»Nein, ich wüßte nicht was.«
Atréju sah den Freund wieder nachdenklich an und fügte hinzu:
»Und vielleicht ist es ja ein langer und schwieriger Weg, wer weiß?«
»Ja, wer weiß?« stimmte Bastian zu. »Wenn du willst, dann laß uns gleich aufbrechen.« Dann gab es noch einen kurzen, freundschaftlichen Streit unter den drei Herren, die sich nicht einigen konnten, wer von ihnen Bastian sein Pferd zur Verfügung stellen durfte. Aber Bastian kürzte die Sache ab, indem er sie bat, ihm Jicha, die Mauleselin zu schenken. Sie meinten zwar, ein solches Reittier sei unter Herrn Bastians Würde, aber da er darauf bestand, gaben sie schließlich nach.
Während die Herren alles für den Aufbruch vorbereiteten, gingen Bastian und Atréju zum Palast Quérquobads zurück, um dem Silbergreis für seine Gastfreundschaft zu danken und Abschied zu nehmen. Fuchur, der Glücksdrache, wartete auf Atréju vor dem Palast. Er war sehr zufrieden, als er hörte, daß man aufbrechen wollte. Städte waren nicht das Richtige für ihn, auch wenn sie so schön waren wie Amargánth.
Silbergreis Quérquobad war in die Lektüre eines Buches vertieft, das er sich aus der Bastian Balthasar Bux Bibliothek mitgenommen hatte.
»Ich hätte euch gerne noch lange bei mir zu Gast gehabt«, sagte er etwas zerstreut, »einen so großen Dichter beherbergt man nicht alle Tage.
Aber nun haben wir ja seine Werke zum Trost.«
Sie verabschiedeten sich und gingen hinaus.
Als Atréju sich auf Fuchurs Rücken setzte, fragte er Bastian:
»Wolltest du nicht auch auf Fuchur reiten?«
»Bald«, antwortete Bastian, »jetzt wartet Jicha auf mich, und ich hab’s ihr versprochen.« »Dann erwarten wir euch an Land«, rief Atréju. Der Glücksdrache erhob sich in die Luft und war schon im nächsten Augenblick außer Sichtweite.
Als Bastian zur Herberge zurückkam, warteten die drei Herren bereits reisefertig mit Pferden und Mauleselin in einer der Fähren. Sie hatten Jicha den Packsattel abgenommen und durch einen reichverzierten Reitsattel ersetzt. Warum, erfuhr sie aber erst, als Bastian zu ihr trat und ihr ins Ohr flüsterte:
»Du gehörst jetzt mir, Jicha.«
Und während die Barke ablegte und sich von der Silberstadt entfernte, klang noch lange über die bitteren Wasser des Tränensees Murhu das Freudengeschrei der alten Mauleselin. Was übrigens Held Hynreck betrifft, so gelang es ihm tatsächlich, nach Morgul, dem Land des Kalten Feuers zu kommen. Er drang auch in den versteinerten Wald Wodgabay ein und überwand die drei Gräben um die Burg Ragar. Er fand das bleierne Beil und besiegte Smärg, den Drachen. Dann brachte er Oglamár zu ihrem Vater zurück, obwohl sie jetzt gern bereit gewesen wäre, ihn zu heiraten. Aber jetzt wollte er nicht mehr. Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.
18. Die Arachai
Regen fiel dicht und schwer aus dunklen, fast über den Köpfen der Reiter dahinfegenden Wolken. Dann begann es in großen, klebrigen Flocken zu schneien, und schließlich schneite und regnete es in einem. Der Sturmwind war so stark, daß sogar die Pferde sich schräg gegen ihn anstemmen mußten. Die Mäntel der Reiter waren schwer vor Nässe und schlugen klatschend auf die Rücken der Tiere.
Viele Tage waren sie nun schon unterwegs und die drei letzten davon waren sie über diese Hochebene geritten. Das Wetter hatte sich von Tag zu Tag verschlechtert, und der Boden war zu einem Gemisch aus Schlamm und scharfkantigen Steinbrocken geworden, das das Vorankommen immer mühsamer machte. Da und dort standen Gruppen von Buschwerk oder auch kleine, schiefgeblasene Gehölze, sonst bot sich dem Auge keine Abwechslung. Bastian, der auf der Mauleselin Jicha voranritt, war mit seinem glitzernden Silbermantel noch vergleichsweise gut dran. Es erwies sich, daß dieser, obgleich leicht und dünn, hervorragend wärmte, und das Wasser an ihm abperlte. Hýkrions, des Starken, untersetzte Gestalt verschwand fast in einem blauen, dicken Wollmantel. Der feingliedrige Hýsbald hatte sich die große Kapuze seiner braunen Lodenkotze über die roten Haare gezogen. Und Hýdorns grauer Segeltuchumhang klebte an seinen hageren Gliedern.
Dennoch waren die drei Herren auf ihre etwas rauhe Art guter Dinge. Sie hatten nicht erwartet, daß die Abenteuerreise mit Herrn Bastian eine Art Sonntagsspaziergang werden würde. Ab und zu sangen sie mehr herzhaft als schön mit lauten Stimmen gegen den Sturm an, mal einzeln, mal im Chor. Ihr Lieblingslied war offenbar eines, das mit den Worten begann:
»Als ich ein kleines Büblein war, juppheißa bei Regen und Wind…«
Wie sie erklärten, stammte es von einem Phantásienreisenden aus längst vergangenen Tagen, der Schexpir oder so ähnlich geheißen hatte.
Der einzige in der Gruppe, dem weder Nässe noch Kälte irgendwelchen Eindruck zu machen schien, war Atréju. Wie meistens seit Beginn der Reise, jagte er auf Fuchurs Rücken zwischen und über den Wolkenfetzen hin, eilte weit voraus, um das Land zu erkunden, und kehrte wieder zurück, um zu berichten.Sie alle, sogar der Glücksdrache, waren der Meinung, sie befänden sich auf der Suche nach dem Weg, der Bastian in seine Welt zurückführen würde. Auch Bastian glaubte es. Er wußte selbst nicht, daß er Atréjus Vorschlag eigentlich nur aus Freundschaft und aus gutem Willen beigestimmt hatte, daß er es sich in Wirklichkeit aber überhaupt nicht wünschte. Aber Phantásiens Geographie wird durch die Wünsche bestimmt, ob sie einem nun bewußt sind oder nicht. Und da Bastian es war, der zu entscheiden hatte, in welcher Richtung sie weiterzogen, kam es, daß ihr Weg sie immer tiefer nach Phantasien hineinführte - und das hieß, auf jenen Mittelpunkt zu, den der Elfenbeinturm bildete. Was das für ihn bedeutete, sollte er erst später erfahren. Vorläufig ahnte weder er noch einer seiner Reisebegleiter etwas davon.
Bastians Gedanken waren mit etwas anderem beschäftigt.
Gleich am zweiten Tage nach ihrem Aufbruch aus Amargánth hatten sie in den Wäldern, die Murhu umgaben, eine deutliche Spur des Drachen Smärg gefunden. Ein Teil der Bäume, die hier standen, war versteinert.
Offensichtlich hatte das Ungeheuer sich da niedergelassen und die Bäume mit dem eiskalten Feuer seines Rachens gestreift. Die Abdrücke seiner riesigen Heuschreckenfüße waren leicht zu erkennen gewesen. Atréju, der sich darauf verstand, hatte noch andere Spuren gefunden, nämlich die von Held Hynrecks Pferd. Also war Hynreck dem Drachen auf den Fersen.
»Ganz zufrieden bin ich damit nicht«, hatte Fuchur halb im Scherz gesagt und seine rubinroten Augenbälle gerollt, »denn ob Smärg nun ein Scheusal ist oder nicht, er ist immerhin ein - wenn auch noch so entfernter -
Verwandter von mir.«
Sie waren Held Hynrecks Spur nicht gefolgt, sondern hatten eine andere Richtung eingeschlagen, denn ihr Ziel war es ja, Bastians Heimweg zu suchen.
Seither hatte er darüber nachgedacht, was er da eigentlich gemacht hatte, als er einen Drachen für Held Hynreck erfand. Sicherlich, Held Hynreck
brauchte etwas, woran er sich bewähren und wogegen er kämpfen konnte.
Aber es war ja durchaus nicht gesagt, daß er siegen würde. Was, wenn Smärg ihn umbrachte? Und außerdem war nun auch Prinzessin Oglamár in einer schrecklichen Lage. Gewiß, sie war ziemlich hochmütig gewesen, aber hatte Bastian deswegen das Recht, sie der
artig ins Unglück zu bringen? Und von alldem einmal abgesehen, wer weiß, was Smärg sonst noch in Phantasien anrichtete. Bastian hatte da, ohne sich viel dabei zu denken, eine unabsehbare Gefahr geschaffen, die nun ohne ihn weiterbestehen und vielleicht unsägliches Unheil über viele Unschuldige bringen würde. Mondenkind, das wußte er, machte in ihrem Reich keinen Unterschied zwischen Bösen und Guten, zwischen Schönem und Häßlichem. Für sie war jedes Geschöpf in Phantasien gleich wichtig und berechtigt. Aber er, Bastian durfte er sich denn ebenso verhalten wie sie? Und vor allem, wollte er es denn überhaupt? Nein, sagte sich Bastian, er wollte durchaus nicht als der Schöpfer von Ungeheuern und Scheusalen in die Geschichte Phantásiens eingehen. Viel schöner wäre es, wenn er für seine Güte und Selbstlosigkeit berühmt wäre, wenn er das leuchtende Vorbild für alle darstellte, wenn man ihn den »guten Menschen« nennen oder wenn er als der »große Wohltäter« verehrt werden würde. Ja, das war es, was er sich wünschte. Das Land war inzwischen felsig geworden, und Atréju, der auf Fuchur von einem Erkundungsflug zurückkam, meldete, er habe wenige Meilen voraus einen kleinen Talkessel erspäht, der verhältnismäßig guten Schutz gegen den Wind böte. Wenn er recht gesehen habe, so gäbe es dort sogar mehrere Höhlen, in denen man vor dem Regen und Schnee Unterschlupf finden könne.
Es war schon später Nachmittag und höchste Zeit, einen geeigneten Lagerplatz für die Nacht zu suchen. So waren alle über Atréjus Nachricht erfreut und trieben ihre Reittiere an. Der Weg verlief auf dem Grunde eines von immer höheren Felsen eingeschlossenen Tales, eines ausgetrockneten Flußbetts vielleicht. Nach etwa zwei Stunden war der Kessel erreicht und tatsächlich fanden sich mehrere Höhlen in den Wänden ringsum. Sie wählten die geräumigste und machten es sich darin behaglich, so gut es ging. Die drei Herren suchten in der Umgebung dürres Reisig und vom Sturm abgeknickte Äste zusammen, und bald brannte ein prächtiges Feuer in der Höhle. Die nassen Mäntel wurden zum Trocknen ausgebreitet, die Pferde und die Mauleselin hereingeholt und abgesattelt und sogar Fuchur, der sonst das Übernachten im Freien vorzog, rollte sich im Hintergrund der
Höhle zusammen. Im Grunde war der Platz gar nicht so ungemütlich.
Während Hýdorn, der Zähe, ein großes Stück Fleisch aus ihrem Proviant an seinem langen Schwert über dem Feuer zu braten versuchte und alle ihm dabei erwartungsvoll zusahen, wandte sich Atréju an Bastian und bat:
»Erzähle uns mehr von Kris Ta!«
»Von wem?« fragte Bastian verständnislos.
»Von deiner Freundin Kris Ta, dem kleinen Mädchen, dem du deine Geschichten erzählt hast.«
»Ich kenne kein kleines Mädchen, das so heißt«, antwortete Bastian,
»und wie kommst du darauf, daß ich ihr Geschichten erzählt hätte?«