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In dem Augenblick, als sie vom Licht Al’Tsahirs getroffen wurden, erstarrten sie, und so war zu sehen, womit sie gerade beschäftigt gewesen waren. In ihrer Mitte erhob sich ein Turm aus feinstem Silberfiligran -

schöner und kostbarer, als alle Bauwerke, die Bastian in Amargánth gesehen hatte. Viele der wurmartigen Wesen waren offenbar gerade dabei gewesen, auf diesem Turm herumzuklettern und ihn aus einzelnen Teilen zusammenzusetzen. Jetzt aber waren alle reglos und starrten in das Licht von Al’Tsahir.

»Wehe! Wehe!« klang es wie ein entsetztes Flüstern durch den Talkessel,

»jetzt ist unsere Häßlichkeit offenbar geworden! Wehe! Wehe! Wessen Auge hat uns erblickt? Wehe! Wehe, daß wir uns selbst sehen müssen! Wer du auch sein magst, grausamer Eindringling, sei gnädig und habe Erbarmen, und nimm dieses Licht wieder von uns!«

Bastian erhob sich.

»Ich bin Bastian Balthasar Bux«, sagte er, »und wer seid ihr?«

»Wir sind die Arachai», scholl es ihm entgegen, «die Arachai, die Arachai! Die unglücklichsten Geschöpfe Phantásiens sind wir!«

Bastian schwieg und schaute bestürzt Atréju an, der nun ebenfalls aufstand und neben ihn trat. »Dann seid ihr es«, fragte er, »die die schönste Stadt Phantásiens gebaut habt, Amargánth?« »So ist es, ach«, riefen die

Wesen, »aber nimm dieses Licht von uns und sieh uns nicht an. Sei barmherzig!«

»Und ihr habt den Tränensee Murhu geweint?«

»Herr«, ächzten die Arachai, »es ist, wie du sagst. Doch werden wir sterben vor Scham und Grausen über uns selbst, wenn du uns weiterhin zwingst, in deinem Licht zu stehen. Warum vermehrst du unsere Qual so grausam? Ach, wir haben dir nichts getan, und niemand ist je durch unseren Anblick beleidigt worden.«

Bastian steckte den Stein Al’Tsahir wieder in seine Tasche, und es wurde stockdunkel. »Danke!« riefen die schluchzenden Stimmen, »danke für deine Gnade und dein Erbarmen, Herr!«

»Ich möchte mit euch reden«, sagte Bastian, »ich will euch helfen.«

Ihm war beinahe schlecht vor Abscheu und Mitleid mit diesen Kreaturen der Verzweiflung. Es war ihm klar, daß es jene Geschöpfe waren, von denen er in seiner Geschichte über die Entstehung von Amargånth gesprochen hatte, aber wie jedesmal, so war er sich auch diesmal nicht sicher, ob sie schon seit immer dagewesen oder erst durch ihn entstanden waren. In diesem letzteren Fall wäre er auf irgendeine Weise verantwortlich für all dieses Leid. Aber wie auch immer es sich verhalten mochte, er war entschlossen, diese schreckliche Sache zu ändern.

»Ach«, wimmerten die klagenden Stimmen, »wer kann uns helfen?«

»Ich«, rief Bastian, »ich trage AURYN.«

Nun wurde es plötzlich still. Das Weinen verebbte ganz.

»Woher kommt ihr so plötzlich?« fragte Bastian ins Dunkel.

»Wir wohnen in den lichtlosen Tiefen der Erde«, raunte es zurück wie ein vielstimmiger Chor, »um unseren Anblick der Sonne zu verbergen. Dort weinen wir immerfort über unser Dasein und waschen mit unseren Tränen das unzerstörbare Silber aus dem Urgestein, aus dem wir dann jenes Filigran weben, das du gesehen hast. Nur in den finstersten Nächten wagen wir uns an die Oberfläche hinauf, und diese Höhlen sind unser Ausgang.

Hier oben fügen wir dann zusammen, was wir unten vorbereitet haben. Und gerade diese Nacht war dunkel genug, um uns unseren eigenen Anblick zu ersparen. Darum sind wir hier. Durch unsere Arbeit versuchen wir unsere

Häßlichkeit an der Welt wiedergutzumachen, und wir finden ein wenig Trost darin.«

»Aber ihr könnt doch nichts dafür, daß ihr so seid!« meinte Bastian.

»Ach, es gibt mancherlei Schuld«, antworteten die Arachai, »die der Tat, die des Gedankens die unsere ist die unseres Daseins.«

»Wie kann ich euch helfen?« fragte Bastian, der fast vor Mitleid weinte.

»Ach, großer Wohltäter«, riefen die Arachai, »der du AURYN trägst und die Macht hast, uns zu erlösen - wir bitten dich nur um eins : Gib uns eine andere Gestalt!«

»Das will ich tun, seid nur ganz getrost, ihr armen Würmer!« sagte Bastian. »Ich wünsche mir, daß ihr jetzt einschlaft, und wenn ihr morgen früh aufwacht, dann kriecht ihr aus eurer Hülle heraus und seid Schmetterlinge geworden. Ihr sollt bunt und lustig sein und nur noch lachen und Spaß haben! Von morgen an heißt ihr nicht mehr Arachai, die Immer-Weinenden, sondern Schlamuffen, die Immer-Lachenden!«

Bastian lauschte in die Dunkelheit, aber es war nichts mehr zu hören.

»Sie sind schon in Schlaf gefallen«, flüsterte Atréju.

Die beiden Freunde kehrten in die Höhle zurück. Die Herren Hýsbald, Hýdorn und Hýkrion schnarchten noch immer leise und hatten von dem ganzen Ereignis nichts bemerkt. Bastian legte sich nieder.

Er fühlte sich äußerst zufrieden mit sich.

Bald würde ganz Phantasien von dieser guten Tat erfahren, die er soeben vollbracht hatte. Und sie war ja wirklich selbstlos gewesen, denn niemand konnte behaupten, daß er irgend etwas dabei für sich gewünscht hatte. Der Ruhm seiner Güte würde in hellem Glanz erstrahlen.

»Was sagst du dazu, Atréju?« flüsterte er.

Atréju schwieg eine Weile, ehe er antwortete:

»Was mag es dich gekostet haben?«

Erst ein wenig später, als Atréju schon schlief, begriff Bastian, daß der Freund damit auf das Vergessen angespielt hatte, und nicht etwa auf Bastians Selbstverleugnung. Aber er dachte nicht weiter darüber nach und schlief im Vorgefühl der Freude ein.

Am nächsten Morgen erwachte er von lärmenden Verwunderungsrufen der drei Ritter: »Seht euch das an! - Meiner Treu, da kichert sogar meine alte Mähre!«

Bastian sah, daß sie im Höhleneingang standen, und Atréju war bei ihnen. Er war der einzige, der nicht lachte.

Bastian erhob sich und trat zu ihnen.

Im ganzen Talkessel krabbelte und purzelte und flatterte es von den komischsten kleinen Gestalten, die er je gesehen hatte. Alle trugen bunte Mottenflügel auf dem Rücken und waren in allerhand karierten, gestreiften, geringelten oder gepunkteten Plunder-gekleidet, doch schien jedes Kleidungsstück entweder zu eng oder zu weit, zu groß oder zu klein und sozusagen auf gut Glück zusammengenäht. Nichts stimmte, und überall, sogar auf den Flügeln, waren Flicken aufgesetzt. Keines der Wesen glich dem anderen, ihre Gesichter waren bunt wie die von Clowns, hatten runde, rote Nasen oder lächerliche Zinken und übertriebene Münder. Manche hatten Zylinderhüte in allen Farben auf, andere spitze Mützen, bei einigen standen nur drei knallrote Haarschöpfe in die Höhe, und ein paar hatten spiegelnde Glatzen. Der größte Teil von ihnen saß und hing an dem zierlichen Turm aus kostbarem Silberfiligran, turnte daran, hopste darauf herum und versuchte ihn kaputtzumachen.

Bastian rannte hinaus.

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