Allerlei Gerümpel stand und lag umher, Regale voller Ordner und seit langem nicht mehr benötigter Akten, übereinander gestapelte Schulbänke mit tintenbeschmierten Pulten, ein Gestell, an dem ein Dutzend veraltete Landkarten hing, mehrere Wandtafeln, von denen die schwarze Farbe abplatzte, verrostete eiserne Öfen, unbrauchbar gewordene Turngeräte wie
zum Beispiel ein Bock, dessen Lederbezug so brüchig war, daß die Polsterung heraushing, geplatzte Medizinbälle, ein Stapel alter fleckiger Turnmatten, ferner ein paar ausgestopfte Tiere, die halb von Motten aufgefressen waren, darunter eine große Eule, ein Steinadler und ein Fuchs, allerlei chemische Retorten und Glasbehälter mit Sprüngen, eine Elektrisiermaschine, ein menschliches Skelett, das an einer Art Kleiderständer hing, und viele Kisten und Schachteln voll alter Hefte und Schulbücher. Bastian entschied sich schließlich dafür, den Stapel alter Turnmatten zu seiner Wohnstatt zu ernennen. Wenn man sich darauf ausstreckte, fühlte man sich fast wie auf einem Sofa. Er schleppte sie unter die Dachluke, wo es am hellsten war. In der Nähe lagen aufgeschichtet einige graue Militärdecken, sehr staubig freilich und zerrissen, aber durchaus brauchbar. Bastian holte sie sich. Er zog den nassen Mantel aus und hängte ihn neben das Gerippe an den Kleiderständer. Der Knochenmann pendelte ein wenig hin und her, aber Bastian hatte keine Angst vor ihm. Vielleicht weil er so ähnliche Dinge von zu Hause gewohnt war. Auch seine durchweichten Stiefel zog er aus. Strumpfsockig ließ er sich im Türkensitz auf den Turnmatten nieder und zog sich wie ein Indianer die grauen Decken über die Schultern. Neben ihm lag seine Mappe - und das kupferfarbene Buch.
Er dachte daran, daß die anderen unten im Klassenzimmer jetzt gerade Deutschstunde hatten. Vielleicht mußten sie einen Aufsatz schreiben über irgendein todlangweiliges Thema. Bastian schaute das Buch an.
»Ich möchte wissen«, sagte er vor sich hin, »was eigentlich in einem Buch los ist, solang es zu ist. Natürlich sind nur Buchstaben drin, die auf Papier gedruckt sind, aber trotzdem irgendwas muß doch los sein, denn wenn ich es aufschlage, dann ist da auf einmal eine ganze Geschichte. Da sind Personen, die ich noch nicht kenne, und es gibt alle möglichen Abenteuer und Taten und Kämpfe - und manchmal ereignen sich Meeresstürme, oder man kommt in fremde Länder und Städte. Das ist doch alles irgendwie drin im Buch. Man muß es lesen, damit man’s erlebt, das ist klar. Aber drin ist es schon vorher. Ich möcht’wissen, wie?« Und plötzlich überkam ihn eine beinahe feierliche Stimmung.
Er setzte sich zurecht, ergriff das Buch, schlug die erste Seite auf und begann
zu lesen.
1. Phantasien in Not
Alles Getier im Haulewald duckte sich in seine Höhlen, Nester und Schlupflöcher. Es war Mitternacht, und in den Wipfeln der uralten riesigen Bäume brauste der Sturmwind. Die turmdicken Stämme knarrten und ächzten.
Plötzlich huschte ein schwacher Lichtschein in Zickzacklinien durchs Gehölz, blieb da und dort zitternd stehen, flog empor, setzte sich auf einen Ast und eilte gleich darauf wieder weiter. Es war eine leuchtende Kugel etwa von der Größe eines Kinderballs, es hüpfte in weiten Sprüngen dahin, berührte ab und zu den Boden und schwebte wieder aufwärts. Aber es war kein Ball.
Es war ein Irrlicht. Und es hatte den Weg verloren. Es war also ein verirrtes Irrlicht, und das gibt es selbst in Phantasien ziemlich selten.
Normalerweise sind es gerade die Irrlichter, die andere Leute dazu bringen, sich zu verirren.
Im Inneren des runden Lichtscheins war eine kleine, äußerst bewegliche Gestalt zu sehen, die aus Leibeskräften sprang und rannte. Es war weder ein Männchen noch ein Weibchen, denn derlei Unterschiede gibt es bei Irrlichtern nicht. In der rechten Hand trug es eine winzige weiße Fahne, die hinter ihm herflatterte. Es handelte sich also um einen Boten oder einen Unterhändler.
Gefahr, bei seinen weiten Schwebesprüngen in der Finsternis gegen einen Baumstamm zu prallen, bestand nicht, denn Irrlichter sind ganz unglaublich geschickt und flink und vermögen mitten im Sprung ihre Richtung zu ändern. Daher kam der Zickzackweg, den es nahm, doch im großen und ganzen genommen bewegte es sich immer in einer bestimmten Richtung fort. Bis zu dem Augenblick, da es um einen Felsvorsprung kam und erschrocken zurückfuhr. Hechelnd wie ein kleiner Hund saß es in einem
Baumloch und überlegte eine Weile, ehe es sich wieder hervorwagte und vorsichtig um die Ecke des Felsens lugte.
Vor ihm lag eine Waldlichtung, und dort saßen beim Schein eines Lagerfeuers drei Gestalten sehr unterschiedlicher Art und Größe. Ein Riese, der aussah, als bestünde alles an ihm aus grauem Stein, lag ausgestreckt auf dem Bauch und war fast zehn Fuß lang. Er stützte den Oberkörper auf die Ellbogen und blickte ins Feuer. In seinem verwitterten Steingesicht, das seltsam klein über den gewaltigen Schultern stand,ragte das Gebiß hervor wie eine Reihe von stählernen Meißeln. Das Irrlicht erkannte, daß er zu der Gattung der Felsenbeißer gehörte. Das waren Wesen die unvorstellbar weit vom Haulewald in einem Gebirge lebten, - aber sie lebten nicht nur in diesem Gebirge, sie lebten auch von ihm, denn sie aßen es nach und nach auf. Sie ernährten sich von Felsen. Glücklicherweise waren sie sehr genügsam und kamen mit einem einzigen Bissen der für sie äußerst gehaltvollen Kost wochen-und monatelang aus. Es gab auch nicht viele Felsenbeißer, und außerdem war das Gebirge sehr groß. Aber da diese Wesen schon sehr lang dort lebten - sie wurden viel älter als die meisten anderen Geschöpfe in Phantasien -, hatte das Gebirge im Laufe der Zeit doch ein recht sonderbares Aussehen angenommen. Es glich einem riesenhaften Emmentaler Käse voller Löcher und Höhlen. Deshalb hieß es wohl auch der Gänge-Berg.
Aber die Felsenbeißer ernährten sich nicht nur vom Gestein, sie machten alles daraus, was sie benötigten: Möbel, Hüte, Schuhe, Werkzeuge, ja sogar Kuckucksuhren. Und so war es nicht weiter verwunderlich, daß dieser Felsenbeißer hier eine Art Fahrrad hinter sich stehen hatte, das ganz und gar aus besagtem Material bestand und zwei Räder hatte, die wie gewaltige Mühlsteine aussahen. Im ganzen glich es eher einer Dampfwalze mit Pedalen. Die zweite Gestalt, die rechts vom Feuer saß, war ein kleiner Nachtalb. Er war höchstens doppelt so groß wie das Irrlicht und glich einer pechschwarzen, fellbedeckten Raupe, die sich aufgesetzt hat. Er gestikulierte heftig beim Sprechen mit zwei winzigen rosa Händchen, und dort, wo unter den schwarzen Wuschelhaaren vermutlich das Gesicht war, glühten zwei große kreisrunde Augen wie Monde.
Nachtalben der verschiedensten Form und Größe gab es überall in Phantasien, und so konnte man zunächst nicht erraten, ob dieser hier von nah oder weit gekommen war. Allerdings schien auch er auf Reisen zu sein,
denn das bei Nachtalben gebräuchliche Reittier, eine große Fledermaus, hing kopfunter in ihre Flügel gewickelt wie ein zugeklappter Regenschirm hinter ihm an einem Ast.
Die dritte Gestalt auf der linken Seite des Feuers entdeckte das Irrlicht erst nach einer Weile, denn sie war so klein, daß man sie aus dieser Entfernung nur schwer ausmachen konnte. Sie gehörte der Gattung der Winzlinge an, war ein überaus feingliedriges Kerlchen in einem bunten Anzüglein und mit einem roten Zylinder auf dem Kopf.
Über Winzlinge wußte das Irrlicht so gut wie nichts. Es hatte nur einmal sagen hören, daß dieses Volk ganze Städte auf den Ästen von Bäumen baute, wobei die Häuschen untereinander durch Treppchen, Strickleitern und Rutschbahnen verbunden seien. Doch wohnten diese Leute in einem ganz anderen Teil des grenzenlosen Phantásischen Reiches, noch viel, viel weiter weg von hier als die Felsenbeißer. Um so erstaunlicher war es, daß das Reittier, das der hier anwesende Winzling bei sich hatte, ausgerechnet eine Schnecke war. Sie saß hinter ihm. Auf ihrem rosa Gehäuse glitzerte ein kleiner silberner Sattel, und auch das Zaumzeug und die Zügel, die an ihren Fühlern befestigt waren, glänzten wie Silberfäden. Das Irrlicht wunderte sich, daß gerade diese drei so verschiedenartigen Wesen hier einträchtig beisammen saßen, denn normalerweise war es in Phantasien durchaus nicht so, daß alle Gattungen in Frieden und Eintracht miteinander lebten. Es gab oft Kämpfe und Kriege, es gab auch jahrhundertelange Fehden unter gewissen Arten, und es gab außerdem nicht nur ehrliche und gute Geschöpfe, sondern auch räuberische, bösartige und grausame. Das Irrlicht selbst gehörte ja durchaus einer Familie an, der man, was Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit betraf, einiges vorwerfen konnte.
Erst nachdem es eine Weile die Szene im Feuerschein beobachtet hatte, bemerkte das Irrlicht, daß jede der drei Gestalten dort entweder ein weißes Fähnchen bei sich hatte oder eine weiße Schärpe quer über der Brust trug.
Also waren auch sie Boten oder Unterhändler, und das erklärte natürlich, daß sie sich so friedlich verhielten.
Sollten sie am Ende sogar in der gleichen Angelegenheit unterwegs sein wie das Irrlicht selbst?
Was sie sprachen, war aus der Entfernung nicht zu verstehen wegen des brausenden Windes, der in den Baumwipfeln wühlte. Aber da sie sich gegenseitig als Boten respektierten, würden sie vielleicht auch das Irrlicht
als solchen anerkennen und ihm nichts tun. Und irgend jemanden mußte es schließlich nach dem Weg fragen. Eine günstigere Gelegenheit würde sich mitten im Wald und mitten in der Nacht wohl kaum bieten. Es faßte sich also ein Herz, kam aus seinem Versteck hervor, schwenkte das weiße Fähnchen und blieb zitternd in der Luft stehen.Der Felsenbeißer, der ja mit dem Gesicht in seiner Richtung lag, bemerkte es als erster. »Mächtig viel Betrieb hier heute nacht«, sagte er mit knarrender Stimme. »Da kommt noch einer.«
»Huhu, ein Irrlicht!« raunte der Nachtalb, und seine Mondaugen glühten auf. »Freut mich, freut mich!«
Der Winzling stand auf, ging ein paar Schrittchen auf den Ankömmling zu und piepste: »Wenn ich richtig sehe, so sind auch Sie in Ihrer Eigenschaft als Bote hier?« »Ja«, sagte das Irrlicht.
Der Winzling nahm seinen roten Zylinder ab, machte eine kleine Verbeugung und zwitscherte: »Oh, so treten Sie doch näher, bitte sehr. Auch wir sind Boten. Nehmen Sie Platz in unserem Kreis.«
Und er wies einladend mit dem Hütchen auf die freie Stelle am Feuer.
»Vielen Dank«, sagte das Irrlicht und trat schüchtern näher, »ich bin so frei. Darf ich mich vorstellen: Ich heiße Blubb.«
»Sehr erfreut«, antwortete der Winzling. »Ich heiße Uckück.«
Der Nachtalb verbeugte sich im Sitzen. »Mein Name ist Wuschwusul.«
»Angenehm!« knarrte der Felsenbeißer, »ich bin Pjörnrachzarck.«
Alle drei schauten das Irrlicht an, das sich vor Verlegenheit wand.
Irrlichtern ist es äußerst unangenehm, ganz unverhohlen betrachtet zu werden.
»Wollen Sie sich nicht setzen, lieber Blubb?« fragte der Winzling.
»Eigentlich«, antwortete das Irrlicht, »bin ich sehr in Eile und wollte Sie nur fragen, ob Sie mir vielleicht sagen könnten, in welcher Richtung ich von hier aus zum Elfenbeinturm komme.«
»Huhu!« machte der Nachtalb, »will man zur Kindlichen Kaiserin?«
»Ganz recht«, sagte das Irrlicht, »ich habe ihr eine wichtige Botschaft zu überbringen.« »Was denn für eine?« knarzte der Felsenbeißer.