Atréju setzte Bastian die Spitze seines Schwertes auf die Brust.
»Gib mir das Zeichen«, sagte er, »um deiner selbst willen.«
»Verräter!« schrie Bastian zurück. »Du bist mein Geschöpf! Alles habe ich ins Dasein gerufen! Auch dich! Willst du dich gegen mich wenden?
Knie nieder und bitte mich um Verzeihung!«
»Du bist wahnsinnig«, antwortete Atréju, »du hast nichts geschaffen.
Alles verdankst du der Kindlichen Kaiserin! Gib mir AURYN!«
»Hol es dir!« sagte Bastian, »wenn du kannst.«
Atréju zögerte.
«Bastian«, sagte er, »warum zwingst du mich, dich zu besiegen, um dich zu retten?« Bastian riß an seinem Schwertgriff, und mit seiner riesigen Kraft gelang es ihm tatsächlich, Sikánda aus seiner Scheide zu ziehen, ohne daß es ihm von selbst in die Hand sprang. Doch im gleichen Augenblick, als das geschah, war ein Laut zu hören, der so erschreckend klang, daß auch die Kämpfer unten auf der Straße vor dem Tor für einen Moment wie erstarrt stehenblieben und zu den beiden emporblickten. Und Bastian erkannte den Laut wieder. Es war das schreckliche Knirschen, das er gehört hatte, als Graógramán zu Stein wurde. Und das Leuchten Sikándas erlosch.
Ihm schoß durch den Kopf, was der Löwe ihm angekündigt hatte, falls er diese Waffe je aus eigenem Willen ziehen würde. Aber nun konnte und wollte er es nicht mehr rückgängig machen.
Er schlug auf Atréju ein, der sich mit seinem Schwert zu decken versuchte. Doch Sikánda zerschnitt Atréjus Waffe und traf seine Brust. Eine tiefe Wunde klaffte auf, und Blut quoll hervor. Atréju taumelte rückwärts und stürzte von der Zinne des großen Tores hinunter. Da fuhr eine weiße Stichflamme aus den Rauchschwaden durch die Nacht daher, fing Atréju im Fallen auf und riß ihn mit sich fort. Es war Fuchur, der weiße Glücksdrache gewesen. Bastian wischte sich mit seinem Mantel den Schweiß von der Stirn. Und während er das tat, wurde er gewahr, daß der Mantel schwarz geworden war, schwarz wie die Nacht. Noch immer das Schwert Sikánda in der Faust, stieg er von der Palastmauer herunter und trat auf den freien Platz hinaus.
Mit dem Sieg über Atréju war das Schlachtenglück von einem Augenblick zum anderen umgeschlagen. Das Heer der Rebellen, dem eben noch der Sieg sicher zu sein schien, begann zu fliehen. Bastian war wie in einem schrecklichen Traum, aus dem er nicht erwachen konnte. Sein Sieg schmeckte ihm bitter wie Galle, und doch fühlte er zugleich einen wilden Triumph. In seinen schwarzen Mantel gewickelt, das blutige Schwert in der Faust ging er langsam die Hauptstraße des Elfenbeinturms hinunter, der nun schon in der Feuersbrunst loderte wie eine Riesenfackel. Bastian aber ging weiter durch das Brausen und Heulen der Flammen, die er kaum fühlte, bis er den Fuß des Turmes erreicht hatte. Dort traf er auf die Reste seines Heeres, die inmitten des verwüsteten Gartenlabyrinths -jetzt ein endloses Schlachtfeld voller erschlagener Phantásier - auf ihn warteten. Auch Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn waren da, die beiden letzteren schwer verwundet. Illuán, der blaue Dschinn, war gefallen. Xayíde stand bei seiner Leiche. Sie hielt den Gürtel Gemmai in der Hand.
»Dies, Herr und Meister«, sagte sie, »hat er für dich gerettet.«
Bastian nahm den Gürtel und preßte ihn in seiner Faust zusammen, dann steckte er ihn in seine Tasche.
Er blickte sich langsam im Kreise seiner Kampf-und Weggenossen um.
Nur noch wenige hundert waren übriggeblieben. Sie sahen erschöpft und verwüstet aus. Das flackernde Licht des Feuerscheins ließ sie wie eine Schar von Gespenstern erscheinen.
Alle hatten ihre Gesichter dem -Elfenbeinturm zugewendet, der wie ein Scheiterhaufen mehr und mehr in sich zusammenstürzte. Der Magnolien-Pavillon auf seiner Spitze loderte auf, seine Blütenblätter öffneten sich weit,
und man konnte sehen, daß er leer war. Dann verschlangen auch ihn die Flammen.
Bastian zeigte mit seinem Schwert auf den Haufen aus Glut und Trümmern und sagte mit rauher Stimme:
»Das ist Atréjus Werk. Und dafür will ich ihn nun verfolgen bis ans Ende der Welt!« Er schwang sich auf eines der Riesenpferde aus schwarzem Metall und schrie: »Folgt mir!« Das Roß bäumte sich auf, aber er zwang es mit seinem Willen und jagte in gestrecktem Galopp in die Nacht hinein.
23. Die Alte Kaiser Stadt
Während Bastian schon meilenfern durch die pechschwarze Nacht dahin-jagte, machten die zurückgebliebenen Kampfgenossen sich erst an den Aufbruch. Viele von ihnen waren verwundet, alle waren zu Tode erschöpft, und keiner hatte auch nur annähernd Bastians unermeßliche Kraft und Ausdauer. Selbst die schwarzen Panzerriesen auf ihren metallenen Pferden setzten sich nur schwerfällig in Bewegung, und jene anderen, die zu Fuß gingen, konnten ihren üblichen Gleichschritt nicht finden. Auch Xayídes Wille - durch den sie ja gelenkt wurden - schien demnach an den Grenzen seiner Kraft zu sein. Ihre Korallensänfte war beim Brand des Elfenbeinturmes den Flammen zum Opfer gefallen. So war aus allerlei Wagenbrettern, zerbrochenen Waffen und verkohlten Resten des Turms eine neue Sänfte gebaut worden, die freilich mehr einer Elendshütte glich. Das übrige Heer schleppte sich humpelnd und schlurfend hinterdrein. Auch Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn, die ihre Pferde verloren hatten, mußten sich gegenseitig stützen. Niemand sprach ein Wort, aber alle wußten, daß es ihnen unmöglich sein würde, Bastian jemals einzuholen.
Der donnerte weiter durch die Finsternis dahin, der schwarze Mantel flatterte wild um seine Schultern, die metallenen Glieder des Riesenpferdes knirschten und kreischten bei jeder Bewegung, während die gewaltigen Hufe auf das Erdreich hämmerten.
»Ho!« schrie Bastian, »hoi! hoi! hoi!«
Es ging ihm nicht schnell genug.
Er wollte Atréju und Fuchur einholen, um jeden Preis, und wenn er dafür dieses metallene Ungeheuer von einem Pferd zuschanden reiten mußte!
Er wollte Rache! Zu dieser Stunde wäre er längst am Ziel all seiner Wünsche gewesen, aber Atréju hatte es vereitelt. Bastian war nicht Kaiser von Phantasien geworden. Das sollte Atréju bitterlich büßen!
Bastian trieb sein metallenes Reittier noch rücksichtsloser an. Dessen Gelenke knarrten und quietschten immer lauter, aber es gehorchte dem
Willen seines Reiters und beschleunigte den rasenden Galopp.
Viele Stunden währte diese wilde Jagd, ohne daß die Nacht sich lichtete.
Und immerfort sah Bastian in Gedanken den brennenden Elfenbeinturm vor sich und durchlebte immer von neuem den Augenblick, da Atréju ihm das Schwert auf die Brust gesetzt hatte - bis ihm zum ersten Mal die Frage aufstieg: Warum hatte Atréju gezögert? Warum hatte er es nach allem nicht über sich gebracht, ihn zu verwunden, um ihm AU-RYN mit Gewalt zu nehmen? Und nun mußte Bastian plötzlich an die Wunde denken, die er Atréju geschlagen hatte, und an dessen letzten Blick, als er zurücktaumelte und abstürzte.
Bastian steckte Sikánda, das er bis jetzt noch immer in der Faust geschwungen hatte, in seine rostige Scheide zurück.
Der Morgen graute, und nach und nach konnte er sehen, wo er sich befand. Es war eine Heide, über die das Metallpferd jetzt hinfegte. Die dunklen Umrisse von Wacholdergruppen sahen aus wie reglose Versammlungen kapuzentragender Riesenmönche oder Zauberer mit spitzen Hüten. Felsblöcke lagen dazwischen verstreut.
Und dann geschah es, daß das Metallpferd mitten im gestreckten Galopp ganz plötzlich einfach in seine Teile zerfiel.
Bastian blieb von der Wucht des Sturzes betäubt liegen. Als er sich endlich wieder aufraffte und die geprellten Glieder rieb, fand er sich in einem niedrigen Wacholdergebüsch. Er kroch heraus. Draußen lagen über eine weite Fläche verteilt die schalenartigen Trümmer des Rosses, als sei ein Reiterdenkmal explodiert.
Bastian stand auf, warf sich seinen schwarzen Mantel über die Schulter und ging ohne Ziel dem heller werdenden Morgenhimmel entgegen.
In dem Wacholdergebüsch aber blieb ein glitzerndes Ding zurück, das er dort verloren hatte: der Gürtel Gemmai. Bastian merkte nichts von diesem Verlust und dachte auch später nie mehr daran. Illuán hatte den Gürtel ganz umsonst aus den Flammen gerettet. Ein paar Tage später wurde Gemmai von einer Elster gefunden, die nicht ahnte, was es mit diesem Glitzerding auf sich hatte. Sie trug es in ihr Nest, doch damit begann eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll.
Gegen Mittag kam Bastian an einen hohen Erdwall, der sich quer durch die Heidelandschaft zog. Er kletterte hinauf. Dahinter lag ein weiter
Talkessel, der - nach innen zu immer tiefer abfallend - wie ein flacher Krater geformt war. Und dieses ganze Tal war angefüllt mit einer Stadt-jedenfalls legte die Menge von Bauwerken diese Bezeichnung nahe, obgleich es die verrückteste Stadt war, die Bastian je erblickt hatte. Plan-und sinnlos schienen alle Gebäude durcheinandergewürfelt, als habe man sie einfach aus einem Riesensack dort hingeschüttet. Es gab weder Straßen noch Plätze, noch irgendeine erkennbare Ordnung.
Aber auch die einzelnen Bauwerke sahen irrsinnig aus, hatten die Haustür im Dach, Treppen dort, wo man nicht hinkommen konnte, oder auch solche, die man nur kopfunter hätte betreten können und die in der leeren Luft endeten : Türmchen standen quer, und Balkone hingen senkrecht an den Wänden, Fenster anstelle von Türen und Fußböden anstelle von Mauern. Es gab Brücken, deren geschwungene Bogen plötzlich irgendwo aufhörten, so als habe ihr Erbauer mitten in der Arbeit vergessen, was das Ganze werden sollte. Es gab Türme, die wie Bananen gebogen waren, auf die Spitze gestellte Pyramiden. Kurz, diese ganze Stadt vermittelte den Eindruck des Wahnsinns.