»Ungeheuer«, meinte Hýkrion und strich sich seinen enormen schwarzen Schnurrbart, »sind nun einmal notwendig, damit ein Held ein Held sein kann.« Dabei zwinkerte er Bastian zu. Jetzt hatte Bastian endlich begriffen.
»Hört zu, Held Hynreck«, sagte er, »ich habe mit dem Vorschlag, einer anderen Dame Euer Herz zu schenken, nur Eure Standhaftigkeit auf die Probe gestellt. In Wirklichkeit bedarf Prinzessin Oglamár nämlich schon jetzt Eurer Hilfe, und niemand außer Euch kann sie retten.«
Held Hynreck horchte auf.
»Sprecht Ihr im Ernst, Herr Bastian?«
»In vollem Ernst, Ihr werdet Euch gleich davon überzeugen können.
Prinzessin Oglamár ist nämlich vor wenigen Minuten überfallen und entführt worden.«
»Von wem?«
»Von einem der schrecklichsten Ungeheuer, die je in Phantasien existiert haben. Es handelt sich um den Drachen Smärg. Sie ritt gerade über eine Waldlichtung, als das Scheusal sie erblickte, sich aus der Luft auf sie stürzte, vom Rücken ihres Zelters hob und mit sich fortriß.« Hynreck sprang auf. Seine Augen begannen zu leuchten und seine Wangen zu glühen. Er klatschte vor Freude in die Hände. Doch dann erlosch der Glanz in seinen Augen wieder, und er setzte sich.
»Das kann leider nicht sein«, meinte er bekümmert, »es gibt weit und breit keine Drachen mehr.«
»Ihr vergeßt, Held Hynreck«, erklärte Bastian, »daß ich von sehr weit herkomme - von viel weiter, als Ihr je gewesen seid.«
»Das ist wahr«, bestätigte Atréju, der sich zum ersten Mal einmischte.
»Und sie ist wirklich von diesem Ungeheuer entführt worden?« riefHeld Hynreck. Dann preßte er beide Hände auf sein Herz und seufzte: »O meine angebetete Oglamár, wie mußt du jetzt leiden. Aber fürchte dich nicht, dein Ritter naht, er ist schon unterwegs ! Sagt mir, was muß ich tun? Wo muß ich hin? Worum handelt es sich?«
»Sehr weit von hier«, begann Bastian, »gibt es ein Land, das heißt Morgul oder das Land des Kalten Feuers, weil dort die Flammen kälter sind als Eis. Wie Ihr dieses Land finden könnt, kann ich Euch nicht sagen, Ihr müßt es selbst herausfinden. Mitten in diesem Land gibt es einen versteinerten Wald mit Namen Wodgabay. Und wiederum mitten in diesem versteinerten Wald steht die bleierne Burg Ragar. Sie ist von drei Burggräben umgeben. Im ersten fließt grünes Gift, im zweiten rauchende Salpetersäure, und im dritten wimmeln Skorpione, so große wie Eure Füße.
Es gibt keine Brücken und Stege hinüber, denn der Herr, der in der bleiernen Burg Ragar herrscht, ist jenes geflügelte Ungeheuer namens Smärg. Seine Flügel sind aus schleimiger Haut und haben eine Spannweite von zweiunddreißig Metern. Wenn er nicht fliegt, steht er aufrecht wie ein riesiges Känguruh. Sein Leib gleicht dem einer räudigen Ratte, aber sein Schwanz ist der eines Skorpions. Selbst die leichteste Berührung mit dem Giftstachel ist absolut tödlich. Seine Hinterbeine sind die einer Riesenheuschrecke, aber seine Vorderbeine, die winzig und verkümmert aussehen, gleichen den Händen eines kleinen Kindes. Doch darf man sich dadurch nicht täuschen lassen, denn gerade in diesen Händchen liegt eine furchtbare Kraft. Seinen langen Hals kann er einziehen wie eine Schnecke ihre Fühler, und obendrauf sitzen drei Köpfe. Einer ist groß und gleicht dem Kopf eines Krokodils. Aus diesem Maul kann er eisiges Feuer speien. Aber dort, wo beim Krokodil die Augen sind, hat er zwei Auswüchse, die noch einmal Köpfe sind. Der rechte sieht aus wie der eines alten Mannes. Mit ihm kann er hören und sehen. Zum Sprechen aber hat er den linken, der wie das schrumpelige Gesicht eines alten Weibes aussieht.«
Bei dieser Beschreibung war Held Hynreck etwas blaß geworden.
»Wie war der Name?« fragte er.
»Smärg«, wiederholte Bastian. »Er treibt sein Unwesen schon seit tausend Jahren, denn das ist sein Alter. Immer wieder raubt er eine schöne Jungfrau, die ihm dann den Haushalt führen muß bis ans Ende ihrer Tage.
Wenn sie gestorben ist, raubt er eine neue.«
»Wieso habe ich davon nie gehört?«
»Smärg kann unvorstellbar weit und schnell fliegen. Bisher hat er sich immer andere Länder Phantásiens für seine Raubzüge ausgesucht. Und dann kommt es ja auch nur in jedem halben Jahrhundert einmal vor.«
»Und niemand hat bisher je eine Gefangene befreit?«
»Nein, dazu bedarf es eines ganz einmaligen Helden.«
Bei diesen Worten röteten sich Held Hynrecks Wangen wieder.
»Hat Smärg eine verwundbare Stelle?« fragte er fachmännisch.
»Ah!« antwortete Bastian, »das Wichtigste hätte ich f äst vergessen. Im tiefsten Keller der Burg Ragar liegt ein bleiernes Beil. Ihr könnt Euch wohl vorstellen, daß Smärg dieses Beil wie seinen Augapfel bewacht, wenn ich Euch sage, daß es die einzige Waffe ist, mit der man ihn töten kann. Man muß ihm damit die beiden kleineren Köpfe abhauen.«
»Woher wißt Ihr das alles?« fragte Held Hynreck.
Bastian brauchte nicht zu antworten, denn in diesem Augenblick erschollen Schreckensrufe auf der Straße:
»Ein Drache! - Ein Ungeheuer! - Da seht doch, da oben am Himmel! -
Entsetzlich ! Er kommt auf die Stadt zu ! - Rette sich, wer kann ! - Nein, nein, er hat schon ein Opfer!« Held Hynreck stürzte auf die Straße hinaus, und alle anderen folgten ihm, zuletzt Atréju und Bastian.
Am Himmel flatterte etwas, das einer riesigen Fledermaus glich. Als es näher kam, war es, als ob sich für einen Augenblick ein kalter Schatten auf die ganze Silberstadt legte. Es war Smärg, und er sah genauso aus, wie Bastian ihn eben erfunden hatte. Und mit den beiden kümmerlichen, aber so gefährlichen Händchen hielt er eine junge Dame fest, die aus Leibeskräften schrie und strampelte.
»Hynreck!« hörte man aus immer weiterer Ferne, »Hilfe, Hynreck! Rette mich, mein Held!« Dann war es vorüber.
Hynreck hatte bereits seinen schwarzen Hengst aus dem Stall geholt und stand in einer der Silberfähren, die zum Festland fuhren.
»Schneller!« hörte man ihn dem Fährmann zurufen. »Ich gebe dir, was du willst, aber mach schneller!« Bastian blickte ihm nach und murmelte: »Ich hoffe bloß, ich habe es ihm nicht zu schwer gemacht.«Atréju sah ihn von der Seite an. Dann sagte er leise:
»Wir sollten besser vielleicht auch aufbrechen.«
»Wohin?«
»Durch mich bist du nach Phantasien gekommen«, meinte Atréju, »ich denke, ich sollte dir nun auch helfen, den Rückweg zu finden. Du willst doch sicher irgendwann wieder in deine Welt zurückkehren, nicht wahr?«
»Oh«, sagte Bastian, »daran habe ich bis jetzt noch gar nicht gedacht.
Aber du hast recht, Atréju. Ja, natürlich, du hast ganz recht.«
»Du hast Phantasien gerettet«, fuhr Atréju fort, »und mir scheint, du hast viel dafür empfangen. Ich könnte mir denken, daß du jetzt zurückkehren möchtest, um damit deine Welt gesund zu machen. Oder gibt es noch etwas, das dich zurückhält?«
Und Bastian, der vergessen hatte, daß er nicht immer stark, schön, mutig und mächtig gewesen war, antwortete :