«Du musst keine Angst haben. Ich fahr wie 'n Weltmeister.»
«Blink doch mal wie 'n Weltmeister.»
«Ich hab noch nie geblinkt.»
«Bitte.»
«Wozu? Die Leute sehen doch, wo ich hinfahr. Und es ist sowieso keiner da.»
Das stimmte, die ganze Straße war leer. Und es stimmte noch ungefähr eine Minute lang.
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Dann war Tschick zweimal abgebogen, und plötzlich waren wir auf der Allee der Kosmonauten. Die Allee der Kosmonauten ist viers-purig. Ich kriegte endgültig Panik.
«Okay, okay. Und jetzt zurück. Bitte.»
«Mika Häkkinen ist ein Scheiß gegen mich.»
«Das hast du schon gesagt.»
«Stimmt's nicht?»
«Nein.»
«Im Ernst. Fahr ich nicht gut?», fragte Tschick.
«Ganz toll», sagte ich, und in Erinnerung daran, dass das die Standardantwort meiner Mutter auf die Standardfrage meines Vaters war, sagte ich noch: «Ganz toll, Liebling.»
«Dreh jetzt nicht durch.»
Tschick fuhr nicht gerade wie ein Weltmeister, er fuhr aber auch nicht katastrophal.
Nicht viel besser oder schlechter als mein Vater. Und er steuerte tatsächlich wieder unser Viertel an.
«Und könntest du dich mal an irgendwelche Verkehrsregeln halten? Das da ist ein durch-gezogener Strich.»
«Bist du schwul?»
«Was?»
«Ich hab gefragt, ob du schwul bist.»
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«Hast du sie noch alle?»
«Du hast Liebling gesagt.»
«Ich hab... was? Man nennt es Ironie.»
«Also, bist du schwul?»
«Wegen der Ironie?»
«Und weil du dich nicht für Mädchen inter-essierst.» Er sah mir tief in die Augen.
«Guck auf die Straße!», rief ich, und ich muss zugeben, ich wurde langsam hysterisch. Er fuhr einfach, ohne hinzugucken. Machte mein Vater auch manchmal, aber mein Vater war auch mein Vater und hatte einen Führer-schein.
«Alle in der Klasse sind voll in Tatjana. Aber voll.»
«In wen?»
«In Tatjana. Wir haben ein Mädchen in der Klasse, das Tatjana heißt. Dir nie aufgefallen?
Tatjana Superstar. Du bist der Einzige, der sie nicht mit dem Arsch anguckt. Aber du guckst auch sonst keine mit dem Arsch an. Also, bist du schwul? Ich frag nur so.»
Ich dachte fast, ich sterbe.
«Find ich nicht schlimm», sagte Tschick.
«Ich hab einen Onkel in Moskau, der läuft den 111
ganzen Tag in einer Lederhose mit hinten Arsch offen rum. Ist aber völlig okay sonst, mein Onkel. Arbeitet für die Regierung. Und er kann ja nichts dafür, dass er schwul ist. Ich find's wirklich nicht schlimm.»
Hammer. Ich fand es auch
nicht schlimm, wenn einer schwul ist. Auch wenn das nicht meine Vorstellung von Russland war, dass man da in Lederhosen mit Arsch offen rumlief. Aber dass ich Tatjana Cosic wie Luft behandelte, das war doch ein ziemlicher Witz, oder? Weil, natürlich behandelte ich sie wie Luft. Wie hätte ich sie denn sonst behandeln sollen? Für ein absolutes Nichts, eine gestörte Schlaftablette war das ja wohl immer noch die einzige Möglichkeit, sich nicht komplett lächerlich zu machen. «Du bist ein Idiot», sagte ich.