Tschick kratzte sich am Hals. Er legte die Zeichnung auf den Schreibtisch, betrachtete sie kopfschüttelnd und sah mich dann wieder an und sagte: «Genau so würd ich's machen.» 17
«Im Ernst, du musst was machen. Wenn du nichts machst, wirst du verrückt. Lass uns da vorbeifahren. Ist doch wurscht, ob du denkst, es ist peinlich. In einem geklauten Lada ist eh nichts mehr peinlich. Zieh deine geile Jacke an, nimm deine Zeichnung und schwing deinen Arsch ins Auto.»
«Never.»
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«Wir warten, bis es dämmert, und dann schwingst du deinen Arsch ins Auto.»
«Nee.»
«Und warum nicht? »
«Ich bin nicht eingeladen.»
«Du bist nicht eingeladen! Na und? Ich bin auch nicht eingeladen. Und weißt du, warum?
Logisch, der Russenarsch ist nicht eingeladen.
Aber weißt du, warum du nicht eingeladen bist? Siehst du - du weißt es nicht mal. Aber ich weiß es.»
«Dann sag's, du Held. Weil ich langweilig bin und scheiße ausseh.»
Tschick schüttelte den Kopf. «Du siehst nicht scheiße aus. Oder vielleicht siehst du scheiße aus. Aber daran liegt's nicht. Der Grund ist: Es gibt überhaupt keinen Grund, dich einzu-laden. Du fällst nicht auf. Du musst auffallen, Mann.»
«Was meinst du mit auffallen? Jeden Tag besoffen in die Schule kommen?»
«Nein. Mein Gott. Aber wenn ich du war und aussehen würde wie du und hier wohnen würde und solche Klamotten hätte, war ich schon hundertmal eingeladen.»
«Brauchst du Klamotten?»
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«Lenk nicht ab. Sobald es dämmert, fahren wir nach Werder.»
«Never.»
«Wir gehen nicht auf die Party. Wir fahren nur vorbei.»
Was für eine endbescheuerte Idee. Genau genommen waren es gleich drei Ideen, und jede einzelne davon war bescheuert: Uneingeladen aufkreuzen, mit dem Lada quer durch Berlin, und - am bescheuertsten von allen -
die Zeichnung mitnehmen. Denn eins war mal klar: Auch Tatjana würde merken, was es mit dieser Zeichnung auf sich hatte. Ich wollte auf keinen Fall da hin.
Während Tschick mich nach Werder kut-schierte, erzählte ich unaufhörlich, dass ich da nicht hinwollte. Erst sagte ich, er solle umkeh-ren, ich hätte es mir anders überlegt, dann behauptete ich, dass wir die genaue Adresse ja gar nicht wüssten, und dann schwor ich, dass ich auf keinen Fall aussteigen würde aus dem Lada.
Während der ganzen langen Fahrt hielt ich die Hände in den Achseln. Diesmal nicht wegen Fingerabdrücken, sondern weil sie sonst gezittert hätten. Vor mir auf dem Armaturenbrett lag Beyonce und zitterte auch.
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Bei aller Aufregung bemerkte ich immerhin, dass Tschick vorsichtiger fuhr als noch am Morgen. Er umging die zweispurigen Straßen und nahm lange vor roten Ampeln den Fuß vom Gas, damit wir nicht dastanden und Pas-santen zu uns reingucken konnten. Einmal mussten wir auf dem Seitenstreifen halten, weil es anfing zu regnen und der Scheibenwi-scher nicht funktionierte. Aber da waren wir schon fast raus aus Berlin. Es schüttete wie aus Eimern. Allerdings nur fünf Minuten lang, ein Gewitterregen. Danach roch die Luft wahnsinnig gut.
Ich schaute durch die Windschutzscheibe, auf der der Fahrtwind die Tropfen auseinan-dertrieb, und mir fiel zum ersten Mal auf, wie merkwürdig es war, in einem Auto, das einem nicht gehörte, durch die Straßen zu gondeln, durch das abendliche Berlin, und dann raus über die Alleen im Westen und an einsamen Tankstellen vorbei und den Wegweisern nach Werder hinterher. Plötzlich stand die rote Sonne unter schwarzen Wolken. Ich sagte kein Wort mehr, und Tschick sagte auch nichts, und ich war froh, dass er so entschlossen auf die Party zuhielt, wo ich angeblich gar nicht hinwollte. Drei Monate lang hatte ich an 119
nichts anderes gedacht - und jetzt passierte es eben, und ich würde mich vor Tatjana auffüh-ren wie der lächerlichste Mensch.
Das Haus war nicht schwer zu finden. Wir hätten es wahrscheinlich auch so gefunden, wenn wir die Straßen an der Havel abgefahren wären, aber gleich hinterm Ortseingang tauchten zwei Mountainbikes mit Schlafsä-cken bepackt vor uns auf - Andre und noch irgendein Trottel. Tschick fuhr ihnen in siche-rem Abstand hinterher, und dann sahen wir schon das Haus. Rot geklinkert, ein Vorgarten voller Fahrräder, vom See her ein Riesenge-schrei. Noch hundert Meter entfernt. Ich rutschte von meinem Sitz hinunter in den Fußraum, während Tschick das Fenster run-terkurbelte, lässig einen Ellenbogen raus-hängte und mit achteinhalb Stundenkilometern an der ganzen Gesellschaft vorbeifuhr.
Ungefähr ein Dutzend Leute stand im Vorgarten und in der offenen Haustür, Leute mit Gläsern und Flaschen und Handys und Zigaretten in den Händen. Unmengen hinten im Garten. Bekannte und unbekannte Gesichter, aufgedonnerte Mädchen aus der Parallelklas-se. Und wie eine Sonne mittendrin Tatjana.
Wenn sie schon die größten Trottel und Rus-120
sen nicht eingeladen hatte, hatte sie doch sonst alles eingeladen, was laufen konnte. Das Haus blieb langsam hinter uns zurück. Keiner hatte uns gesehen, und mir fiel ein, dass ich ja überhaupt keinen Plan hatte, wie ich Tatjana die Zeichnung geben sollte. Ich dachte ernsthaft darüber nach, sie während der Fahrt aus dem Fenster zu werfen. Irgendwer würde sie schon finden und zu ihr bringen. Aber bevor ich noch irgendwas Bescheuertes tun konnte, bremste Tschick schon und stieg aus.
Entsetzt sah ich ihm hinterher. Ich weiß nicht, ob Verliebtsein immer so peinlich ist, aber an-scheinend habe ich kein großes Talent dafür.
Während ich mit mir kämpfte, ob ich endgültig im Fußraum versinken und mir die Jacke über den Kopf ziehen oder zurück auf den Sitz klettern und ein unbeteiligtes Gesicht machen sollte, schoss hinterm rotgeklinkerten Haus eine Rakete in den Himmel und explodierte rot und gelb, und fast alle rannten in den Garten zum Feuerwerk. Allein Andre mit seinem Mountainbike und Tatjana, die ihn begrüßen gekommen war, standen noch auf dem Bürgersteig. Und Tschick.
Tschick stand jetzt direkt vor ihnen. Sie starrten ihn an, als ob sie ihn nicht erkennen 121
würden, und wahrscheinlich erkannten sie ihn wirklich nicht. Denn Tschick hatte meine Sonnenbrille auf. Außerdem trug er eine Jeans von mir und mein graues Jackett. Wir hatten den ganzen Tag meinen Kleider-schrank ausgeräumt, und ich hatte Tschick drei Hosen und ein paar Hemden und Pullover und so was geschenkt, mit dem Ergebnis, dass er nun nicht mehr aussah wie der letzte Russenarsch, sondern wie ein Kleiderständer aus «Gute Zeiten, schlechte Zeiten». Wobei das keine Beleidigung sein soll. Aber er sah sich einfach selbst nicht mehr ähnlich, und dann hatte er auch noch eine Ladung Gel im Haar. Ich konnte sehen, wie er Tatjana ans-prach und sie antwortete - irritiert antwortete.
Tschick winkte mir hinter seinem Rücken mit der Hand. Wie hypnotisiert stieg ich aus, und was dann passierte - frag mich nicht. Ich weiß es nicht mehr. Plötzlich stand ich mit der Zeichnung neben Tatjana, und ich glaube, sie guckte mich genauso irritiert an wie vorher Tschick. Aber ich hab's eigentlich nicht gesehen.
Ich sagte: «Hier.»
Ich sagte: «Beyonce.»
Ich sagte: «Eine Zeichnung.»