warum das auf mich einen so starken Eindruck gemacht hat. Aber ich hatte noch nie in meinem Leben erwachsene Frauen weinen sehen, und das hat mich wahnsinnig lange beschäftigt damals. Und so eine Nacht ist es jetzt wieder.
Ich habe den Kopf zur Seite gelegt und schaue hinaus, und der Lada zieht leise die kurvige Straße durch die blaugrünen Kornfelder des Sommers. Irgendwann sage ich, ich will mal anhalten, und ich halte an. Im Dunkeln liegt das Land, liegen Wiesen und Wege, und wir stehen vor einer großen Ebene, auf der in der Ferne der schwarze Umriss eines Bauernhofs zu sehen ist. Und als ich gerade etwas sagen will, geht links in einem kleinen Fenster im Bauernhof ein grünes Licht an, und ich sage nichts mehr. Ich kann nicht mehr. Schließlich legt Tschick seinen Arm um meine Schultern und sagt: «Wir müssen weiter.»
Und wir steigen ein und fahren weiter. 43
Am nächsten Tag waren wir wieder auf der Autobahn. Uns überholte ein riesiger Lkw, der 294
aussah wie aus Schweineställen zusammen-genagelt. Ein paar Räder unten dran, eine ros-tige Fahrerkabine, ein Nummernschild aus, weiß der Geier, Albanien. Wie man erst auf den zweiten Blick sehen konnte, waren die Schweineställe wirklich Schweineställe. Ne-beneinander und übereinander stapelten sich die Käfige, und aus jedem guckte ein Schwein.
«Scheißleben», sagte Tschick.
Es ging leicht bergauf, und der Lkw brauchte eine halbe Stunde, um uns zu überholen. Als wir gerade seine Hinterreifen sehen konnten, fiel er wieder zurück. Nach einer Weile tauchte erneut das Fahrerhäuschen neben uns auf.
Jemand kurbelte das Beifahrerfenster runter.
«Hat der dich gesehen?», fragte Tschick.
«Oder guckt der die Beule in unserem Dach an?»
Ich ging vom Gas, um ihm das Vorbeikommen leichter zu machen. Der Lkw blinkte, setzte sich vor uns auf die Spur und wurde noch langsamer.
«Was ist denn das für ein Scheißidiot?», sagte Tschick.
Wir fuhren höchstens noch sechzig. Fünfundfünfzig.
«Überhol ihn einfach.»
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Ich ging auf die linke Spur. Der Lkw vor uns ging auch auf die linke Spur.
«Dann geh rechts vorbei.»
Ich ging nach rechts. Der Lkw pendelte sich in der Mitte ein, und ich weiß nicht und weiß es bis heute nicht, ob der Typ uns ausbremsen wollte oder einfach nur stulle war. Tschick meinte, ich sollte warten, bis ein anderes Auto käme, und mich dann dranhängen. Aber es kam kein anderes Auto. Die Autobahn war so leer wie noch nie.
«Soll ich die Standspur nehmen?»
«Mit Anlauf vielleicht», sagte Tschick.
«Wenn du dir das zutraust. Du musst kup-peln.»
Wir ließen uns zurückfallen, ich trat die Kupplung, und Tschick legte den dritten Gang ein. Das Getriebe heulte auf.
«Und jetzt voll aufs Gas. Dann geht er ab wie Rakete.»
Rakete war nicht ganz das richtige Wort.
Wanderdüne hätte es genauer getroffen. Wir waren mittlerweile hundertfünfzig oder zweihundert Meter hinter den Lkw zurückgefallen, und mit durchgetretenem Gaspedal brauchten wir eine Minute, um wieder ranzukommen.
Dann hatte sich die Tachonadel langsam 296
hochgezittert. Ich hielt zur Tarnung genau auf den Lkw zu. Er fuhr leichte Schlangenlinien, und ich wusste nicht, auf welcher Seite ich vorbei sollte.
«Fahr auch Schlangenlinien», sagte Tschick.
«Und im letzten Moment dann zack.»
Ich hatte den Fuß immer noch voll auf dem Gas, und ich muss dazusagen, dass ich in diesem Moment gar nicht wahnsinnig aufgeregt war. Dieses Schlangenlinienfahren kannte ich von der PlayStation. Schlangenlinienfahren kam mir viel normaler vor als Geradeausfah-ren, und der Schweinetransporter benahm sich wie ein typisches Hindernis. Ich hielt also auf das Hindernis zu, um im letzten Moment auf die Standspur zu ziehen, und ich nehme an, genau das hätte ich auch getan, wenn Tschick nicht gewesen wäre. Wenn Tschick nicht gewesen wäre, hätte ich das nicht überlebt.
«BREMS!», schrie er. «BREEEEEEMS!», und mein Fuß bremste, und ich glaube, erst sehr viel später habe ich den Schrei gehört und verstanden. Der Fuß bremste von allein, weil ich ja auch vorher schon immer gemacht hatte, was Tschick sagte, und jetzt schrie er
«Bremsen», und ich bremste, ohne zu wissen 297
warum. Denn es gab eigentlich keinen Grund zu bremsen.
Zwischen dem Laster und der Leitplanke wä-re Platz für mindestens fünf Autos gewesen, und es wäre mir frühestens im Jenseits aufgefallen, dass der Lkw diese Seite der Autobahn gar nicht frei gemacht hatte, sondern frei gerutscht. Sein Heck war nach links ge-schmiert, und obwohl wir genau hinter dem Laster fuhren, sah ich auf einmal direkt vor mir die Fahrerkabine auf der Mitte der Autobahn - und wie sie vom Heck links überholt wurde. Der Lastwagen verwandelte sich in ei-ne Schranke. Die Schranke rutschte vor uns davon, auf der ganzen Breite der Autobahn, und wir rutschten hinterher. Es war ein so ungewohnter Anblick, dass ich hinterher dachte, es hätte mehrere Minuten gedauert.
In Wirklichkeit dauerte es nicht einmal so lange, dass Tschick ein drittes Mal «BREMS!»
schreien konnte.
Der Lada drehte sich leicht seitwärts. Die Schranke vor uns neigte sich unentschlossen nach hinten, kippte krachend um und hielt uns zwölf rotierende Räder entgegen. Dreißig Meter vor uns. In absoluter Stille glitten wir auf diese Räder zu, und ich dachte, jetzt ster-298
ben wir also. Ich dachte, jetzt komme ich nie wieder nach Berlin, jetzt sehe ich nie wieder Tatjana, und ich werde nie erfahren, ob ihr meine Zeichnung gefallen hat oder nicht. Ich dachte, ich müsste mich bei meinen Eltern entschuldigen, und ich dachte: Mist, nicht zwischengespeichert.
Ich dachte auch, ich sollte Tschick sagen, dass ich seinetwegen fast schwul geworden wäre, ich dachte, sterben muss ich sowieso, warum nicht jetzt, und so rutschten wir auf diesen Lkw zu - und es passierte nichts. Es gab keinen Knall. In meiner Erinnerung gibt es keinen Knall. Dabei muss es wahnsinnig geknallt haben. Denn wir rauschten vollrohr in den Laster rein. 44
Einen Moment lang spürte ich nichts. Das Erste, was ich wieder spürte, war, dass ich keine Luft bekam. Der Sicherheitsgurt schnitt mich in der Mitte entzwei, und mein Kopf lag fast auf dem Gaspedal. Dort lag auch Tschicks Gipsbein irgendwo. Ich richtete mich auf.