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»Ist mir auch lieber«, hörte man ihn in der Dunkelheit knarren, »da brauche ich nicht aufzupassen, ob ich irgendwas Winziges plattwalze.«

Und dann hörte man ihn mit Geprassel und Geknacke auf seinem gewaltigen Felsenfahrrad einfach ins Gehölz hineinfahren. Ab und zu prallte er dumpf gegen einen Baumriesen, man hörte ihn knirschen und knurren. Langsam entfernte sich das Getöse in der Finsternis. Uckück, der Winzling, blieb allein zurück. Er ergriff die Zügel aus feinen Silberfäden und sagte:

»Nun ja, wir werden ja sehen, wer zuerst ankommt. Hü, meine Alte, hü!«

Und er schnalzte mit der Zunge.

Und dann war nichts mehr zu hören als der Sturmwind, der in den Wipfeln des Haulewaldes brauste.

Die Turmuhr in der Nähe schlug neun.

Bastians Gedanken kehrten nur ungern in die Wirklichkeit zurück. Er war froh, daß die Unendliche Geschichte nichts mit ihr zu tun hatte.Er mochte keine Bücher, in denen ihm auf eine schlechtgelaunte und miesepetrige Art die ganz alltäglichen Begebenheiten aus dem ganz alltäglichen Leben irgendwelcher ganz alltäglichen Leute erzählt wurden. Davon hatte er ja schon in Wirklichkeit genug, wozu sollte er auch noch davon lesen?

Außerdem haßte er es, wenn er merkte, daß man ihn zu was kriegen wollte.

Und in dieser Art von Büchern sollte man immer, mehr oder weniger deutlich, zu was gekriegt werden.

Bastians Vorliebe galt Büchern, die spannend waren oder lustig oder bei denen man träumen konnte, Bücher, in denen erfundene Gestalten fabelhafte Abenteuer erlebten und wo man sich alles mögliche ausmalen konnte.

Denn das konnte er - vielleicht war es das einzige, was er wirklich konnte: Sich etwas vorstellen, so deutlich, daß er es fast sah und hörte.

Wenn er sich selbst seine Geschichten erzählte, dann vergaß er manchmal alles um sich herum und wachte erst am Schluß auf wie aus einem Traum.

Und dieses Buch hier war genau von der Art wie seine eigenen Geschichten! Beim Lesen hatte er nicht nur das Knarren der dicken Stämme und das Brausen des Windes in den Baumwipfeln gehört, sondern auch die verschiedenartigen Stimmen der vier komischen Boten, ja, er bildete sich sogar ein, den Geruch von Moos und Walderde zu riechen.

Unten in der Klasse fing jetzt bald der Naturkundeunterricht an, der hauptsächlich im Aufzählen von Blütenständen und Staubgefäßen bestand.

Bastian war froh, daß er hier oben in seinem Versteck saß und lesen konnte.

Es war genau das richtige Buch für ihn, fand er, ganz genau das richtige!

Eine Woche später erreichte Wüschwusul, der kleine Nachtalb, als erster das Ziel. Oder vielmehr, er war davon überzeugt, der erste zu sein, da er ja durch die Lüfte dahinritt. Es war zur Stunde des Sonnenuntergangs, und die Wolken des Abendhimmels sahen aus wie flüssiges Gold, als er gewahr wurde, daß seine Fledermaus bereits über dem Labyrinth schwebte. So lautete der Name einer weiten Ebene, die von Horizont zu Horizont reichte, und die nichts anderes war als ein einziger großer Blumengarten voll verwirrender Düfte und traumhafter Farben. Zwischen Büschen, Hecken,

Wiesen und Beeten mit den seltsamsten und seltensten Blüten verliefen breite Wege und schmale Pfade in so kunstvoller und vielverzweigter Anordnung, daß die ganze Anlage einen Irrgarten von unvorstellbarer Weitläufigkeit bildete. Natürlich war dieser Irrgarten nur zum Spiel und zum Vergnügen angelegt, nicht um etwa jemanden ernstlich in Gefahr zu bringen oder gar um Angreifer abzuwehren. Dazu hätte er nicht getaugt, und einen solchen Schutz hätte die Kindliche Kaiserin auch gar nicht nötig gehabt. Im ganzen grenzenlosen phantasischen Reich gab es niemand, gegen den sie sich hätte schützen müssen. Das hatte einen Grund, den wir bald erfahren werden.

Während der kleine Nachtalb auf seiner Fledermaus völlig geräuschlos über diesen BlumenIrrgarten hinschwebte, konnte er auch allerlei seltenes Getier beobachten. Auf einer kleinen Lichtung zwischen Flieder und Goldregen spielte eine Gruppe junger Einhörner in der Abendsonne, und einmal war ihm sogar, als habe er unter einer blauen Riesenglockenblume den berühmten Vogel Phönix in seinem Nest erblickt, aber ganz sicher war er nicht, und umkehren und nachsehen wollte er auch nicht, um keine Zeit zu verlieren. Denn nun tauchte schon vor ihm in der Mitte des Labyrinths und in feenhaftem Weiß schimmernd der Elfenbeinturm auf, das Herz Phantásiens und der Wohnort der Kindlichen Kaiserin. Das Wort »Turm«

könnte bei einem, der diesen Ort nie gesehen hat, vielleicht eine falsche Vorstellung erwecken, etwa die eines Kirchturms oder eines Burgturms. Der Elfenbeinturm war groß wie eine ganze Stadt. Er sah von fern aus wie ein spitzer, hoher Bergkegel, der in sich wie ein Schneckenhaus gedreht war und dessen höchster Punkt in den Wolken lag. Erst beim Näherkommen konnte man erkennen, daß dieser riesenhafte Zuckerhut sich aus zahllosen Türmen, Türmchen, Kuppeln, Dächern, Erkern, Terrassen, Torbögen, Treppen und Balustraden zusammensetzte, die in-und übereinander geschachtelt waren. Alles das bestand aus dem allerweißesten phantäsischen Elfenbein, und jede Einzelheit war so kostbar geschnitzt, daß man es für das Gitterwerk feinster Spitze halten konnte.

In all diesen Gebäuden lebte der Hofstaat, der die Kindliche Kaiserin umgab, die Kämmerer und Dienerinnen, die weisen Frauen und Sterndeuter, die Magier und Narren, die Boten, Köche und Akrobaten, die Seiltänzerinnen und die Geschichtenerzähler, die Herolde, Gärtner, Wächter, Schneider, Schuster und Alchemisten. Und ganz oben, auf der höchsten Spitze des gewaltigen Turmes, wohnte die Kindliche Kaiserin in

einem Pavillon, der die Gestalt einer weißen Magnolienknospe hatte. In manchen Nächten, wenn der Vollmond besonders prächtig am gestirnten Himmel stand, öffneten sich die elfenbeinernen Blätter weit und entfalteten sich zu einer herrlichen Blüte, in deren Mitte dann die Kindliche Kaiserin saß.

Der kleine Nachtalb landete mit seiner Fledermaus auf einer der unteren Terrassen, dort, wo die Stallungen für die Reittiere waren. Irgend jemand mußte seine Ankunft offenbar angekündigt haben, denn er wurde bereits von fünf kaiserlichen Tierwärtern erwartet, die ihm aus dem Sattel halfen, sich vor ihm verneigten und ihm dann schweigend den zeremoniellen Begrüßungstrunk reichten. Wüschwusul nippte nur ein wenig an dem Elfenbeinbecher, um der Form Genüge zu tun, dann gab er ihn zurück.

Jeder der Wärter trank ebenfalls einen Schluck, dann verneigten sie sich abermals und brachten die Fledermaus in die Stallungen. All das geschah schweigend.

Als die Fledermaus den Platz erreicht hatte, der für sie vorgesehen war, rührte sie weder Trank noch Futter an, sondern rollte sich sogleich zusammen, hängte sich kopfunter an ihren Haken und fiel in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung. Es war ein bißchen viel gewesen, was der kleine Nachtalb ihr abverlangt hatte. Die Wärter ließen sie in Ruhe und gingen auf Zehenspitzen fort.

In diesem Stall gab es übrigens noch viele andere Reittiere: Einen rosa und einen blauen Elefanten, einen riesenhaften Vogel Greif, dessen vordere Körperhälfte einem Adler glich und die hintere einem Löwen, ein weißes geflügeltes Pferd, dessen Name früher einmal auch außerhalb Phantásiens bekannt war, aber jetzt vergessen ist, einige fliegende Hunde, auch ein paar andere Fledermäuse, ja sogar Libellen und Schmetterlinge für besonders kleine Reiter. In weiteren Stallgebäuden gab es noch andere Reittiere, die nicht flogen, sondern liefen, krochen, hüpften oder schwammen. Und jedes von ihnen hatte besondere Wächter zu seiner Pflege und Wartung.

Für gewöhnlich hätte man hier eigentlich ein beträchtliches Durcheinander von Stimmen hören müssen: Brüllen, Kreischen, Flöten, Piepsen, Quaken und Schnattern. Aber es herrschte völlige Stille.

Der kleine Nachtalb stand noch immer auf der Stelle, wo die Wärter ihn verlassen hatten. Er fühlte sich plötzlich niedergeschlagen und mutlos, ohne recht zu wissen warum. Auch er war sehr erschöpft von der langen, langen

Reise. Und nicht einmal die Tatsache, daß er als erster angekommen war, munterte ihn auf.

»Hallo«, hörte er plötzlich ein piepsendes Stimmchen, »ist das nicht Freund Wüschwusul? Wie schön, daß Sie auch endlich hier sind.«

Der Nachtalb blickte sich um, und seine Mondaugen glühten vor Verwunderung auf, denn auf einer Balustrade, nachlässig gegen einen elfenbeinernen Blumentopf gelehnt, stand dort der Winzling Uckück und schwenkte seinen roten Zylinder.

»Huhu!« machte der Nachtalb fassungslos und nach einer Weile noch einmal »huhu!« Es fiel ihm einfach nichts Gescheiteres ein.

»Die anderen beiden«, erklärte der Winzling, »sind bis jetzt noch nicht eingetroffen. Ich bin seit gestern morgen hier.«

»Wie - huhu! - wie hat man das gemacht?« fragte der Nachtalb.

»Nun ja«, meinte der Winzling und lächelte ein wenig überlegen, »ich sagte Ihnen doch, ich habe eine Renn-Schnecke.«

Der Nachtalb kratzte sich mit seiner kleinen rosa Hand das schwarze Fellgestrüpp auf seinem Kopf.

»Ich muß sofort zur Kindlichen Kaiserin«, sagte er weinerlich.

Der Winzling blickte ihn nachdenklich an.

»Hm«, machte er, »nun ja, ich habe mich schon gestern angemeldet.«

»Angemeldet?« fragte der Nachtalb. »Kann man denn nicht sofort zu ihr?«

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