunsch führen. Wer den nicht hat, der muß solange darin herumirren, bis er weiß, was er sich wünscht. Und das dauert manchmal sehr lang.«

»Und wie kann man die Eingangspforte finden?«

»Man muß es sich wünschen.«

Bastian dachte lange nach, dann sagte er:

»Sonderbar, daß man nicht einfach wünschen kann, was man will. Wo kommen die Wünsche in uns eigentlich her? Und was ist das überhaupt, ein Wunsch?«

Graógramán blickte den Jungen groß an, antwortete aber nicht.

Wiederum einige Tage später hatten sie noch einmal ein sehr wichtiges Gespräch. Bastian hatte dem Löwen die Inschrift auf der Rückseite des Kleinodes gezeigt. »Was mag das bedeuten?« fragte er. »TU WAS DU

WILLST, das bedeutet doch, daß ich alles tun darf, wozu ich Lust habe, meinst du nicht?«Graógráman Gesicht sah plötzlich erschreckend ernst aus, und seine Augen begannen zu glühen.

»Nein«, sagte er mit jener tiefen, grollenden Stimme, »es heißt, daß du deinen Wahren Willen tun sollst. Und nichts ist schwerer.«

»Meinen Wahren Willen?« wiederholte Bastian beeindruckt. »Was ist denn das?« »Es ist dein eigenes tiefstes Geheimnis, das du nicht kennst.«

»Wie kann ich es denn herausfinden?«

»Indem du den Weg der Wünsche gehst, von einem zum ändern und bis zum letzten. Der wird dich zu deinem Wahren Willen führen.«

»Das kommt mir eigentlich nicht so schwer vor«, meinte Bastian.

»Es ist von allen Wegen der gefährlichste«, sagte der Löwe.

»Warum?« fragte Bastian, »ich hab’ keine Angst.«

»Darum geht es nicht«, grollte Graógráman, »er erfordert höchste Wahrhaftigkeit und Aufmerksamkeit, denn auf keinem anderen Weg ist es so leicht, sich endgültig zu verirren.« »Meinst du, weil es vielleicht nicht immer gute Wünsche sind, die man hat?« forschte Bastian.

Der Löwe peitschte mit dem Schweif den Sand, in dem er lag. Er legte die Ohren an und zog die Nase kraus, seine Augen sprühten Feuer. Bastian duckte sich unwillkürlich, als Graógráman mit einer Stimme, die wiederum den Boden vibrieren ließ, sagte: »Was weißt du, was Wünsche sind! Was weißt du, was gut ist!«

Bastian dachte viel in den darauffolgenden Tagen über all das nach, was der Bunte Tod ihm gesagt hatte. Doch manche Dinge kann man nicht durch Nachdenken ergründen, man muß sie erfahren. Und so kam es, daß er erst viel später, nachdem er vieles erlebt hatte, an Graógráman Worte zurückdachte und sie zu verstehen begann.

In dieser Zeit war wiederum eine Veränderung mit Bastian vor sich gegangen. Zu all den Gaben, die er seit seiner Begegnung mit Monden -

kind empfangen hatte, war nun auch noch der Mut gekommen. Und wie jedesmal, so war ihm auch diesmal etwas dafür genommen worden, nämlich jede Erinnerung an seine frühere Ängstlichkeit.

Und da es nun nichts mehr gab, wovor er sich fürchtete, begann unmerklich zunächst, dann immer deutlicher, ein neuer Wunsch in ihm Gestalt anzunehmen. Er wollte nicht mehr länger allein sein. Auch mit dem Bunten Tod war er ja doch in gewissem Sinne allein. Er wollte seine Fähigkeiten vor anderen zeigen, er wollte bewundert werden und Ruhm

erwerben.

Und eines Nachts, als er wieder dem Wachstum von Perelín zusah, fühlte er plötzlich, daß dies das letzte Mal war, daß er von der Herrlichkeit des leuchtenden Nachtwaldes Abschied nehmen mußte. Eine innere Stimme rief ihn fort.

Er warf noch einen letzten Blick auf die glühende Farbenpracht, dann ging er hinunter in die Grabeshöhle Graógráman und setzte sich in der Finsternis auf die Stufen. Er hätte nicht sagen können, worauf er wartete, doch er wußte, daß er sich in dieser Nacht nicht schlafen legen durfte : Er war doch wohl im Sitzen ein wenig eingenickt, denn plötzlich fuhr er hoch, als habe jemand ihn beim Namen gerufen.

Die Tür, die zum Schlaf gemach führte, war aufgesprungen. Aus dem Spalt fiel ein langer Streifen rötlichen Lichts durch die dunkle Höhle.

Bastian erhob sich. Hatte sich die Tür für diesen Augenblick in den Eingang zum Tausend Türen Tempel verwandelt? Unschlüssig trat er an den Spalt heran und versuchte hindurchzuspähen. Er konnte nichts erkennen.

Dann begann der Spalt sich langsam wieder zu schließen. Gleich würde die einzige Gelegenheit fortzugehen, vorüber sein! Er drehte sich noch einmal nach Graógráman um, der reglos und mit toten Steinaugen auf seinem Sockel saß. Der Lichtstreifen aus der Tür fiel gerade auf ihn.

»Leb wohl, Graógráman, und danke für alles!« sagte er leise. »Ich werde wiederkommen, ganz bestimmt, ich komme zurück.«

Dann schlüpfte er durch den Türspalt, der sich sogleich hinter ihm schloß.

Bastian wußte nicht, daß er sein Versprechen nicht halten würde. Viel, viel später erst sollte einer in seinem Namen kommen und es für ihn einlösen.

Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

16. Die Silberstadt Amargánth

Purpurnes Licht zog in langsamen Wellen über den Boden und die Wände des Raumes. Es war ein sechseckiges Zimmer, gleichsam eine große Bienenwaben/eile. In jeder zweiten Wand befand sich eine Tür, die übrigen drei Wände, die dazwischen lagen, waren mit sonderbaren Bildern bemalt.

Es waren Traumlandschaften und Geschöpfe, die halb Pflanzen, halb Tiere sein mochten. Durch die eine Tür war Bastian hereingekommen, die beiden anderen lagen zur Rechten und zur Linken vor ihm. Ihre Form war völlig gleich, nur war die linke schwarz und die rechte weiß. Bastian entschied sich für die weiße.

Im nächsten Zimmer herrschte gelbliches Licht. Die Wände standen in derselben Anordnung. Die Bilder zeigten hier allerhand Geräte, aus denen Bastian nicht schlau werden konnte. Waren es Werkzeuge oder Waffen? Die beiden Türen, die nach links und rechts weiterführten, hatten die gleiche Farbe, sie waren gelb, aber die linke war hoch und schmal, die rechte dagegen niedrig und breit. Bastian ging durch die linke.

Das Zimmer, das er nun betrat, war wie die beiden vorhergehenden sechseckig, aber bläulich beleuchtet. Die Bilder an den Wänden zeigten verschlungene Ornamente oder Schriftzeichen eines fremdartigen Alphabets. Hier waren die beiden Türen von gleicher Form, aber aus verschiedenem Material, die eine aus Holz, die andere aus Metall. Bastian entschied sich für die hölzerne.

Es ist unmöglich, sämtliche Türen und Zimmer zu beschreiben, durch die Bastian bei seiner Wanderung durch den Tausend Türen Tempel kam. Es gab Pforten, die aussahen wie große Schlüssellöcher oder andere, die Höhleneingängen glichen, es gab goldene und verrostete Türen, gepolsterte und nägelbeschlagene, papierdünne und solche, die dick waren wie Tresortüren, es gab eine, die wie der Mund eines Riesen aussah, und eine andere, die wie eine Zugbrücke geöffnet werden mußte, eine, die einem großen Ohr glich, und eine andere, die aus einem Lebkuchen bestand, eine, die wie eine Ofenklappe geformt war, und eine, die aufgeknöpft werden

mußte. Jeweils hatten die beiden Türen, die aus einem Zimmer hinausführten, irgend etwas miteinander gemein - die Form, das Material, die Größe, die Farbe - aber irgend etwas unterschied sie auch grundsätzlich voneinander.

Bastian war schon viele Male von einem sechseckigen Raum in einen anderen getreten. Jede Entscheidung, die er traf, führte ihn immer vor eine neue Entscheidung, die ihrerseits abermals eine Entscheidung nach sich zog. Aber alle diese Entscheidungen änderten nichts daran, daß er noch immer im Tausend Türen Tempel war - und es auch bleiben würde.

Während er weiter-und immer weiterging, begann er darüber nachzudenken, woran das liegen mochte. Sein Wunsch hatte zwar ausgereicht, ihn in den Irrgarten hineinzuführen, aber er war offenbar nicht genau genug, um ihn auch den Weg hinausfinden zu lassen. Er hatte sich gewünscht, in Gesellschaft zu kommen. Aber jetzt wurde ihm bewußt, daß er sich darunter überhaupt nichts Genaues vorstellte. Und es half ihm nicht im geringsten zu entscheiden, ob er eine Tür aus Glas oder eine aus Korbgeflecht wählen sollte. Bis jetzt hatte er seine Wahl auch einfach so aus Lust und Laune getroffen, ohne viel dabei nachzudenken. Eigentlich hätte er j edesmal ebensogut die andere Tür nehmen können. Aber so würde er niemals hinausfinden.

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