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Die Sonne knallte runter, ich stellte den Sonnenschirm auf, und der Wind wehte ihn um.

Ich stellte Gewichte auf den Fuß. Dann war Ruhe. Aber ich konnte nicht lesen. Ich war auf einmal so begeistert davon, dass ich jetzt machen konnte, was ich wollte, dass ich vor lauter Begeisterung überhaupt nichts machte. Da war ich ganz anders als Graf Luckner. Ich phantasierte nur wieder rum, der ganze Mist mit Tatjana nochmal von vorn. Dann fiel mir ein, dass der Rasen gesprengt werden musste.

Das hatte mein Vater vergessen, mir aufzutra-gen, und ich hätte es also nicht machen müssen. Aber ich machte es. Es hätte mich wahnsinnig gestört, wenn ich's hätte machen müssen, aber jetzt, wo ich praktisch der Hausbe-sitzer war und der Garten mein Garten, fand ich auf einmal Gefallen am Rasensprengen.

Ich stand barfuß auf der Treppe vor unserem Haus und spritzte mit dem gelben Schlauch rum. Ich hatte das Wasser voll aufgedreht, der Strahl schoss mindestens zwanzig Meter durch die Luft. Die entfernteren Ecken des Vorgartens erreichte ich trotzdem nicht, obwohl ich mit allerlei Tricks und Rumschrau-ben an der Düse versuchte, noch weiter zu schießen. Weil, ich durfte jetzt auf keinen Fall 104

von der Treppe runter. Das war Bedingung.

Im Wohnzimmer White Stripes voll aufgedreht, Haustür offen, und ich: Hose hochgekrempelt und barfuß, Sonnenbrille im Haar, Graf Koks von der Gasanstalt sprengt seine Ländereien. Das konnte ich jetzt jeden Morgen! Ich fand es auch gut, wenn mich jemand dabei sah. Aber die meiste Zeit sah mich keiner. Es war halb neun, die großen Ferien, da lag alles schläfrig versunken. Zwei Blaumeisen zwitscherten durch den Garten. Der sympathisch vergrübelte und seit kurzem erschüt-ternd verliebte Graf Koks von Klingenberg weilte ganz allein auf seinen Gütern - nein, nicht ganz allein. Jack und Meg, die ihn wie so oft, vom Paparazzi-Trubel ermüdet, in seinem Berliner Domizil besuchten, veranstalteten eine kleine Jamsession im Hinterzimmer.

Gleich würde der Graf sich zu ihnen gesellen und ein paar rockige Töne auf der Blockflöte beisteuern. Die Vögel zwitscherten, das Wasser plätscherte ... Nichts liebte Koks von Klingenberg mehr als diese Blaumeisen-Morgenstunde, in der er seinen Rasen sprengte. Er knickte den Wasserschlauch ab, wartete zehn Sekunden, bis der volle Druck sich auf-gebaut hatte, und schoss eine Dreißig-Meter-105

Boden-Boden-Rakete auf den Rhododendron.

In the Cold, Cold Night, sang Meg White.

Ein klappriges Auto kam die Straße runtergefahren. Es fuhr langsam auf unser Haus zu und bog in die Auffahrt ein. Eine Minute stand der hellblaue Lada Niva mit laufendem Motor vor unserer Garage, dann wurde der Motor abgestellt. Die Fahrertür ging auf, Tschick stieg aus. Er legte beide Ellenbogen aufs Autodach und sah zu, wie ich den Rasen sprengte.

«Ah», sagte er, und dann sagte er lange nichts mehr. «Macht das Spaß?» 16

Die ganze Zeit wartete ich krampfhaft, dass auch sein Vater oder sein Bruder oder wer auch immer hinter ihm aussteigen würde, aber da stieg niemand mehr aus. Und das lag daran, dass niemand mehr drin war in dem Auto. Man konnte es durch die dreckigen Scheiben nur schlecht erkennen.

«Du siehst aus wie 'n Schwuler, dem sie über Nacht den Garten vollgekackt haben. Soll ich dich wo hinfahren, oder willst du lieber noch ein bisschen mit dem Wasser spritzen?» Er 106

grinste sein breitestes Russengrinsen. «Steig ein, Mann.»

Aber natürlich stieg ich nicht ein. Ich war ja nicht völlig verrückt. Ich ging nur kurz hin und setzte mich halb auf den Beifahrersitz, weil ich nicht so auffällig in der Einfahrt rumstehen wollte.

Von innen sah der Lada noch kaputter aus als von außen. Unter dem Lenkrad hingen Kabel raus, ein Schraubenzieher steckte unterm Armaturenbrett.

«Hast du jetzt endgültig den Arsch offen?»

«Ist nur geliehen, nicht geklaut», sagte Tschick. «Stell ich nachher wieder hin. Haben wir schon öfter gemacht.»

«Wer wir?»

«Mein Bruder. Hat den auch entdeckt. Die Karre steht da auf der Straße und ist praktisch Schrott. Kann man leihen. Der Besitzer merkt das gar nicht.»

«Und das da?» Ich zeigte auf den Kabelsalat.

«Kann man wieder reinmachen.»

«Du spinnst doch. Und die Fingerabdru-cke?»

«Was denn für Fingerabdrücke? Sitzt du deshalb die ganze Zeit so komisch da?» Er rüttelte an meinen Armen, die ich krampfhaft 107

vor der Brust verschränkt hielt. «Mach dir nicht ins Hemd. Das ist Fernsehscheiß mit Fingerabdrücken. Hier - kannst du anfassen.

Kannst du alles anfassen. Los, wir fahren mal

'ne Runde.»

«Ohne mich.» Ich sah ihn an und sagte erst mal nichts mehr. Er hatte wirklich den Arsch offen.

«Hast du nicht gestern gesagt, du willst mal was erleben?»

«Damit hab ich nicht Knast gemeint.»

«Knast! Du bist doch nicht mal strafmündig.»

«Mach, was du willst. Aber ohne mich.» Ich wusste, ehrlich gesagt, nicht mal, was strafmündig heißt. Also, so ungefähr schon. Aber nicht genau.

«Strafmündig heißt: Dir kann nichts passie-ren. Wenn ich du war, würd ich nochmal 'ne Bank überfallen, sagt mein Bruder immer. Bis du fünfzehn bist. Mein Bruder ist dreißig. In Russland prügeln sie dir sieben Sorten Scheiße aus dem Hirn - aber hier! Außerdem interessiert die Karre wirklich niemanden. Nicht mal den Besitzer.»

«No way.»

«Einmal um den Block.»

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«Nein.»

Tschick löste die Handbremse, und ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, warum ich nicht ausstieg. Ich bin ja sonst eher feige. Aber gerade deshalb wollte ich wahrscheinlich mal nicht feige sein. Er trat mit dem linken Fuß auf das Pedal ganz links, und der Lada rollte lautlos rückwärts die Schräge hinunter. Tschick trat das mittlere Pedal, und der Wagen blieb stehen. Ein Griff in den Kabelsalat, der Motor startete, und ich schloss meine Augen. Als ich sie wieder öffnete, glitten wir den Ketschen-dorfer Weg runter und rechts in die Rotrauds-traße.

«Du hast nicht geblinkt», sagte ich kläglich, die Arme immer noch an die Brust gepresst.

Ich war vor Aufregung fast tot. Dann suchte ich nach dem Sicherheitsgurt.

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