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«Ja.»

«Und?»

Worauf zum Geier wollten die hinaus? «Das ist so ein Heim, wo man die ersten vier Wochen keinen Kontakt haben darf. Die ersten vier Wochen werden die abgeschnitten von der Außenwelt. Müssten Sie doch eigentlich besser wissen.»

Nummer eins kaute mit offenem Mund. Nach dem geisteskranken Zeichentrickbären war das eine echte Erleichterung.

«Was ist denn passiert?», fragte ich.

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«Ein Lada», sagte Nummer zwei. Er ließ das auf mich wirken. Ein Lada. «Da ist ein Lada verschwunden in der Annenstraße.»

«Kerstingstraße», sagte ich.

«Was?»

«Wir haben den in der Kerstingstraße geklaut.»

«Annenstraße», sagte der Polizist. «Vorgestern. Alter Schrott. Kurzgeschlossen. Heute Nacht bei Königs Wusterhausen wiedergefun-den. Totalschaden.»

«Gestern», sagte Nummer eins. Er kaute zweimal auf seinem Kaugummi. «Gestern gefunden. Vorgestern geklaut.»

«Also, es geht jetzt nicht um unseren Lada?»

«Was meinst du mit unseren?»

« Wissen Sie doch.»

Das Kaugummi knallte in seinem Mund. «Es geht um die Annenstraße.»

«Und was hab ich damit zu tun?»

«Das ist die Frage.»

Und da dämmerte mir so langsam, dass Tschick und ich jetzt wahrscheinlich für die nächsten hundert Jahre für jedes beschissene Auto verantwortlich sein würden, das jemand in Marzahn kurzschloss.

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Aber das in der Annenstraße konnte ich nicht gewesen sein, weil ich den ganzen Tag Schule gehabt hatte und abends Fußballtraining, und es war nicht sehr schwer, die Polizisten davon zu überzeugen, dass auch Tschick in seinem geschlossenen Heim nichts damit zu tun hatte. Schienen sie merkwürdigerweise auch vorher schon geahnt zu haben. Besonders Nummer zwei meinte die ganze Zeit, dass sie sich nur die Vorladung hatten sparen wollen und einfach mal vorbeigucken, sie machten sich nicht mal Notizen. Ich war fast ein bisschen enttäuscht. Denn in diesem Moment klingelte es zum Ende der sechsten Stunde, und die Tür zum Klassenzimmer ging auf. Dreißig Augen-paare, Zeichentrickbär inklusive, glotzten raus, und irgendwie wäre es doch toller gewesen, wenn sie mich gerade mit dem Schlag-stock gewürgt hätten. Maik Klingenberg, der Schwerverbrecher. Aber sie wollten sich nur verabschieden und gehen.

«Soll ich Sie noch zum Auto begleiten?», fragte ich, und Nummer zwei explodierte sofort: «Findest du das cool vor deinen Mitschü-lern oder was? Willst du noch Handschellen angelegt kriegen?»

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Wieder diese Erwachsenensache. Wie schnell die einen durchschauen. Ich hielt es für das Lässigste, es nicht abzustreiten. Aber da war nichts zu machen. Und ich wollte dann auch nicht aufdringlich sein. Sie hatten schon genug für mich getan. 49

Irgendwann musste ich ins Sekretariat und einen Brief abholen. Einen richtigen Brief. Ich hab in meinem Leben vielleicht drei Briefe bekommen. Einen, den ich in der Grundschule an mich selbst schreiben musste, weil wir das lernen sollten, und dann noch einen oder zwei von meiner Großmutter, bevor sie Internet hatte. Die Sekretärin hielt den Brief in der Hand, und ich sah, dass vorne drauf eine komische kleine Kugelschreiberzeichnung von einem Auto war, in dem ein paar Strichmänn-chen saßen, und rund um das Auto ein paar Strahlen, als wäre das Auto die Sonne, und dadrunter stand:

Maik Klingenburg

Schüler am Hagecius-Gymnasium neunte Klasse ungefähr

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Berlin

Dass das angekommen war, war schon ein Wunder. Aber weil ich nicht Klingenburg hieß und sie in der fünften Klasse auch noch einen Maik Klinger hatten, wollte die Sekretärin erst mal wissen, ob ich den Absender kennen würde.

«Andrej Tschichatschow», sagte ich, denn der Brief konnte logisch nur von Tschick sein, der es irgendwie geschafft hatte, an der Kon-taktsperre vorbei zu schreiben, und ich freute mich wahnsinnig.

«Anselm», sagte die Sekreträrin.

«Anselm», sagte ich. Ich kannte keinen Anselm. Die Sekretärin hielt den Kopf schief, und nach einer Weile sagte ich: «Anselm Wail?», und die Sekreträrin gab mir den Brief.

Wahnsinn. Anselm Wail, Auf dem hohen Berg. Ich riss ihn sofort auf, um zu gucken, wer der wahre Absender war, und dann war ich viel zu aufgeregt zum Lesen und packte ihn wieder ein und las ihn erst eine Stunde später, als ich zu Hause war und auf dem Bett lag.

Weil, er war natürlich von Isa. Und ich freute mich riesig. Ich freute mich fast genauso, wie 333

wenn der Brief von Tschick gewesen wäre. Ich lag den ganzen Nachmittag damit auf dem Bett und dachte darüber nach, ob ich jetzt eigentlich mehr in Tatjana verliebt war oder mehr in Isa, und ich wusste es nicht. Im Ernst, ich wusste es nicht.

Hallo du Schwachkopf. Habt ihrs noch in die Walachei geschafft? Ich wette nicht. Ich hab meine Halbschwester besucht und kann dir jetzt das Geld wiedergeben. Ich hab einen Lasterfahrer verprügelt und meinen Holz-kasten verloren. Ich fand es gut mit euch. Ich fands schade, dass wir nicht geküsst haben.

Ich fand am besten die Brombeeren. Nächste Woche komm ich nach Berlin. Sonntag den 29. um 17 Uhr unter der Weltzeituhr, wenn du nicht noch fünfzig Jahre warten willst. Kuss - Isa.

Von unten waren Geräusche zu hören. Es gab einen Schrei, es krachte und rumpelte. Lange hörte ich nicht hin, weil ich dachte, meine Eltern streiten wieder, und ich drehte mich mit dem Brief auf den Rücken. Dann fiel mir aber ein, dass mein Vater gar nicht da war, weil er heute mit Mona zusammen eine neue Wohnung anguckte.

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