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Aber verstanden hat sie das nur mit großer Mühe, sie kann kein Deutsch, und irgendwann ist sie dann tatsächlich gegangen, nachdem wir beide im Küchenkalender mit unseren Zeigefingern nochmal ausgiebig auf den übernächsten Dienstag getippt und uns dabei tief in die Augen geschaut und zugenickt hatten, und danach war ich völlig fertig. Ich weiß nie, wie ich mit diesen Leuten reden soll. Wir hatten auch mal einen Inder für den Garten, der ist aus Kostengründen jetzt gestrichen, aber da war es genau das Gleiche. Peinlich.

Ich will diese Leute immer ganz normal behandeln, aber sie benehmen sich wie Anges-tellte, die den Dreck für einen wegmachen, und genau das sind sie ja auch, aber ich bin doch erst vierzehn. Meine Eltern haben damit kein Problem. Und wenn meine Eltern dabei sind, ist es auch für mich kein Problem. Aber allein mit der Vietnamesin in einem Raum fühle ich mich wie Hitler. Ich will ihr immer 97

sofort das Staubtuch aus der Hand reißen und selber putzen.

Ich hab sie noch rausbegleitet, und am liebsten hätte ich ihr auch noch irgendwas geschenkt, aber ich wusste nicht, was, und deshalb hab ich ihr einfach nur hinterhergewinkt wie ein Blöder und war wahnsinnig froh, als ich endlich allein war. Ich sammelte das Werkzeug ein, das immer noch überall rum-lag, und dann stand ich in der warmen Abendluft und atmete tief durch.

Schräg gegenüber grillten die Dyckerhoffs.

Der älteste Sohn winkte mir mit der Grillzan-ge zu, und weil er ein Riesenarschloch ist wie alle unsere Nachbarn, guckte ich schnell zur anderen Seite, und da kam quietschend ein Fahrrad die Straße runtergerollt. Wobei runtergerollt übertrieben ist. Und Fahrrad ist auch übertrieben. Es war der Rahmen von einem alten Damenfahrrad, vorn und hinten unterschiedliche Reifen, in der Mitte ein zer-fetzter Ledersattel. Einziges Zusatzteil war ei-ne schlackernde Handbremse, die am Kabel senkrecht nach unten hing wie eine umgedrehte Antenne. Hinten ein Platten. Und obenauf Tschichatschow. Das war nach meinem Vater jetzt so ungefähr die letzte Person, der 98

ich begegnen wollte. Wobei außer Tatjana jetzt im Grunde jeder die letzte Person war, der ich begegnen wollte. Aber der Ausdruck auf dem Mongolengesicht machte gleich klar, dass das nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.

«Kawock!», sagte Tschick und steuerte strah-lend bei uns auf den Bürgersteig. «Denkst du, was passiert: Fahr ich dahinten - macht's ka-wock. Hier wohnst du? Hey, ist das Flickzeug?

Wie geil ist das denn, gib mal her.»

Ich hatte keine Lust auf Diskussionen. Darum gab ich ihm das ganze Werkzeug und sagte, er solle es einfach hinterher wieder da hin-tun. Ich hätte keine Zeit, ich müsste weg.

Dann ging ich sofort ins Haus und lauschte noch eine Weile durch die geschlossene Tür, ob draußen was passierte, ob er vielleicht mit dem Werkzeug abhaute, und schließlich legte ich mich wieder in mein Zimmer und versuchte, an irgendwas anderes zu denken. Aber das war nicht so leicht. Unten war die ganze Zeit Werkzeuggeklapper zu hören, ein Rasen wurde gemäht, und jemand sang auf Russisch.

Sang schlecht auf Russisch. Und als es endlich ruhig geworden war ums Haus, beunruhigte mich das noch mehr. Ich schaute aus dem Fenster und sah, wie jemand durch unseren 99

Garten lief. Tschick spazierte einmal ganz um den Swimmingpool herum, blieb kopfschüttelnd an der Aluleiter stehen und kratzte sich mit einem Schraubenschlüssel am Rücken.

Ich machte das Fenster auf.

«Geiler Pool!», rief Tschick und strahlte zu mir hoch.

«Ja, geiler Pool. Geile Jacke, geiler Pool. Und jetzt?»

Er blieb einfach da stehen. Also ging ich runter, und wir unterhielten uns ein bisschen.

Tschick war ohne Ende begeistert von dem Pool, er wollte wissen, womit mein Vater sein Geld verdiente, und ich erklärte es ihm, und dann wollte ich von ihm wissen, wie er diesem Ford-Typen mit drei Sätzen den Stecker gezogen hatte, und er zuckte die Schultern. «Rus-senmafia.» Er grinste, und spätestens da wusste ich, dass es mit Mafia nichts zu tun hatte. Ich kriegte aber auch nicht raus, womit es was zu tun hatte, obwohl ich es noch eine Weile versuchte. Wir redeten nur so rum, und am Ende kam es, wie es kommen musste, und wir landeten vor der PlayStation und spielten GTA. Das kannte Tschick noch nicht, und wir waren nicht sehr erfolgreich, aber ich dachte: 100

Immer noch besser als schreiend in der Ecke liegen.

«Und du bist wirklich nicht sitzengeblieben?», fragte er irgendwann. «Ich meine, hast du denn jetzt reingeguckt? Das versteh ich nicht. Du hast Ferien, Mann, du fährst wahrscheinlich in Urlaub, du kannst auf diese Party, und du hast ein herrliches -»

«Auf welche Party?»

«Gehst du nicht zu Tatjana?»

«Nee, kein Bock.»

«Im Ernst?»

«Ich hab morgen schon was anderes vor», sagte ich und drückte hektisch auf dem Dreieck rum. «Außerdem bin ich nicht eingeladen.»

«Du bist nicht eingeladen? Ist ja krass. Ich dachte, ich bin der Einzige.»

«Ist doch eh langweilig», sagte ich und fuhr mit dem Tanklaster ein paar Leute um.

«Ja, für Schwule vielleicht. Aber für Leute wie mich, die noch im Saft stehen, ist diese Party ein must. Simla ist da. Und Natalie. Und Laura und Corinna und Sarah. Nicht zu vergessen Tatjana. Und Mia. Und Fadile und Ca-thy und Kimberley. Und die ultrasüße Jenni-101

fer. Und die Blonde aus der 8a. Und ihre Schwester. Und Melanie.»

«Ah», sagte ich und schaute deprimiert auf den Fernseher. Auch Tschick schaute deprimiert auf den Fernseher.

«Lass mich mal den Hubschrauber», sagte er, und ich gab ihm den Controller, und dann redeten wir nicht weiter davon.

Als Tschick schließlich nach Hause fuhr, war es schon fast Mitternacht. Ich hörte das Fahrrad Richtung Weidengasse davonquietschen, und dann stand ich eine Weile allein vor unserem Haus in der Nacht, über mir die Sterne.

Und das war das Beste an diesem Tag: dass er endlich zu Ende war. 15

Am nächsten Morgen ging es etwas besser.

Ich wachte so früh auf wie an jedem Schultag, das ließ sich leider nicht abstellen. Aber die Stille im Haus machte mir gleich klar: Ich bin allein, es sind Sommerferien, das Haus gehört mir, und ich kann machen, was ich will.

Ich schleppte als Erstes meine CDs runter und drehte die Anlage im Wohnzimmer voll auf. White Stripes. Dann die Terrassentür auf, 102

dann an den Pool gelegt mit drei Tüten Chips und Cola und meinem Lieblingsbuch, und ich versuchte, die ganze Scheiße zu vergessen.

Obwohl es noch früh war, hatten wir mindestens dreißig Grad im Schatten. Ich hängte die Füße ins Wasser, und Graf Luckner sprach zu mir. Das ist nämlich mein Lieblingsbuch: Graf Luckner. Hatte ich mindestens schon dreimal gelesen, aber ich dachte, ein viertes Mal kann nicht schaden. Wenn einer so drauf ist wie der Graf, kann man das auch fünfmal lesen. Oder zehnmal. Graf Luckner ist Pirat im Ersten Weltkrieg und versenkt einen Engländer nach dem anderen. Und zwar gentlemanlike. Das heißt, er bringt die nicht um. Er versenkt nur ihre Schiffe und rettet alle Passagiere und bringt sie an Land, im Auftrag Seiner Majes-tät. Und das Buch ist nicht erfunden, das hat er wirklich erlebt. Die tollste Stelle ist aber mit Australien. Da ist er Leuchtturmwärter und jagt Kängurus. Ich meine, er

ist fünfzehn. Er kennt niemanden da. Er ist mit dem Schiff ausgerissen, und dann geht er zur Heilsarmee und landet auf einem Leuchtturm in Australien und jagt Kängurus. Aber so weit kam ich diesmal gar nicht.

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