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»Ich fürchte, nein«, piepste der Winzling, »man muß lange warten. Es ist

- wie soll ich sagen ein enormer Andrang von Boten hier.«

»Huhu -«, wimmerte der Nachtalb, »wieso?«

»Am besten«, zwitscherte der Winzling, »Sie sehen sich die Sache selbst an. Kommen Sie, lieber Wüschwusul, kommen Sie!«

Sie machten sich zu zweit auf den Weg.

Die Hauptstraße, die in einer immer enger werdenden Spirale um den Elfenbeinturm aufwärts lief, war voll von einer dicht gedrängten Menge der seltsamsten Gestalten. Riesenhafte turbangeschmückte Dschinns, winzige Kobolde, dreiköpfige Trolle, bärtige Zwerge, leuchtende Feen,bocksbeinige Faune, Wildweibchen mit goldlockigem Fell, glitzernde Schneegeister und

zahllose andere Wesen bewegten sich die Straße hinauf und hinunter, standen in Gruppen beieinander und redeten leise oder hockten auch stumm auf dem Boden und blickten trübselig vor sich hin.

Als Wuschwusul ihrer ansichtig wurde, blieb er stehen.

»Huhu!« sagte er, »was ist denn hier los? Was tun die alle hier?«

»Das sind alles Boten«, erklärte Ückück leise, »Boten aus allen Gegenden Phantasiens. Und alle haben die gleiche Botschaft wie wir. Ich habe schon mit vielen von ihnen gesprochen. Es scheint überall die gleiche Gefahr ausgebrochen zu sein.«

Der Nachtalb ließ ein langes wimmerndes Seufzen hören.

»Und weiß man denn«, fragte er, »was es ist und woher es kommt?«

»Ich fürchte, nein. Niemand kann es erklären.«

»Und die Kindliche Kaiserin selbst?«

»Die Kindliche Kaiserin -«, sagte der Winzling leise, »ist krank, sehr, sehr krank. Vielleicht ist das der Grund des unbegreiflichen Unglücks, das über Phantasien gekommen ist. Aber bis jetzt hat keiner der vielen Ärzte, die im Palastbezirk dort oben beim Magnolienpavillon versammelt sind, herausbekommen, woran sie erkrankt ist und was man dagegen tun kann.

Niemand weiß ein Heilmittel.«

»Das«, sagte der Nachtalb dumpf, »- huhu! - ist eine Katastrophe.«

»Ja«, antwortete der Winzling, »das ist es.«

Unter diesen Umständen verzichtete Wuschwusul vorerst darauf, sich bei der Kindlichen Kaiserin anmelden zu lassen.

Zwei Tage später kam übrigens auch das Irrlicht Blubb an, das natürlich in die falsche Richtung gelaufen war und dadurch einen Riesenumweg gemacht hatte.

Und schließlich - weitere drei Tage später - traf auch der Felsenbeißer Pjörnrachzarck ein. Er kam zu Fuß dahergestampft, denn er hatte in einem plötzlichen Anfall von Heißhunger sein steinernes Fahrrad aufgegessen - als Reiseproviant sozusagen.

Während der langen Wartezeit befreundeten sich die vier ungleichen Boten innig und blieben auch späterhin zusammen.

Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

2. Atréjus Berufung

Beratungen, die das Wohl und Wehe ganz Phantásiens betrafen, wurden für gewöhnlich im großen Thronsaal des Elfenbeinturms abgehalten, der innerhalb des eigentlichen Palastbezirks nur wenige Stockwerke unter dem Magnolienpavillon lag.

Jetzt war dieser weite, kreisrunde Raum von gedämpftem Stimmengewirr erfüllt. Die vierhundertneunundneunzig besten Ärzte des ganzen phantäsischen Reiches waren hier versammelt und sprachen flüsternd oder raunend miteinander in kleineren oder größeren Gruppen. Jeder von ihnen hatte der Kindlichen Kaiserin seine Visite gemacht-die einen schon vor einiger Zeit, die anderen erst vor kurzem -, und jeder hatte versucht, ihr mit seiner Kunst zu helfen. Aber keinem war es gelungen, keiner kannte ihre Krankheit und deren Ursache, keiner wußte, wie man sie heilen konnte.

Und der fünfhundertste, der berühmteste aller Ärzte Phantásiens, von dem die Sage ging, daß es kein Heilkraut, kein Zaubermittel und kein Geheimnis der Natur gäbe, das ihm nicht bekannt wäre, er war nun schon seit Stunden bei der Patientin, und alle erwarteten mit Spannung das Ergebnis seiner Untersuchung. Nun darf man sich eine solche Versammlung natürlich nicht so vorstellen wie einen menschlichen Ärztekongreß. Zwar gab es in Phantasien sehr viele Wesen, die in ihrer äußeren Gestalt mehr oder weniger menschenähnlich waren, aber es gab mindestens ebenso viele, die Tieren oder überhaupt völlig anders gearteten Geschöpfen glichen. So vielgestaltig die Menge der Boten war, die sich draußen tummelte, so mannigfaltig war auch die Gesellschaft hier im Saal. Es gab Zwergenärzte mit weißen Bärten und Buckeln, es gab Feenärztinnen in blausilbern schimmernden Gewändern und mit funkelnden Sternen im Haar, es gab Wassermänner mit dicken Bäuchen und Schwimmhäuten an Händen und Füßen (für sie waren eigens Sitzbadewannen aufgestellt worden), aber es gab auch weiße Schlangen, die sich auf dem langen Tisch in der Mitte des Saales

zusammengeringelt hatten, es gab Bienen elf en, ja sogar Hexer, Vampire und Gespenster, die im allgemeinen nicht als besonders wohltätig und gesundheitsfördernd gelten.

Um die Anwesenheit dieser letzteren zu begreifen, muß man unbedingt etwas wissen: Die Kindliche Kaiserin galt zwar - wie ihr Titel ja schon sagt

- als die Herrscherin über all die unzähligen Länder des grenzenlosen phantåsi-sehen Reiches, aber sie war in Wirklichkeit viel mehr als eine Herrscherin, oder besser gesagt, sie war etwas ganz anderes.

Sie herrschte nicht, sie hatte niemals Gewalt angewendet oder von ihrer Macht Gebrauch gemacht, sie befahl nichts und richtete niemanden, sie griff niemals ein und mußte sich niemals gegen einen Angreifer zur Wehr setzen, denn niemandem wäre es eingefallen, sich gegen sie zu erheben oder ihr etwas anzutun. Vor ihr galten alle gleich.

Sie war nur da, aber sie war auf eine besondere Art da: Sie war der Mittelpunkt allen Lebens in Phantasien.

Und jedes Geschöpf, ob gut oder böse, ob schön oder häßlich, lustig oder ernst, töricht oder weise, alle, alle waren nur da durch ihr Dasein. Ohne sie konnte nichts bestehen, so wenig ein menschlicher Körper bestehen könnte, der kein Herz mehr hat.

Niemand konnte ihr Geheimnis ganz begreifen, aber alle wußten, daß es so war. Und so wurde sie von allen Geschöpfen dieses Reiches gleichermaßen respektiert, und alle machten sich gleichermaßen Sorgen um ihr Leben. Denn ihr Tod wäre zugleich das Ende für sie alle gewesen, der Untergang des unermeßlichen Reiches Phantasien.

Bastians Gedanken schweiften ab.

Er sah in der Erinnerung plötzlich wieder den langen Korridor der Klinik vor sich, wo die Mama operiert worden war. Er hatte mit dem Vater viele Stunden vor dem Operationssaal gesessen und gewartet. Ärzte und Krankenschwestern waren hin und her gelaufen. Wenn der Vater danach fragte, wie es der Mama ging, hatte er nur immer ausweichende Antworten bekommen. Niemand schien so richtig zu wissen, wie es mit ihr stand.

Dann war zuletzt ein glatzköpfiger Mann im weißen Kittel gekommen, der müde und traurig aussah. Er hatte ihnen gesagt, daß alle Anstrengungen

umsonst gewesen wären und daß es ihm leid täte. Er hatte ihnen beiden die Hand gedrückt und »herzliches Beileid« gemurmelt.

Danach war alles anders geworden zwischen dem Vater und Bastian.

Nicht äußerlich. Bastian hatte alles, was er sich nur wünschen konnte. Er besaß ein Dreigangfahrrad, eine elektrische Eisenbahn, viele Vitamintabletten, dreiundfünfzig Bücher, einen Goldhamster, ein Aquarium mit Warmwasserfischen, einen kleinen Fotoapparat, sechs Patenttaschen messer und alles mögliche andere. Aber er machte sich im Grunde nichts aus alledem. Bastian erinnerte sich, daß der Vater früher gern Spaße mit ihm getrieben hatte. Manchmal hatte er sogar Geschichten erzählt oder vorgelesen. Aber das war seit damals vorbei. Er konnte mit dem Vater nicht sprechen. Es war wie eine unsichtbare Mauer um ihn, durch die niemand dringen konnte. Er schimpfte nie und lobte nie. Auch als Bastian sitzengeblieben war, hatte der Vater nichts gesagt. Er hatte ihn nur auf diese abwesende und bekümmerte Art angesehen, und Bastian hatte das Gefühl gehabt, überhaupt nicht da zu sein. Dieses Gefühl hatte er meistens dem Vater gegenüber. Wenn sie zusammen abends vor dem Fernsehapparat saßen, dann merkte Bastian, daß der Vater gar nicht zuschaute, sondern mit seinen Gedanken weit, weit fort war, wo er ihn nicht erreichen konnte. Oder manchmal, wenn sie beide ein Buch hatten, sah Bastian, daß der Vater überhaupt nicht las, weil er stundenlang auf ein und dieselbe Seite blickte, ohne umzublättern.

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