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Weil, wenn man irgendwo in der Pampa, wo man noch nie war, einen Unfall baut und ringsum nur Felder und am Horizont ein paar Bäume und einzelne Gebäude - woher hätten wir ahnen sollen, dass dieses große weiße Ding, auf das wir da angeblich zielstrebig zu-gehumpelt sind, ein Krankenhaus ist?

Aber, wie gesagt, der Richter interessierte sich sowieso mehr für andere Dinge.

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«Was mich mal interessieren würde, wer von euch beiden genau hat die Idee zu dieser Reise gehabt?» Die Frage ging an mich.

«Na, der Russe, wer sonst!», kam es halblaut von hinten. Mein Vater, der Idiot.

«Die Frage geht an den Angeklagten!», sagte der Richter. «Wenn ich Ihre Meinung wissen wollte, würde ich Sie fragen.»

«Wir hatten die Idee», sagte ich. «Wir beide.»

«Quatsch!», meldete sich Tschick zu Wort.

«Wir wollten einfach ein bisschen rumfah-ren», sagte ich, «Urlaub wie normale Leute und -»

«Quatsch», meldete Tschick sich wieder.

«Du bist nicht dran», sagte der Richter.

«Warte, bis ich zu dir komme.»

Da war er ganz eisern, dieser Richter. Reden durfte immer nur, wer dran war. Und als Tschick dran war, erklärte er sofort, dass das mit der Walachei seine Idee gewesen wäre und dass er mich geradezu ins Auto hätte zer-ren müssen. Er erzählte, woher er wüsste, wie man Autos kurzschließt, während ich keine Ahnung hätte und das Gaspedal nicht von der Bremse unterscheiden könnte. Er erzählte völligen Quatsch, und ich sagte dem Richter, 314

dass das völliger Quatsch ist, und da sagte der Richter jetzt zu mir, dass ich nicht dran wäre, und im Hintergrund stöhnte mein Vater.

Und als wir schließlich genug über das Auto geredet hatten, kam der schlimmste Teil, und es wurde über uns geredet. Nämlich der Typ vom Jugendheim erklärte ausführlich, aus was für Verhältnissen Tschick kommen würde, und er redete über Tschick, als wäre der gar nicht anwesend, und sagte, dass seine Familie so eine Art asozialer Scheiße wäre, auch wenn er andere Worte dafür gebrauchte.

Und dann erklärte der Typ von der Jugendgerichtshilfe, der mich und meine Eltern zu Hause besucht hatte, aus was für einem stink-reichen Elternhaus ich kommen würde und dass ich dort vernachlässigt würde und ver-wahrlost sei und meine Familie letztlich auch so eine Art asozialer Scheiße, und als das Urteil verkündet wurde, war ich überrascht, dass sie mich nicht lebenslänglich einsperrten. Im Gegenteil, milder konnte ein Urteil gar nicht ausfallen. Tschick musste im Heim bleiben, wo er eh schon war, und an mich erging die Weisung, Arbeitsleistungen zu erbringen. Im Ernst, das hat der Richter gesagt. Er hat dann zum Glück auch gleich erklärt, was 315

er damit meinte, und in meinem Fall meinte er, dass ich dreißig Stunden lang Mongos den Arsch abwischen soll. Zum Schluss kamen noch stundenlange moralische Ermahnungen, aber es waren eigentlich sehr okaye Ermahnungen. Nicht wie bei meinem Vater oder an der Schule immer, sondern schon eher so Sachen, wo man dachte, es geht am Ende um Leben und Tod, und ich hörte mir das sehr genau an, weil mir schien, dass dieser Richter nicht gerade endbescheuert war. Im Gegenteil. Der schien ziemlich vernünftig. Und der hieß Burgmüller, falls es jemanden interessiert. 47

Und das war dann dieser Sommer. Die Schule fing wieder an. Statt 8c stand jetzt 9c an der Tür von unserem Klassenraum. Sonst hatte sich nicht viel verändert. Es war noch die gleiche Sitzordnung wie in der Achten. Jeder saß da, wo er vorher gesessen hatte, außer dass am Tisch ganz hinten keiner mehr saß. Kein Tschick.

Erste Stunde am ersten Tag nach den Sommerferien: Wagenbach. Ich war eine Minute 316

zu spät, kriegte aber ausnahmsweise keinen Anschiss. Ich humpelte noch ein bisschen und hatte Schrammen im Gesicht und überall.

Wagenbach hob nur eine Augenbraue und schrieb das Wort «Bismarck» an die Tafel.

Schüler Tschichatschow würde heute nicht zum Unterricht erscheinen, erklärte er ganz nebenbei, und warum das so war, wusste er nicht, oder er sagte es nicht. Ich glaube, er wusste es nicht.

Ich wurde ein bisschen traurig, als ich den leeren Platz sah, und ich wurde noch trauriger, als ich zu Tatjana rüberguckte, die einen Bleistift im Mund hatte und ganz braun ge-brannt war. Sie hörte Wagenbach zu, und es war ihr nicht anzusehen, ob sie jetzt stolze Be-sitzerin einer Bleistift-Beyonce war oder ob sie die Zeichnung einfach zusammengeknüllt und in den Papierkorb geworfen hatte. Tatjana war so schön an diesem Morgen, dass es mir schwerfiel, nicht dauernd zu ihr rüberzu-gucken. Aber mit eisernem Willen schaffte ich es.

Ich versuchte gerade, mich wenigstens ein bisschen für die Geschäfte dieses Bismarck zu interessieren, als ich von Hans einen Zettel auf den Oberschenkel gelegt kriegte. Ich hielt 317

ihn eine Weile in der Faust, weil Wagenbach in meine Richtung schaute, und als ich dann draufguckte, um festzustellen, an wen ich ihn weitergeben musste, stand Maik auf dem Zettel. Ich konnte mich nicht erinnern, in den letzten Jahren mal einen Zettel gekriegt zu haben. Außer so Zetteln, die jeder kriegte. Wo dann Nicht hochgucken, da sind Fußspuren an der Decke! , oder so ein Fünftklässlerscheiß drinstand.

Ich wartete einen Moment, faltete den Zettel auseinander und las. Ich las ihn fünfmal hin-tereinander. Es war kein superkomplizierter Text, es waren sogar nur neun Worte, aber ich musste sie trotzdem fünfmal lesen, um sie zu verstehen. Da stand: Mein Gott, was ist denn mit dir passiert?!? Tatjana.

Besonders das letzte Wort blockierte irgendwas in meinem Gehirn. Ich sah mich nicht um.

Die Wahrscheinlichkeit, dass mich jemand verarschen wollte, war relativ groß. War früher mal sehr beliebt gewesen: Zettel mit fal-schem Absender, wo Ich liebe Dich oder irgendein Quark drinstand. Aber es war doch meistens leicht zu erkennen, wer der wahre 318

Absender war, weil der einen heimlich beobachtete.

Ich schaute in die Richtung, aus der der Zettel gekommen war und wo auch Tatjana saß.

Niemand beobachtete mich. Auch Tatjana nicht. Ich las den Zettel zum sechsten Mal. Er war in Tatjanas Handschrift geschrieben, die kannte ich ganz genau. Das A mit dem runden Bogen, der Schnörkel im G - ich hätte das eins zu eins nachmachen können. Aber wenn ich es konnte, konnte es wahrscheinlich auch jeder andere. Und mal angenommen - nur mal angenommen -, der Zettel kam wirklich von ihr. Mal angenommen, das Mädchen, das mich nicht zu ihrer Party eingeladen hatte, wollte wissen, was mit mir passiert war.

Allerhand. Was sollte ich darauf antworten?

Vorausgesetzt, ich antwortete? Weil, es war ja ziemlich viel passiert, und ich hätte Hunderte Seiten vollschreiben müssen, um das alles zu erklären. Obwohl ich genau das natürlich am liebsten getan hätte. Wie wir rumgefahren waren, wie wir uns mit dem Lada überschlagen hatten, wie Horst Fricke auf uns geschos-sen hatte. Die Sache mit der Mondlandschaft, die Sache mit den Schweinen und hunderttausend andere Sachen. Und wie ich mir immer 319

vorgestellt hatte, dass Tatjana uns dabei sehen könnte. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie's so genau auch wieder nicht wissen wollte.

Dass das Ganze vermutlich eher so eine Art Höflichkeitsanfrage war, und ich überlegte noch eine Weile, und dann raffte ich mich endlich auf und schrieb: Ach, nichts Besonderes auf den Zettel und schickte ihn zurück.

Ich guckte nicht hin, wie Tatjana ihn las, aber dreißig Sekunden später war der Zettel wieder da. Diesmal waren es nur sieben Worte - Jetzt sag schon! Es interessiert mich wirklich.

Es interessierte sie wirklich. Für die nächste Antwort brauchte ich eine halbe Ewigkeit.

Obwohl sie wieder nicht sehr ausführlich war.

Insgeheim wollte ich natürlich immer noch meinen Roman loswerden, aber auf so einem Zettel ist ja auch nicht viel Platz, und ich gab mir wahnsinnig Mühe. Es war schon fast am Ende der Stunde, als ich zum zweiten Mal Tatjanas Namen auf den Zettel schrieb und ihn zu Hans rübergab. Hans schob ihn mit dem Ellenbogen zu Jasmin. Jasmin ließ ihn eine Weile neben sich liegen, als würde er sie nichts angehen, und schnipste ihn dann zu Anja. Anja warf ihn über den Gang auf Olafs Tisch, und Olaf, der dumm war wie ein Hau-320

fen Wäsche, schmiss den Zettel über Andres Schulter nach vorn, als Wagenbach sich gerade umdrehte.

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